# taz.de -- Neuer Roman von Monika Helfer: Liebe und Angst | |
> Mit „Löwenherz“ komplettiert Monika Helfer ihre Familiensaga. Es ist eine | |
> Liebeserklärung an den Bruder und eine ungewöhnliche Vatergeschichte. | |
Bild: Vater-Tochter-Szene aus den 1970er Jahren | |
Man könnte sich wahrlich daran gewöhnen. Seit drei Jahren macht uns die | |
österreichische Autorin Monika Helfer jeden Januar ein Neujahrsgeschenk: | |
einen neuen Roman über ihre Familie. Nach der [1][märchenhaften „Bagage“ | |
ihrer Großmutter] und der [2][bewegten Geschichte ihres „Vatis“] ist nun | |
der Bruder Richard an der Reihe, den der Vater manchmal „Löwenherz“ nannte. | |
Und nachdem bereits die beiden Vorgänger von Publikum und Kritik zu Recht | |
gefeiert wurden, hat Monika Helfer sich jetzt noch einmal übertroffen. Mit | |
einem diesmal noch etwas stärkeren Fokus auf die Hauptfigur und das kleine, | |
große Drama ihres Lebens ist „Löwenherz“ – so schwer dies zu erreichen … | |
– das wohl ergreifendste Exemplar der bisherigen Helfer-Trilogie. | |
Schon der Anfang hat, nach den durchaus komplizierteren | |
Erzählkonstruktionen der ersten Romane, eine geradezu klassische | |
Einfachheit und Fabulierlust. „So war mein Bruder Richard: Er dachte beim | |
Gehen ans Liegen, beim Sitzen ans Liegen, beim Stehen ans Liegen, sogar | |
beim Fliegen dachte er ans Liegen. Dachte immer ans Liegen. Er schlenderte | |
vor sich hin auf seinen verqueren Beinen, wohin sie ihn eben führten, vor | |
sich hin, der Kopf nämlich den Beinen voraus, der wurde ja nicht von der | |
rauen Erde gebremst. […] Mein Bruder hatte den ganzen Tag über den ganzen | |
Himmel in den Augen.“ | |
## Ein Lebenskünstler, der an nichts hängt | |
Richard ist, um einen etwas abgedroschenen Ausdruck zu verwenden, eine Art | |
Lebenskünstler. Aber ein solcher, dem letztlich „das Leben so wenig wichtig | |
war“ wie nur irgendwas. Der an nichts und niemandem hängt – außer an sein… | |
zugelaufenen Hund. Und den es dann aber mit Mitte zwanzig auch nicht | |
wirklich schreckt, von einem Tag auf den anderen mit einem fremden | |
Kleinkind alleingelassen zu werden, weil dessen 20-jährige Mutter Kitti, | |
die er zuvor „nicht öfter als drei-, viermal gesehen“ hatte, mal eben ein | |
paar Wochen damit beschäftigt ist, ihr zweites vaterloses Kind auf die Welt | |
zu bringen. | |
Zuvor freilich hatte Kitti Richard „das Leben gerettet“, als der in jener | |
halb biblisch, halb bizarr-komisch anmutenden Eröffnungsszene samt Hund in | |
einer ausrangierten Badewanne bei Bregenz über den Bodensee blubbert – sich | |
nur leider beim Kentern als Nichtschwimmer erweist. Doch die hochschwangere | |
Kitti holt ihn aus dem Wasser und ernennt ihn als Dank zum Vater ihrer zwei | |
Kinder. | |
Er, der sich weder für Sex („zu wenig Überraschung“) noch für Frauen | |
sonderlich interessiert (letztere allerdings durchaus für ihn), nimmt es | |
hin, in seinem Gesicht „ein unübertrefflich erwachsener Ausdruck, wie ihn | |
nur jemand zusammenbringt, der nicht erwachsen ist“. Und als Kitti ein paar | |
Wochen später in den Kreißsaal muss, steht tatsächlich vor Richards Tür die | |
kleine „Putzi“, von der er nichts als diesen Spitznamen kennt. Sie nennt | |
ihn da schon längst nur noch „Papa“. | |
Was folgt, darf wohl eine der berührend-besondersten Vater-Kind-Geschichten | |
der Literatur genannt werden. Putzis „schwarzes Wollknäuelköpfchen“ lässt | |
etwa an die Mignon von Goethes Roman „Wilhelm Meister“ denken, diesen | |
großen Lebens(kunst)dilettanten der Literaturgeschichte. | |
Richard spielt mit der Kleinen um Geld Karten, malt und musiziert mit ihr, | |
nimmt sie mit in die Druckerei, wo er als Schriftsetzer arbeitet, oder | |
lässt sie tagsüber bei seiner großen Schwester Monika. Er bringt ihr viel | |
zu früh rechnen und schreiben bei, spricht mit ihr „wie mit einer | |
Erwachsenen, als wäre sie eine wie er, aber er war ja auch nicht | |
erwachsen“. Sie liebt ihn bald mehr als ihre eigene Mutter. | |
Doch als diese nach ein paar Wochen wieder auftaucht und Richard | |
anherrscht, er solle das Kind „rausrücken“, bevor sie es weinend mit sich | |
fortzerrt – da bekommt man eine böse Ahnung, wie es mit Richard ausgehen | |
könnte, von dem wir schon auf der ersten Seite erfahren, dass er sich mit | |
dreißig das Leben nehmen wird. | |
## Unverhofftes Glück | |
Aber bis dahin sind es noch ein paar Jahre, von denen er die meisten dann | |
doch wieder mit Putzi verbringen wird und später auch mit seiner gutmütigen | |
Frau Tanja. Ein unverhofftes Glück, bei dem freilich „Liebe und Angst“ (um | |
den ganz und gar unklaren Rechtsstatus des Kindes) stets zusammengehören. | |
Bis Tanja schließlich einen – vielleicht unvermeidlichen – Fehler begeht. | |
Monika Helfer erzählt diese Geschichte mit ihrer unnachahmlichen Mischung | |
aus Herzlichkeit und Lakonie, die übrigens auch diesmal am allerbesten in | |
ihrer eigenen Lesung zur Geltung kommt, die parallel zur Printausgabe als | |
Hörbuch produziert wurde. Sie erzählt auch wieder auf mehreren Zeitebenen, | |
reflektiert zugleich ihre eigene Schreibsituation im Zwiegespräch mit ihrem | |
zweiten Mann, dem Autor Michael Köhlmeier, der zur Zeit des Erzählten – | |
Mitte der 70er Jahre – noch ihr Liebhaber war und der Richard sogar besser | |
gekannt habe als sie. | |
Und Helfer blickt auch noch einmal zurück auf die Vorgeschichte, die sie in | |
„Vati“ erzählt hat, als sie nach dem frühen Tod der Mutter mit ihren zwei | |
Schwestern bei der einen, Richard allein bei der anderen Tante aufwuchs, | |
während der Vater allein in seiner „Klosterzelle“ vor sich hin trauerte. | |
In „Löwenherz“ lichtet sich diese lange, schwere, verschlungene | |
Familiengeschichte voller kleiner und großer Tragödien und einiger | |
Glücksmomente. Sie leuchtet einmal kurz auf etwas, was stellenweise wie | |
eine perfekte – wenn auch melancholische – Komödie wirken könnte, am Ende | |
aber von der größtmöglichen Tragödie überschattet wird. | |
Ja, auch die Literatur kennt das Klischee der „bösen“ Rabenmutter, aber | |
meist eben nur als Klischee. In diesem Buch jedoch wird sie überstrahlt von | |
der unwahrscheinlichsten, herzergreifendsten Vaterfigur, die man sich | |
vorstellen kann. Sie sollte uns gerade heute ganz und gar gegenwärtig sein. | |
Monika Helfers „Löwenherz“ ist somit auch ein aktuelles Buch. Vor allem | |
aber ist es eines der schönsten, heitersten und traurigsten Bücher, die | |
(nicht nur) in diesem Jahr zu lesen sein werden. | |
19 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Tom Wohlfarth | |
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