# taz.de -- Vom Umgang mit globalen Krisen: Fataler Jetztismus | |
> Als Reaktion auf die Coronapandemie schalten viele in einen | |
> Gegenwartsmodus. Doch im Kampf gegen den Klimawandel müssen wir die | |
> Zukunft verteidigen. | |
Bild: Klimaschutz bleibt vorrangige Aufgabe der Politik: Luisa Neubauer vorm Re… | |
In den ersten Monaten der Coronapandemie sprach man oft davon, dass wir | |
durch die Bewältigung dieser Krise lernen würden, wie Krisen insgesamt | |
ernst genommen und bewältigt werden können. Auch ich dachte das. Man | |
glaubte, dass wir – dadurch gestärkt – auch selbstbewusst die ökologischen | |
Katastrophen angehen würden. Mittlerweile denke ich, dass im schlimmsten | |
Fall das Gegenteil eintreten könnte. Aber von Anfang an. | |
Mühelos ist es der Gesellschaft gelungen, fast ein gesamtes Jahr Corona zu | |
behandeln, ohne ernsthaft über die direkte Gegenwart hinauszublicken. Wäre | |
es anders gewesen, hätte sich gezeigt, dass Corona zwar überraschend kam, | |
aber keinesfalls eine Überraschung war. „Die Auswirkungen wären kaum | |
abzuschätzen, gleichwohl katastrophal“, schrieben die Verfasser:innen | |
im [1][Grünbuch für Öffentliche Sicherheit] schon im Jahr 2015 über die | |
Gefahren von mutierten Sars-Viren in Deutschland. | |
Die Lehren aus dem 20. Jahrhundert schienen so eindeutig: Gefahr geht von | |
Männern in Kriegslaune aus, vom Faschismus, von dreckigen Industrien und | |
überheblichen Technologien. Und dann kommt das 21. Jahrhundert und | |
präsentiert ausgerechnet die Fledermaus, die von der menschlichen Gier zur | |
Wanderschaft gezwungen wird. Es sind Tiere wie sie, die [2][Zoonosen] wie | |
HIV, Ebola, Mers und vermutlich auch Covid-19 bei zu aggressiver Nähe auf | |
Menschen übertragen. | |
Politik ist in diesen Zeiten immer weniger das, was wahr ist, und wird | |
immer mehr zu dem, was sich gut anfühlt. Kurzatmige Erzählungen verfangen, | |
hohle Souveränität und Schnellschussreaktionen werden belohnt. Nirgendwo | |
wird das deutlicher als in der Coronapolitik. Denn Corona ist eben, | |
entgegen den gängigen politischen Narrativen, kein Einzelfall. Sondern | |
[3][viel eher ein Vorbote], von dem, was kommt, wenn Naturzerstörung und | |
hemmungsloses Emittieren pandemische Zeitalter und ökologische Katastrophen | |
provozieren. | |
## Die Menschen sind ja nicht blöd | |
Aus dieser Blindheit ergibt sich die politische Unfähigkeit, sich mit dem | |
zu beschäftigen, was jenseits der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz, | |
geschweige denn nach der nächsten Welle, passieren kann – oder muss. | |
Gleichzeitig aber wächst die gesellschaftliche Skepsis gegenüber | |
Quick-Fixes, die Menschen sind ja nicht blöd: Man erlebt ein erschöpfend | |
langsames Impfgeschehen, während das Virus zunehmend mutiert, das Raunen | |
über eine dritte Welle setzt ein. Und ganz zart lugt dahinter die Frage | |
auf, was genau uns davon abhalten sollte, in absehbarer Zeit wieder in eine | |
Pandemie hineinzurasseln. | |
Diese Stimmung trifft nun auf eine schon länger anwachsende | |
Gegenwartspräferenz. Denn schon deutlich vor Corona haben Teile der | |
Klimabewegung, Medien und Politik angefangen, die Zukunft mit einer relativ | |
unausweichlichen Katastrophe gleichzusetzen. | |
Das schien einst eine hilfreiche Strategie zu sein: Wenn die Menschen die | |
Krise nicht sehen wollen, bringt man sie zu ihnen. Heute hat sich die | |
Situation jedoch radikal geändert, niemand muss sich mehr ausmalen, wie | |
unbarmherzig ungebremste Krisen sein können. Wir erleben es ja gerade. | |
## Feiern bis zur Apokalypse | |
Und so hat die Kombination aus coronabedingter Krisenmüdigkeit und | |
erwachsendem Bewusstsein für die nahenden planetaren Kipppunkte ganz | |
nebenbei das Gegenwärtige als beste verfügbare Option zementiert. Wenn die | |
Zukunft schlicht eine extremere Version des Heute sein soll, dann wollen | |
viele nach der nächsten Welle noch lieber nochmal eine Runde Gegenwart | |
verkonsumieren, statt sich mit Zukunftsfragen zu belasten. Feiern bis zur | |
Apokalypse. | |
Wir erleben eine neuartige Zukunftsverdrossenheit. Kleine Fortschritte | |
gehen unter in einer Welt, die hitzt, schmilzt und flutet wie nie zuvor. 67 | |
Prozent der Deutschen sehen die Klimakrise als große Gefahr. Früher wäre | |
das ein gutes Zeichen gewesen, die Leute wären also bereit, zu | |
protestieren, etwas zu tun. Genau das hat sich jetzt geändert, es fehlt an | |
Perspektive. Wofür lohnt es es sich noch zu kämpfen? Mittlerweile scheint | |
nichts mehr so radikal, wie hoffnungsvoll in die Welt zu blicken. | |
Als wäre das nicht genug, ist all das nun das Einfallstor für jene, die die | |
stumpfe Singularisierung der Krise nutzen und verhindern wollen, dass die | |
Ausbreitung des Coronavirus symptomatisch und der notwendige Wandel | |
systemisch gedacht werden. Der Versuch, die Stimmen des Wandels und die | |
Idee einer ganzheitlichen Krisenbewältigungsstrategie zu zermürben, nimmt | |
Kampagnencharakter an. Man verspricht schnelle Lösungen, radikalisiert | |
[4][jene, die die Normalisierung von Hunderten Coronatoten pro Tag | |
hinterfragen], und bittet die Klimakrise, nicht mehr zu nerven – man habe | |
ja anderes zu tun. | |
Schließlich erklärt die konservativ-liberale Ecke – hochstrategisch – die | |
Umsetzung des Pariser Klimaabkommens für unmöglich. Weil die Coronakrise ja | |
gezeigt habe, dass wir doch nicht so gut in Krisenbewältigung sind. Erst | |
Corona, danach tiefer rein in das Wachstum um jeden Preis. Klimaschutz wird | |
stilisiert als Langzeitform der Coronapolitik: kein Spaß mehr, keine | |
Freiheiten mehr, kein Mehr mehr. | |
## Eine krisenmüde Gesellschaft | |
Es ist eine krisenmüde Gesellschaft, die nicht mehr zu hoffen wagt, und die | |
noch in diesem Jahr ganz unbeabsichtigt große politische Rückschritte | |
einbüßen könnte. Auf der einen Seite. Die andere Seite gibt es aber auch. | |
Denn es wird auch so unfassbar deutlich, warum der Jetztismus der Regierung | |
nicht mehr aufgeht, warum die Chancen großer Umbrüche dieses Jahr größer | |
sind denn je. Die Kraftlosigkeit, die Krisen so groß zu denken, wie sie | |
sind, ist an der Oberfläche angekommen. Und gleichzeitig verlangt sie | |
längst, endlich abgelöst zu werden. | |
In den 1970er Jahren entwickelte der Soziologe Aaron Antonovsky ein | |
salutogenetisches Gesundheitskonzept. Dabei fragt er nicht, warum Menschen | |
krank werden, sondern warum sie gesund bleiben – trotz potenzieller | |
Risiken. Entscheidend seien dabei drei Aspekte: das Gefühl, Zusammenhänge | |
des Lebens zu verstehen (Verstehbarkeit); das Gefühl, gestalten zu können | |
(Handhabbarkeit); und der Glaube an den Sinn des Lebens. Wenn all das | |
erfüllt ist, setzt eine Kohärenz ein, eine globale Orientierung. Antonovsky | |
lesen hilft zu verstehen, warum es gerade so leicht ist, am Rad zu drehen: | |
Die Coronakrise als Inbegriff von multidimensionalem Unverständnis; kaum | |
jemand empfindet Macht über die eigene Lebensgestaltung, und Sinnfragen | |
sind schon lange ungeklärt. | |
## Das Ende der Singularitäts-Illusion | |
Ginge es aber auch anders? Was wäre, wenn Verstehbarkeit durch Ehrlichkeit | |
und das Ende der Singularitäts-Illusion der Coronakrise hergestellt würde? | |
Und die Handhabbarkeit durch ein verwegen-radikales Konzipieren | |
klimagerechter Coronabewältigung – durch eine wirtschaftliche und | |
gesellschaftliche Strategie, die dort investiert, wo Resilienz und breites | |
Wohlergehen gestärkt werden, und es dort lässt, wo Ungerechtigkeiten und | |
Klimakrise gesteigert werden? | |
Und was wäre, wenn die Sinnfrage zusammengebracht wird mit der Schönheit, | |
den Reichtümern dieser Welt, mit der ökologischen Vielfalt, den | |
gesellschaftlichen Möglichkeiten, für die es sich zu kämpfen lohnt? | |
Dabei hilft es, genau hinzuschauen und zu erkennen, dass die Gleichsetzung | |
von Corona und Klimapolitik den Wesenskern der politischen | |
Herausforderungen verkennt. Coronapolitik ist eine zwangsläufige politische | |
Verneinung: Nein zu Ansteckungen, Nein zu Begegnungen, Nein zu Nähe, Nein | |
zu Kultur und Bewegungsfreiheit. | |
Klimapolitik hingegen ist eine umfassende Bejahung, und was für eine: Ja | |
zum Erhalt der Lebensgrundlagen, Ja zu sauberer Luft, Ja zur Artenvielfalt, | |
Ja zu gesicherten Arbeitsplätzen, Ja zur Freiheit auf einem sicheren | |
Planeten, Ja zur gerechten Transformation. Ja,ja, ja! | |
## Wahlen können Welten bewegen | |
Seit Kurzem sind die USA [5][wieder Teil des Pariser Abkommens]. Wird Joe | |
Biden nun für uns die Welt retten? Nein. Aber darum geht es auch nicht, | |
wichtig ist etwas anderes: Wahlen können Welten bewegen. Und dabei kommt es | |
nicht nur auf die Stimmzettel an. Sondern auf den politischen Wandel, der | |
im Vorfeld antizipiert wird – durch breiten, gesellschaftlichen Druck und | |
selbstbewusste Bewegungen. | |
Das Jahr 2021 ist durch viele Wahlen, Koalitionsverhandlungen und Gipfel | |
ein entscheidungsdichtes Jahr. Überall könnte zementiert werden, was durch | |
große gesellschaftliche Beben in den letzten Jahren in Gang gesetzt wurde. | |
Es ist keinesfalls unmöglich, eine parlamentarische Mehrheit für 1,5 Grad | |
zu organisieren. CDU und SPD haben sich noch nicht entschieden, ob sie | |
meinen, mit Klimaschutz gewinnen oder verlieren zu können. Und so wird | |
diese Unentschlossenheit in der Programmatik von der Entschlossenheit in | |
der materiellen Welt überlagert – das Ergebnis sind [6][neue | |
Kohlekraftwerke] und [7][Gas-Pipelines]. | |
Das muss aber nicht so bleiben. Es geht längst nicht mehr nur darum, in | |
einem Stück aus dieser Pandemie herauszukommen. Sondern darum, Zukünfte zu | |
verteidigen, die noch möglich sind. Damit es einen Wandel geben kann, der | |
uns hinaus aus diesen multiplen Krisen und hinein in eine gerechtere Welt | |
bringt, braucht es die Leute, die jetzt nicht klein beigeben – auch und | |
gerade, wenn es hart ist. | |
30 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://zoes-bund.de/wp-content/uploads/2015/10/Gruenbuch_Zukunftsforum.pdf | |
[2] /Tier-Mensch-Erkrankungen-in-NRW/!5690381 | |
[3] /Forscher-ueber-Corona-Ursprung/!5740763 | |
[4] /Plaedoyer-fuer-Gedenktag-fuer-Covid-19-Tote/!5730837 | |
[5] /USA-auf-dem-Klimaanpassungsgipfel/!5743226 | |
[6] /Fridays-for-Future-vs-Ende-Gelaende/!5688240 | |
[7] /Umstrittene-Gas-Pipeline/!5746092 | |
## AUTOREN | |
Luisa Neubauer | |
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