# taz.de -- Neuer Roman von Simone Meier: Leichtfüßig über doppelte Böden | |
> Liebeswirren, davon erzählt Simone Meier in ihrem Roman „Reiz“. Samt | |
> Peinlichkeiten und Frust. Und mit einem Bruch mit der Konvention. | |
Bild: In Simone Meiers Roman „Reiz“ sind es die Männer, die an Liebe leiden | |
Manche Menschen neigen zu serieller Monogamie; Simone Meier neigt zum | |
seriellen Schreiben von Romanen, die feinsinnig Irrungen und Wirrungen in | |
Liebesdingen sezieren. Mit „Reiz“ hat sie nun den dritten Roman vorgelegt, | |
der um das Thema Herzenschaos kreist, ohne je sentimental zu werden. | |
„Reiz“ ist nun eine kleine Fortsetzung von [1][„Kuss“, insofern nämlic… | |
als die Journalistin Valerie], die wir aus „Kuss“ bereits kennen, in „Rei… | |
im Mittelpunkt steht. | |
Wieder geht es um amouröse Abenteuer. Nicht nur von Valerie, die ihre | |
Zuneigung und sexuelle Aufmerksamkeit zwischen dem alternden Schauspieler | |
F. und ihrem jungen, wohlhabenden Fuckbuddy Teo verteilt. Auch Luca, der im | |
Verlauf des Romans zu Valeries Praktikanten werden wird, ist getrieben von | |
der Liebe. | |
Valerie weiß ganz genau, was sie will: Hier ein Abenteuer mit Teo, der sie | |
an interessante Orte entführen kann, dort die vertraute Intimität mit F., | |
die vielleicht nicht mehr abenteuerlich ist, aber doch so etwas wie | |
„Geborgenheit“ spendet. Luca hingegen fühlt sich zu seltsam ätherisch | |
anmutenden, abwesenden Frauen hingezogen. Im Roman lernen wir ihn kennen, | |
als er eine E-Mail an seine Angebetete Malou schreibt. | |
## Peinlich ödipal | |
Die junge Umweltaktivistin – man imaginiert sie als Inkarnation [2][Luisa | |
Neubauers] – ist allerdings ganz der guten Sache verschrieben, und viel | |
mehr als einige Worte an einigen netten Abenden scheint sie nie mit Luca | |
gewechselt zu haben. Trotzdem ist Luca überzeugt davon, dass Malou die | |
Richtige ist. Und es fällt ihm nichts Besseres ein, als ihr in seiner | |
ersten Mail von der Liebesbeziehung seiner Mutter und ihrer Geliebten zu | |
erzählen. Um es mit den Worten Lucas Generation zu sagen: cringeworthy. | |
Peinlich ödipal wie der Auftakt der Mail geht es für Luca weiter; seine | |
Nachrichten müssen Malou gar nicht erreichen, denn Malou wird als die große | |
Andere angeschrieben. Das Thema der Mails ist Lucas vertracktes Verhältnis | |
zur peinlich-coolen Mutter. Die Pointe besteht nun darin, dass Luca im | |
Gegensatz zu seiner hippiesk abgedrehten Mutter sich nach nichts mehr sehnt | |
als nach konventionellen Beziehungen. Und vielleicht steht er damit | |
innerhalb seiner Generation gar nicht allein da. | |
## Die bekannte Trope der mittelalten Frau | |
Später im Roman zeigt die Autorin Meier Gnade mit Luca, indem sie ihm eine | |
junge Frau beiseite gesellt, die angenehm anders, aber eben wenigstens | |
nicht abwesend ist: Kia. Die wurde übrigens nach dem gleichnamigen | |
Fahrzeughersteller benannt. Das ist nur eines der Details, das Meiers | |
Vorliebe, ihren Charakteren lustvoll-sadistisch Peinlichkeiten anzudichten, | |
beweist. In diesen peinlichen Aspekten übrigens erinnern Meiers | |
Protagonisten an die Darsteller der Reality-TV-Formate, die sie als | |
Journalistin so scharfsinnig und scharfzüngig auf [3][watson.ch] | |
beobachtet. | |
Was ist nun der Kern dieses Romans? Auf inhaltlicher Ebene desavouiert er | |
die bekannte Trope der mittelalten Frau, die in Romanen vor allem als | |
verlassene und/oder frustrierte Ehefrau oder eben Mutter daherkommt. | |
Valerie hält sich keine Sekunde damit auf, ihren Beziehungsstatus oder ihre | |
Kinderlosigkeit zu diskutieren oder zu hinterfragen, sie ist völlig | |
abgeklärt. Meier zeigt das Liebesleiden als Sache der Männer, noch dazu der | |
jungen. Das ist für sich genommen ein hübscher Bruch mit Konventionen. | |
Eine Ebene darunter verbirgt sich ein Text übers Texteschreiben, in dem | |
Valerie als Journalistin auftaucht, die recht eigentümlich arbeitet: So | |
soll sie aus einer Agentur-Meldung über eine Auseinandersetzung zwischen | |
Jugendlichen, bei der die oben genannten Kia einem jungen Mann ein Stück | |
seiner Zunge abbiss, einen Text machen. Valerie erdichtet eine Geschichte | |
um sexuelle Selbstbestimmung und Grenzübertretungen, in der die eigene | |
Geschichte einer missbräuchlichen Affäre nachklingt. Valeries Text über die | |
imaginierte Kia markiert die Grenze zwischen Journalismus und | |
belletristischem Schreiben. | |
Wie die beiden Vorgängerromane ist „Reiz“ ein doppelbödiger Text, der | |
leichtfüßig daherkommt, dann aber überraschend düstere Themen anschneidet. | |
Meier beherrscht beide Tonlagen. | |
25 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Simone-Meiers-Roman-Kuss/!5571228 | |
[2] /Vom-Umgang-mit-globalen-Krisen/!5743893 | |
[3] https://www.watson.de/ | |
## AUTOREN | |
Marlen Hobrack | |
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