# taz.de -- Lebensgeschichte aus der Provinz: Auf dem Buchrücken | |
> Wie wenig man manchmal für das eigene Leben kann: Monika Helfers | |
> anrührende, autobiografische Spurensuche nach ihrem „Vati“. | |
Bild: „Vati“ setzt im gleichnamigen Roman für ein paar Bücher die Existen… | |
So einen unverstellten und dennoch vorwurfsfreien Blick auf die eigenen | |
Eltern bekommt vermutlich erst, wer selbst genügend Fehler gemacht und | |
Katastrophen erlebt, also erfahren hat, wie wenig einer manchmal für das | |
eigene Leben kann. | |
Im vorangegangenen, viel gelobten autobiografischen Roman [1][„Die Bagage“] | |
hat Monika Helfer sich der von bitterer Armut und Ausgrenzung geprägten | |
Lebensgeschichte ihrer Großeltern angenommen, der mütterlichen Seite. | |
„Vati“ ist das komplementäre Buch. Die unheimliche Dorfnoir-Stimmung wird | |
hier noch einmal aufgerufen, wie bei einem Märchen aus uralter Zeit. | |
Ihr Vater Josef ist ein Außenseiter, klein, blass, als illegitimer Sohn des | |
Bauern und seiner Magd geschmäht, aber sehr begabt. Er bringt sich selbst | |
Lesen und Schreiben bei, gewinnt den Respekt der anderen Kinder durch seine | |
Besonnenheit und intellektuelle Überlegenheit und darf mit Unterstützung | |
des Dorfpfaffen das Gymnasium besuchen. Noch vor der Matura allerdings muss | |
er in den Krieg ziehen. | |
„In ein sehr kaltes Land ging es. Irgendwann sind die jungen Soldaten bei | |
minus dreißig Grad über ein Feld gelaufen, und der Wind hat ihnen ins | |
Gesicht geblasen, dass es sich angefühlt hat wie minus vierzig Grad oder | |
noch kälter, und dann sind sie in einen Wald gekommen, da waren nur noch | |
minus fünfzehn Grad, und Wind hat hier keiner geblasen, das hat sich | |
angefühlt wie eine warme Stube, und die jungen Soldaten haben sich | |
hingelegt, haben die Köpfe auf die Wurzeln der Bäume gebettet, die Hände | |
unter der linken oder der rechten Wange gefaltet, weil sie so müde waren | |
und so viel Sehnsucht nach ihrem Bett zu Hause hatten, und sie sind | |
eingeschlafen, und viele von ihnen sind erfroren, manchen sind nur Hände | |
und Arme abgefroren. Unserem Vater das rechte Bein.“ | |
## Glückliche Kindheitsjahre | |
Seine Krankenschwester Grete nimmt ihn zum Mann, tatsächlich hält sie um | |
seine Hand an, und bald darauf beginnt ihre Zeit im „Paradies“. Josef wird | |
Verwalter eines Kriegsopfererholungsheims „auf der Tschengla“, einem | |
malerischen Hochplateau im Vorarlberg. Hier verbringt die Autorin die | |
glücklichsten Jahre ihrer Kindheit. Es ist eine Idylle mit Büchern. Sie | |
sind Josefs große Leidenschaft, und er steckt seine Tochter an. Schon früh | |
wünscht sie sich, dass einmal ihr Name auf einem Buchrücken steht. | |
Aber auch auf diesen locus amoenus legen sich Schatten. Weil er sich | |
sukzessive die erlesene Bibliothek des Erholungsheims unter den Nagel | |
gerissen hat und sein Diebstahl aufzufliegen droht, unternimmt der Vater | |
einen Selbstmordversuch. Bald darauf erkrankt seine Frau an Krebs und | |
stirbt. Josef fällt in eine tiefe Depression, aber „die Bagage lässt die | |
Ihren nicht im Stich“. Die Tanten nehmen die Kinder auf, ein Onkel sorgt | |
schließlich dafür, dass Josef eine neue Frau kennenlernt. | |
Es gäbe ein ganze Menge, was Vater und Tochter nach alldem zu bereden | |
hätten, aber selbst so ein belesener und eloquenter Mann wie er findet nie | |
die richtigen Worte dafür. In dem intimsten Augenblick der beiden schaut er | |
auf sein Leben zurück und bekennt, „dass er, wenn er wählen könnte, ein | |
nächstes Mal sich ein anderes aussuchen würde“ und dass sie deshalb nicht | |
gekränkt sein möge, weil das dann ja ein Leben ohne sie wäre. | |
## Eine letzte Nähe | |
Es gäbe auch einiges, was die Tochter ihm vorwerfen könnte. Aber sie kommt | |
wunderbarerweise völlig ohne Verurteilung aus. Monika Helfer ist keine | |
Heilige, sie erzählt von der „Wutkrankheit“, als ihr „alles an ihm | |
missfiel“, aber sie ist längst davon geheilt. Und so wird aus diesem Buch | |
der liebende, allerehrenwerte Versuch, ihren Vater zu verstehen oder ihm | |
zumindest noch ein letztes Mal möglichst nahezukommen. Denn am Ende muss | |
sie ihrer resignierenden Schwester recht geben. „In Wirklichkeit wissen wir | |
gar nichts über ihn.“ | |
Auch im übertragenen Sinn ist dieses Buch ein letzter anrührender | |
Liebesdienst. Dieser große Bibliomane, der für ein paar Bücher die Existenz | |
der Familie aufs Spiel gesetzt hat, wird hier postum selbst zum Gegenstand | |
eines Buchs. Und nicht nur seine Tochter, auch er steht auf dem Buchrücken. | |
Wie eine weise, freundliche Matriarchin im Kreis der Lieben lässt Monika | |
Helfer diese Vergangenheiten in der Vorarlberger Provinz wiederauferstehen. | |
Sie erzählt in assoziativen Schleifen, nimmt diverse narrative Umwege, | |
schreibt sich selbst als Autorin und ihre Recherchebemühungen mit hinein | |
und springt souverän zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen. | |
Ihr unaufgeregtes, unprätentiöses, von Austriazismen geerdetes | |
Plauderparlando ist ein absolut adäquates Medium für diese wechselvolle | |
Lebensgeschichte, weil es einen schönen Fluss erzeugt und weil ihre | |
Herkunft so auch einen sichtbaren Abdruck in der literarischen Form | |
hinterlässt. | |
19 Mar 2021 | |
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[1] /Monika-Helfers-Roman-Die-Bagage/!5666707 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
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