| # taz.de -- Selma Lagerlöfs Briefe: „Ich träumte immer, ich sei ein Mann“ | |
| > Sie kämpfte fürs Frauenwahlrecht und heiratete nie. Eine Auswahl von | |
| > Briefen an ihre engsten Freundinnen ist jetzt in Deutsch erschienen. | |
| Bild: In Schweden ist das Interesse an der Schriftstellerin Selma Lagerlöf sei… | |
| Man kennt sie hierzulande als Erfinderin der Abenteuer des Nils Holgersson | |
| mit den Wildgänsen. „Gösta Berling“ hat man vielleicht gelesen, ein paar | |
| SpezialistInnen möglicherweise sogar ihren „Jerusalem“-Roman. Da geht es | |
| der Schwedin Selma Lagerlöf, die 1909 als erste Frau den Nobelpreis für | |
| Literatur bekam, jedenfalls viel besser als den meisten anderen | |
| Preisträgern früherer Jahre, die komplett in Vergessenheit geraten sind. | |
| Das Interesse an Lagerlöf hat seit den 1990er Jahren an Auftrieb gewonnen | |
| (jedenfalls in Schweden), als ihre private Korrespondenz bekannt wurde. | |
| Selma Lagerlöf (geboren 1858) starb 1940 und hatte verfügt, dass ihre | |
| Briefe frühestens 50 Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht werden dürften. | |
| Jetzt ist eine Auswahl von Texten in deutscher Übersetzung erschienen, die | |
| wohl zum Privatesten zählen, das der Vielschreibenden jemals aus der Feder | |
| geflossen ist: Briefe an ihre beiden engsten Freundinnen Sophie Elkan und | |
| Valborg Olander. Insgesamt waren es mehrere tausend Stück, denn wenn auch | |
| irgendwann im Laufe dieser langjährigen Freundschaften ein Telefon Einzug | |
| ins Haus der Autorin hielt, so eignete es sich doch wenig dazu, wirklich | |
| persönliche Dinge zu besprechen, da es an allzu zentraler Stelle im | |
| Haushalt platziert war; ein Umstand, der des Öfteren Erwähnung in der | |
| Korrespondenz findet und nicht selten Anlass für einen Brief ist – denn | |
| mitunter verliefen die Telefonate unbefriedigend, eben weil man sich | |
| gezwungen sah, sich auf unverfängliche Themen zu beschränken. | |
| ## Dreiecksbeziehung | |
| Inwieweit die sehr engen Beziehungen Lagerlöfs zu ihren Freundinnen sehr | |
| verfänglich hätten sein können, geht zumindest aus ihrer Korrespondenz | |
| nicht klar hervor. Deutlich wird aber, dass die Autorin sowohl zu der | |
| Schriftstellerkollegin Sophie Elkan, die sie 1894 kennenlernte, als auch zu | |
| der Lehrerin Valborg Olander, die ein paar Jahre später in ihr Leben trat, | |
| Beziehungen unterhielt, die weit über übliches Freundschaftsmaß | |
| hinausgingen. | |
| Selma Lagerlöf, die um klare Worte grundsätzlich nicht verlegen war, hätte | |
| sich als lesbisch bezeichnet, wenn das damals schon üblich beziehungsweise | |
| möglich gewesen wäre. Über ihre Kindheit schreibt sie an Valborg einmal: | |
| „Ich träumte immer, ich sei ein Mann und würde schöne Frauen wie Fräulein | |
| Tyrelius lieben, die meine erste Liebe war.“ | |
| In den frühen Briefen nennt sie Sophie „Geliebte“, doch ein paar Jahre | |
| später geht dieser Titel an Valborg über. Sophie ist nun nur noch | |
| „Liebste“. Diese hatte zwar von Beginn an klargestellt, dass ein | |
| körperliches Ausagieren ihrer Beziehung keinesfalls in Betracht käme, | |
| reagiert auf ihre Rivalin aber mit teilweise hysterischer Eifersucht. Bei | |
| einem zufälligen Aufeinandertreffen der drei Frauen in der Eisenbahn kommt | |
| es zu einem unschönen Auftritt, und Selma muss anschließend brieflich ihr | |
| Bestes tun, um Valborg zu beschwichtigen. Aber auch Valborg ist keineswegs | |
| frei von Eifersucht, vor allem, da Selma und Sophie über die Jahre immer | |
| wieder monatelange gemeinsame Reisen durch Europa – einmal auch durch den | |
| Nahen Osten – unternehmen. Valborg dagegen ist die Bodenständige, die zu | |
| Hause bleibt, ihrem Lehrerinnenberuf nachgeht und sich nebenbei um | |
| Lagerlöfs Fanpost kümmert. | |
| Eine wirklich vollständige Abbildung des spannungsvollen | |
| Dreiecksverhältnisses kann und will dieser Band allerdings nicht leisten. | |
| Briefe von Valborg und Sophie sind darin nicht dokumentiert, sodass man | |
| alles, was über ihre jeweiligen Lebensumstände und charakterlichen | |
| Eigenarten zu wissen ist, aus den Anmerkungen des Herausgebers Holger | |
| Wolandt oder eben den Briefen Selma Lagerlöfs erfährt. | |
| Es geht Wolandt darum, ein Stück unbekanntes Privatleben der | |
| Nobelpreisträgerin zu zeigen, und es ist tatsächlich faszinierend, wie sie | |
| in ihren Briefen stets bemüht ist, nach beiden Seiten gut Wetter zu machen, | |
| um beide Freundinnen zu halten. Dass das überhaupt so viele Jahre lang | |
| möglich war – bis Sophie Elkan 1921 starb –, wurde sicher durch den Umstand | |
| erleichtert, dass nie alle drei gleichzeitig an einem Ort lebten. | |
| ## Mit der Arbeit verheiratet | |
| Dass die umschwärmte Selma, bei aller Liebe, vor allem mit ihrer Arbeit | |
| verheiratet war und in der räumlichen Entfernung von den geliebten | |
| Freundinnen durchaus auch gewisse Vorteile sah, wird deutlich, als sie | |
| einmal vor einem geplanten Besuch an Valborg schreibt: „Du weißt, dass ich, | |
| wenn ich zu fröhlich bin, einfach nur plaudern oder auf andere Art meine | |
| Arbeit vernachlässigen will. Dann musst du abreisen.“ | |
| In Anbetracht der damals viel komplizierteren Alltagsumstände fällt | |
| übrigens auf, wie mobil diese Angehörigen des gehobenen Bürgertums waren. | |
| Nicht nur Umzüge von einer Stadt in eine andere schienen gang und gäbe zu | |
| sein. (Sowohl Selma Lagerlöf als auch Sophie Elkan zogen mehrmals um; und | |
| Valborg Olander, die aus vermögender Familie mit eigenem Landgut stammte, | |
| hatte als in der Stadt berufstätige Frau ohnehin mehrere Wohnsitze.) Aus | |
| heutiger Sicht ist auch das Reiseverhalten der höheren Schichten um die | |
| vorletzte Jahrhundertwende herum geradezu unvorstellbar luxuriös. Aber da | |
| die Wege mit Kutsche und Eisenbahn eben deutlich länger dauerten, hätte es | |
| gar nicht gelohnt, sich für weniger als mehrere Monate auf Reisen zu | |
| begeben. | |
| Wer vor allem an literarischem Hintergrundwissen interessiert ist, wird | |
| diese Auswahl von Briefen vielleicht ein ganz klein wenig unbefriedigend | |
| finden. | |
| Es ist anzunehmen, dass Lagerlöf sowohl mit ihrer Autorenkollegin Sophie | |
| als auch mit Valborg, der sie an einer Stelle schreibt: „Du wirst noch eine | |
| richtige Schriftstellergattin“, durchaus literarische Fragen brieflich | |
| erörterte. Die notgedrungen kleine Auswahl von Briefen, die dieser Band | |
| versammelt, fokussiert aber explizit auf die Beziehungsaspekte der | |
| Korrespondenz. | |
| ## Recherche für Holgersson | |
| Am Anmerkungsapparat gibt es dabei nichts zu mäkeln. Jedem einzelnen Brief | |
| sind kontextuelle Erläuterungen des Herausgebers beigefügt, die die Lektüre | |
| ungemein erleichtern und erhellen – und Informationen zu Lagerlöfs Leben | |
| und Werken gleichsam als Off-Text beisteuern. Das alles ist hervorragend | |
| gemacht und auch für Lagerlöf-Neulinge jederzeit nachvollziehbar. | |
| Das Entstehen und Erscheinen der wichtigsten Werke wird, falls in den | |
| gedruckten Briefen nicht explizit erwähnt, im Kommentartext knapp erläutert | |
| und zum Beispiel auch in Beziehung gesetzt zu Reisen, die Lagerlöf | |
| unternahm. | |
| Der große „Jerusalem“-Roman etwa war die Frucht ihrer Nahostreise. Die | |
| Arbeit an „Nils Holgersson“ wiederum, der als Auftragsarbeit für die | |
| schwedische Schulbehörde entstand, führte die Autorin auf Recherchereisen | |
| in die entlegensten Regionen Schwedens, unter anderem den hohen Norden, der | |
| damals noch recht wenig erschlossen war und den Menschen in den Städten des | |
| schwedischen Südens als überaus exotisch erschien. | |
| Überhaupt erwähnt Lagerlöf offenbar recht oft den hohen Rechercheaufwand, | |
| den das Nils-Holgersson-Projekt ihr auferlegte. „Ich beschäftige mich | |
| momentan mit einem Kapitel über Elche, das mir bereits ungemein viel Arbeit | |
| verursacht hat“, klagt sie in einem Brief von 1907 an Sophie Elkan, erklärt | |
| aber gleichzeitig selbstkritisch: „Wie so oft, wenn ich nicht schreiben | |
| kann, merke ich, dass meine Schreibhemmung auf mangelhaftem Fachwissen | |
| beruht.“ | |
| Immer wieder finden sich zwischen all dem Beziehungskram in diesen Briefen | |
| solche kleinen Sentenzen voll pragmatischer Lebensweisheit, die man gut und | |
| gerne ausschneiden und sich an den Computerbildschirm kleben könnte. | |
| 16 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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