| # taz.de -- Neuauflage der Kopenhagen-Trilogie: Wie ein herrenloser struppiger … | |
| > Tove Ditlevsen wehrte sich stets gegen die Festschreibungen durch ihre | |
| > Herkunft. Nun sind ihre schonungslosen Erinnerungen wiederentdeckt | |
| > worden. | |
| Bild: Eine Frau, die dichtet? Das sei Sache der Männer, wurde ihr gesagt. Tove… | |
| Tove Ditlevsen ist erst Mitte zwanzig, aber sie ist als | |
| [1][Schriftstellerin in Dänemark] schon berühmt. So berühmt, dass der Arzt, | |
| den sie wegen einer Abtreibung aufsucht, sie erkennt. Er hat ihren Roman | |
| gelesen, sagt er ihr, und findet ihn gut. Nur macht er, den sie nach einer | |
| längeren Odyssee endlich gefunden hat, jetzt keine Abtreibungen mehr. Es | |
| sind schwierige Zeiten, entschuldigt er sich. | |
| Dänemark ist von den Nazis besetzt. Er verweist sie an einen anderen Arzt, | |
| der in einer privaten Wohnung ganz klandestin mit einer langen Nadel in | |
| ihre Fruchtblase sticht. Wenn sie dann blutet, wenn Fieber kommt, dann kann | |
| sie ins Krankenhaus gehen, wo alle Bescheid wissen und alle so tun, als | |
| handle es sich um natürliche Schwangerschaftskomplikationen. So geschieht | |
| es. | |
| Ditlevsen erzählt davon im dritten Band ihrer Erinnerungen, „Abhängigkeit�… | |
| „Kindheit“ heißt, schlicht, der erste, „Jugend“, ebenso schlicht, der | |
| zweite, beide ursprünglich 1967 erschienen. Zusammen ergeben sie das | |
| Selbstporträt der Künstlerin als junge Frau. Wozu gehört, dass man ihr früh | |
| mitteilt, dass es das gar nicht geben kann: Eine dichtende Frau – denn | |
| Dichten ist eine Sache für Männer. | |
| ## Sie entdeckt Victor Hugo | |
| Ihr Vater sagt das, Arbeiter, Heizer, der mal einen Job hat, dann wieder | |
| nicht. Der Wohnraum, das Geld, jeder Spielraum, auch für die Fantasie: | |
| Alles ist knapp. Dabei hat der Vater, anders als die Mutter, einen Sinn für | |
| Literatur, liest viel, hat eine sozialistische Zeitung abonniert, lobt die | |
| Tochter, als sie in der Leihbücherei Victor Hugo entdeckt, nur selber | |
| Dichterin sein, das kann sie nicht. | |
| Die Mutter ist keine Hilfe, eine harte Frau, die der Tochter keine Wärme, | |
| keine Bestätigung gibt. Sie soll einen Mann finden mit verlässlichem Job, | |
| dann das Leben als Mutter und Hausfrau führen, das die Mutter auch führt. | |
| Die Familie, die Herkunft, der Blick der Gesellschaft auf die Frau: Das ist | |
| für Tove Ditlevsen ein einziger Entfaltungsverhinderungszusammenhang. Die | |
| Kindheit, so formuliert sie es: ein Sarg, dem man nicht aus eigenen Kräften | |
| entkommt. | |
| ## Gedichte als Ausweg | |
| Sie schreibt Gedichte, sie ist felsenfest überzeugt, dass darin ein Ausweg | |
| liegt, ein Ausgang heraus aus dieser Welt ihrer Herkunft, der kleinen | |
| Wohnung ohne eigenes Zimmer, mit dem Bruder, der ihre Gedichte liest und | |
| staunt und sich nur wundern kann, was sie da schreibt, denn das hat sie ja | |
| gar nicht erlebt, das ist für ihn alles Lüge. | |
| Das sind die Festschreibungen, gegen die Tove Ditlevsen anschreibt: Die | |
| Rolle als Frau ist festgeschrieben, die Rolle als Tochter ist es, die Rolle | |
| der Mutter, des Vaters als Arbeiter, festgeschrieben ist auch, dass es für | |
| jeden Versuch, dem allen etwas entgegenzusetzen, ihm zu entkommen, nur | |
| Tadel, Kopfschütteln, Zurechtweisung gibt. | |
| Ein Zimmer für sich ist das, was sie braucht, schreibt Tove Ditlevsen, wie | |
| es schon Virginia Woolf schrieb. Und sie ist beharrlich, sie bekommt das | |
| Zimmer, erst zu Hause, dann zur Miete. Sie stellt eine Schreibmaschine | |
| hinein, sie legt Tücher darunter, wegen des Lärms, sie tippt in der Nacht, | |
| wenn die Vermieterin schläft. | |
| ## Ambivalente Erinnerungen | |
| Daneben arbeitet sie, Hilfsdienste, hier, da, eine rasche Abfolge von Jobs, | |
| ein Chef, der sie belästigt, was für sie eine ambivalente Sache ist, denn | |
| wenn sie ehrlich ist, und furchterregend ehrlich ist sie in diesen | |
| Erinnerungen, muss sie zugeben: Es ist das auch etwas, das ihr gefehlt hat, | |
| dass sie einer begehrt. | |
| Sie geht viel aus, sie hat eine Freundin, Nina, sie haben sich in einer | |
| Amateurschauspielgruppe kennengelernt. Nina ist blond, attraktiv, mit ihr | |
| wollen die Männer tanzen, mit Tove nicht, der man, die Familie, immer | |
| eingeredet hat, dass sie nicht begehrenswert sei. Ihre Selbstwahrnehmung, | |
| so schreibt sie in „Jugend“: „An einen herrenlosen Hund erinnere ich, | |
| struppig, verwirrt und allein.“ | |
| Mit vierzehn ist sie zum Redakteur einer kleinen Zeitschrift gegangen. Er | |
| hat ihre Gedichte gelesen, einige, die erotischen, findet er gut, aber | |
| drucken will er sie nicht, sie solle ihn ein paar Jahren wiederkommen. Bald | |
| darauf stirbt der Redakteur. Ditlevsen lernt einen älteren Mann kennen, der | |
| ihre Gedichte schätzt, der ihre Liebe zur Literatur teilt, aber eines Tages | |
| ist das Haus abgerissen, der Mann ist für immer verschwunden. | |
| Männer sind die obligatorischen Passagepunkte auf dem Weg in die Literatur, | |
| keine bösartigen Männer, nur privilegienblind medioker, Männer, die sich | |
| genommen haben, was ihnen die Welt freiwillig gab. Dann der Hinweis auf | |
| Viggo F. Møller, Herausgeber einer kleinen, aber angesehenen | |
| Literaturzeitschrift namens Wilder Weizen. | |
| ## „Dich niemals sehen und berühren“ | |
| Sie zeigt ihre Gedichte, eines davon findet er gut, will es drucken, es | |
| geht darin um ein totgeborenes Kind: „Nie durfte ich deine Stimme hören, / | |
| Dich niemals sehen und berühren. / Doch das Strampeln winzigkleiner Füße / | |
| Werd’ ich für immer in mir spüren.“ | |
| Das Gedicht erscheint, wird in anderen Zeitschriften gelobt, auf einen | |
| Schlag ist sie wer im kleinen dänischen Literaturbetrieb. So erzählt sie | |
| es. In Wahrheit ist kurz zuvor schon ein anderes Gedicht von ihr in der | |
| Zeitschrift erschienen. | |
| Tove Ditlevsens Erinnerungen sind stets ungeheuer präzise. Satz für Satz | |
| knapp, scharf, kein Wort zu viel, vollkommen unsentimental im Blick auf die | |
| Mitwelt und vor allem auch im Blick auf sich selbst. Was nicht heißen muss, | |
| dass alles genau so war, wie sie es mehr als zwanzig Jahre später | |
| beschreibt. Man muss darum noch nicht Autofiktion dazu sagen. Die | |
| Erinnerung schreibt auch ohne Zutun der Erinnernden die Wirklichkeit um. | |
| ## Zutritt in eine fremde Welt | |
| Durch den Erfolg erhält sie Zutritt zu einer ihr bis dahin fremden Welt. | |
| Man reicht sie herum, sie stellt fest, es gibt bereits eine erfolgreiche | |
| Lyrikerin, aber sie stellt auch fest, dass diese nicht daran denkt, | |
| solidarisch zu sein. Es folgt der erste Roman, aus der Bekanntheit wird | |
| Ruhm. Tove Ditlevsen könnte frei sein, sie ist es nicht. Sie entkommt dem | |
| Sarg ihrer Herkunft, aber es zeigt sich, dass die Unfreiheit nicht nur ihre | |
| Kindheit zerstört, sondern noch ihren unbändigen Freiheitsgeist dauerhaft | |
| deformiert hat. | |
| „Gift“ lautet der Originaltitel des dritten Bands der Trilogie, im | |
| Dänischen ein doppeldeutiges Wort: Es bedeutet, als Substantiv, Gift. Als | |
| Adjektiv aber: verheiratet. „Abhängigkeit“, der deutsche Titel, trifft es | |
| darum nicht schlecht. Zum einen die Männer: Ditlevsen heiratet Viggo F. | |
| Møller, fast dreißig Jahre älter als sie, nicht weil sie ihn sonderlich | |
| attraktiv oder charismatisch findet. Es ist noch der flehende Blick der | |
| jungen, der Beengung fliehenden Frau, der ihn, oder die Ehe mit ihm, | |
| begehrenswert macht. Aus Bewunderung für den Mann wird bald Desinteresse. | |
| Weitere folgen, jüngere, erst eine Affäre mit einem, für den sie nur eine | |
| unter vielen anderen ist, dann Ebbe, mit dem sie eine Tochter hat, mit dem | |
| sie aber kein zweites Kind will, darum die Abtreibung. Auf das Drama des | |
| begabten Kindes folgt das Drama der Frau, mit deren Erfolgen der Mann nicht | |
| klarkommt. Und dann folgt der fatale Carl, Medizinstudent, als solcher hat | |
| er Zugang zum Opioid Demerol, von dem Ditlevsen abhängig wird. | |
| ## Von Demerol zu Methadon | |
| Die erste Spritze: eine Glückserfahrung sondergleichen. Der Schleier, der | |
| sonst, wie sie schreibt, zwischen ihr und der Wirklichkeit liegt, ist | |
| verschwunden. Weil sie unter Demeroleinfluss nicht schreiben kann, | |
| wechselt sie später zu Methadon, macht eine Entziehungskur, wird wieder | |
| süchtig. Fünf Jahre nach Erscheinen von „Abhängigkeit“ nimmt sie sich mit | |
| Schlaftabletten das Leben. | |
| Sie dreht sich, so beschreibt sie es, nach jeder Spritze zur Seite. Eine | |
| Abwendung von der Welt, sie gleicht der ihres Vaters, der oft zu Hause auf | |
| der Couch lag, mit dem Rücken zu Frau und Kindern. Anders als für den Vater | |
| bleibt für Tove Ditlevsen eine Gegenbewegung, eine Zuwendung zur | |
| Wirklichkeit möglich, im Schreiben. | |
| ## Wahre Lügen | |
| Hier erlaubt sie sich keinen Eskapismus, hier blickt sie in einer Vielzahl | |
| von Gedichten, Kurzgeschichten, Romanen und auch in diesen Erinnerungen wie | |
| mit abgeschnittenen Lidern auf sich und die Welt. Hier sind auch Lügen | |
| möglich, solange sie wahr sind. | |
| Es ist kein Zufall, dass Ditlevsen gerade nicht nur in Deutschland, sondern | |
| auch in der englischsprachigen Welt wieder entdeckt wird. Man hat ihre | |
| sezierende Prosa mit der Annie Ernauxs verglichen, auch sie in Deutschland | |
| sehr verspätet entdeckt. | |
| Der Vergleich ist berechtigt, so singulär beide Autorinnen zugleich auch | |
| sind. Was sie verbindet, ist ihre Fähigkeit, einer widrigen Wirklichkeit | |
| standzuhalten. Im Leben, und wenn nicht im Leben, dann in der Literatur. | |
| 20 Feb 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Absage-der-Leipziger-Buchmesse/!5748095 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Roman | |
| Drogen | |
| Emanzipation | |
| Kindheit | |
| Jugend | |
| Abhängigkeit | |
| Dänemark | |
| Theater | |
| Literatur | |
| Journalistenpreis | |
| Spielfilm | |
| Literatur | |
| Literatur | |
| Klassiker | |
| Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Theaterstück „Die Abweichlerin“: Die Depression ist eine anstrengende Tante | |
| Im Stück „Die Abweichlerin“ nach Tove Ditlevsen am Hamburger Schauspielhaus | |
| verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn weich und mühelos. | |
| Neue Biografie über Tove Ditlevsen: Eine Diva voller Widersprüche | |
| Tove Ditlevsen führte ein herausforderndes Leben. Nun ist über die | |
| hierzulande spät entdeckte dänische Autorin eine lesenswerte Biografie | |
| erschienen. | |
| Dänischer Journalistenpreis: Dänemark bald ohne Victor | |
| „Årets Victor“ ist in Dänemark ein angesehener Medienpreis. Wegen Vorwür… | |
| gegen den Namensgeber wird es ihn künftig nicht mehr geben. | |
| Spielfilm „Malmkrog“ von Cristi Puiu: Gewalt und ein zivilisiertes Gespräch | |
| Ginge es mit rechten Dingen zu, wäre „Malmkrog“ ein todlangweiliger Film. | |
| Doch Cristi Puiu inszeniert ihn so spannend, dass man immer dabeibleibt. | |
| Lebensgeschichte aus der Provinz: Auf dem Buchrücken | |
| Wie wenig man manchmal für das eigene Leben kann: Monika Helfers | |
| anrührende, autobiografische Spurensuche nach ihrem „Vati“. | |
| Neuer Roman von Simone Meier: Leichtfüßig über doppelte Böden | |
| Liebeswirren, davon erzählt Simone Meier in ihrem Roman „Reiz“. Samt | |
| Peinlichkeiten und Frust. Und mit einem Bruch mit der Konvention. | |
| 100. Geburtstag von Patricia Highsmith: Mit Dämonen spielen | |
| Am 19. Januar wäre Patricia Highsmith 100 Jahre alt geworden. Sie war eine | |
| Autorin, die überzeugt war: Jeder Mensch könnte zum Mörder werden. | |
| Dorthe Nors „Die Sonne hat Gesellschaft“: Die Finger von Tante Clara | |
| In kurzen, verdichteten Stücken erzählt die dänische Autorin Dorthe Nors | |
| von ungeklärten Lebensfragen und lange nachwirkenden Ereignissen. |