# taz.de -- Entfremdung von der Heimat: Zorn war meine liebste Sünde | |
> Silvester 1969 begann unsere Autorin, mit ihrem Heimatdorf zu hadern. Sie | |
> hoffte noch, dass alles bliebe, wie es war. Doch es kam anders. | |
Bild: Das Dorf Oberrimsingen, in dem Waltraud Schwab aufwuchs | |
Da ist das Dorf, in der Mitte eine Kirche, darüber Himmel und Horizont. Der | |
Tuniberg, an den sich das Dorf schmiegt, verstellt die freie Sicht kaum. | |
Erst bei Wetterwechsel schieben sich hohe Silhouetten in der Ferne in den | |
Blick: der Schwarzwald südöstlich, die Vogesen im Westen. | |
Es ist die oberrheinische Tiefebene in Baden, wo ich geboren bin. Heiß im | |
Sommer. Lau im Winter. Eben, fruchtbar, wie hingesetzt, flach. Bis zum | |
Rhein sind es drei Kilometer vorbei an Äckern und Kiesgruben. Die | |
landschaftliche Entfaltung ist geduckt. Da ist kein Wald, wo spazieren | |
gegangen wird, und die Wege auf dem Tuniberg führen entlang monotoner | |
Rebterrassen. Wein wird angebaut, Kies abgebaut. Bevor der Rhein in sein | |
enges Bett gezwängt wurde, war er ausladend und breit. Deshalb der kiesige | |
Grund. Im Sommer gab es Mücken. „Rheinschnaken“, sagen die Leute. Jetzt | |
werden sie mit Chemie bekämpft. | |
Das Dorf heißt Oberrimsingen. Mich hat es ausgespuckt. | |
Es ist eine Geschichte des Haderns. Silvester 1969 fing das Zweifeln an der | |
Heimat an. Ich, am Sprung zur Pubertät, lag mit meiner neun Jahre jüngeren | |
Schwester im Bett meiner Eltern und versuchte, sie zum Schlafen zu bringen. | |
Sie hatte Angst. Eine diffuse. Vor etwas, das knallt. Während ich neben ihr | |
lag, erfasste mich eine Wehmut und ich weiß noch, wie ich nicht wollte, | |
dass es 1970 wird. | |
Da war ich, ein Mädchen, das die Zeit anhalten wollte. Nur so wäre das Dorf | |
erträglich geblieben, obwohl da schon Risse waren. Zusammenhänge, die ungut | |
sich entfalteten. | |
## Drei „Berufe“ für Frauen: Ledig, verheiratet, Schwester | |
Als ich so alt war wie meine Schwester in jener Silvesternacht, wurde ich, | |
wie andere Kinder, hin und wieder gefragt, was ich werden wolle: | |
„Schwester“, antwortete ich. Schwester im Alemannischen, wie Sœur im | |
Französischen, Nonne im Hochdeutschen. Ich hatte es so verstanden als Kind, | |
dass es drei Berufe für Frauen gibt: Ledig. Verheiratet. Schwester. Ich war | |
nicht glücklich, dass mir von den dreien nur Schwester blieb. Aber die | |
anderen schienen noch weniger verheißungsvoll. | |
In meinem Kinderleben gab es mehrere Nonnen. Die Schwester eines Großvaters | |
war Schwester. „Schwestertante“ nannten wir sie. Wenn wir sie besuchten, | |
sie lebte mit einer freundlichen Co-Schwester in einem Pfarrhaus ein paar | |
Dörfer weiter, tobten wir aufgedreht um den Kuchentisch. Bei ihr durften | |
wir das. Sie wurde Nonne, weil ihr Liebster im Ersten Weltkrieg erschossen | |
wurde. | |
Im Kindergarten dann gab es die Kinderschwester. Ich mochte sie. Die | |
Krankenschwester wiederum, mit der sie zusammenlebte, mochte niemand. Diese | |
nämlich war streng, es war eine komische Strenge, die ich nicht verstand. | |
Einmal drehte sie mir Watte in den Ohren herum bei Mittelohrentzündung, es | |
tat sehr weh. Sie fand, Schmerz müsse ausgehalten werden. | |
Eine weitere Nonne, Sœur Gertrude, lebte in einem Kloster in der Schweiz. | |
Sie war die Schwester einer meiner Großmütter. Sie sei ins Kloster | |
gegangen, weil sie, nachdem ihre Menstruation anfing, epileptische Anfälle | |
bekam. Das hat mich schon als Kind bewegt, dass es so gewesen sein soll. | |
Was ist Menstruation? „Wenn Tante Rosa kommt.“ Was ist epileptisch? „Wenn | |
man umfällt.“ | |
Egal, Nonnen schienen bei sich. Anders die Frauen, die verheiratet oder | |
ledig waren. | |
Als ich jedoch in die Schule kam, passierte ein Wunder. Ich sah, dass es | |
einen vierten Beruf für Frauen gibt: Lehrerin. Da wollte ich Lehrerin | |
werden. Wegen Fräulein Strittmatter in der zweiten Klasse. Ob Lehrerin auch | |
noch eine Option war, als ich mit meiner Schwester Silvester im Bett lag | |
und hoffte, dass es nicht Mitternacht wird, weiß ich nicht mehr. Da hatte | |
sich schon viel Widerwillen angestaut. Ich glaube, als ich meine | |
Menstruation bekam, fing ich an, umzufallen. „Jetzt muss ich Fräulein zu | |
dir sagen“, sagte eine Tante. | |
Es gelang mir Silvester 1969 nicht, die Zeit anzuhalten, sie nahm Fahrt | |
auf, begann sich zu beschleunigen. Ich mitten drin. Denn immer öfter | |
stellte ich mich gegen das, „was man tut“. In die Kirche gehen. Beichten. | |
Den Pfarrer ernst nehmen. Oder den Lehrern glauben. Denn nach Fräulein | |
Strittmatter kam Herr Wild und der war ein Schläger. | |
Jeden Sonntagmorgen war die Heilige Messe ein Muss. Heute frage ich mich, | |
wie ich meiner Mutter klarmachte, dass ich da nicht hingehe. Ob das | |
schleichend war? Oder mit einem Knall? Was ich sicher weiß: Wenn ich nicht | |
hinging, gab es Ärger. Jahrelang habe ich den ausgehalten. Ich ging nicht | |
in die Kirche und die Sonntagslaune meiner Mutter war verdorben. | |
Auch das Beichten gab ich auf. Der Pfarrer belästigte die Kinder im | |
Beichtstuhl. Mit Worten. | |
„Hast du mit deinen Brüdern gebadet?“, fragte er die Mädchen im | |
Beichtstuhl, die vielleicht neun oder zehn Jahre alt waren. „Ja“, sagte | |
ich. Badewasser war kostbar. „Was hast du gesehen?“, fragte der Pfarrer. | |
„Meine Brüder.“ „Was habt ihr gemacht?“ „Uns gewaschen.“ „Habt i… | |
gehabt?“ „Wir haben uns nass gespritzt.“ „Was hast du bei deinen Brüde… | |
unten gesehen?“ Ich glaube, da habe ich schon gebockt. Wie unten, ob er das | |
Wasser meine, die Beine? Nein unten, zwischen den Beinen. „Da war die | |
Unterhose“, habe ich gesagt. Wir badeten doch in der Unterhose. | |
Solche Fragen stellte der Pfarrer den Kindern. Das war bekannt. Ein Skandal | |
war das nicht im Dorf. Irgendwann war es auch der Kirchenleitung bekannt. | |
Niemand intervenierte. Wir Kinder sagten es auch keinem Erwachsenen. Nur | |
unter uns tauschten wir uns aus. Trotzdem wussten es alle. | |
Man musste den Pfarrer, das stellte sich bald heraus, beim Beichten mit | |
Sünden füttern. Und irgendetwas „Unkeusches“ musste dabei sein. Ich hatte | |
keine Ahnung, was das war, beichtete aber, ich hätte genau das gedacht, | |
nämlich Unkeusches. Weitere Fragen blockte ich ab. Ich log auch. Nein, mit | |
meinen Brüdern hab ich nicht mehr gebadet. Lügen fand ich okay. Ich konnte | |
es doch wieder beichten. | |
Echte Lieblingssünden meinerseits, die ich dem Pfarrer gestand, waren | |
hingegen folgende: „Ich habe genascht.“ Naschen war eine „lässliche Sün… | |
und ich naschte sehr gerne. Weil noch eine Hauptsünde vorkommen musste, die | |
Liste hatten wir bei der Erstkommunion in die Hände gedrückt bekommen, als | |
wäre es ein Wunschzettel, beichtete ich, dass ich zornig gewesen sei. Zorn | |
war eine große Sünde. Ich beichtete Zorn, bevor ich zornig wurde. Denn was | |
der Pfarrer nicht wusste: Ich hatte das Gefühl, es ist gut, zornig zu sein. | |
## Das Dorf legte Frauen in Fesseln | |
Und dann hörte ich auf zu beichten und das muss im Jahr 1971 gewesen sein. | |
Das ging nicht geräuschlos, der Ärger mit meiner Mutter war groß. Denn das | |
Dorf legte Frauen in Fesseln. Ob Männer auch, konnte ich nicht | |
durchdringen. Ja klar, jeder wusste, wer trinkt. Jeder wusste, wer seine | |
Frau schlägt in der Nachbarschaft. Und? Meine Mutter jedenfalls war wie | |
gefesselt – von der Moral, der Tradition, der Kirche, den Nachbarinnen, den | |
Alten, den Männern. Wer den Rahmen sprengte, so ihr Credo, hatte schlechte | |
Karten. Die 70er Jahre aber sprengten den Rahmen. Mit und ohne meinen Zorn. | |
Meine Mutter jedoch hielt sich am Alten fest und verzweifelte am Neuen. | |
1969 war ich schon auf dem Gymnasium in der nächsten Kleinstadt. Noch war | |
ich leidlich brav. Bis auf die Sache mit der Kirche. Und dass ich die | |
Betten meiner Brüder nicht machte. Meins auch nicht. Meine Haltung war | |
klar: Die Brüder sollen das selber machen und ich entscheide, ob ich mich | |
in ein ungemachtes Bett lege. Das Ergebnis immer gleich: Ärger. | |
Morgens Schule, nachmittags Dorf. Zu Hause musste gearbeitet werden. | |
Immerhin war es Arbeit, Hausaufgaben zu machen. Lesen dagegen war keine. | |
Wurde ich mit einem Buch in der Hand vorgefunden, war der Ärger ebenfalls | |
groß. In den Sportverein, den Musikverein konnte ich nicht. Mädchen waren | |
nicht erlaubt. Außer im Kirchenchor. Undenkbar. | |
Bald danach kam noch das mit den Jungs. Und den Männern. Sie sprachen Sätze | |
aus ganz vorne auf der Zunge. „Ä Schmitzle kasch ma doch gej“, sagte einer, | |
der älter als mein Vater war – und sein Freund. „Schmitzle“ ist | |
Schmützchen. Und „ein Schmutz“, das ist ein Kuss. Wenn einer im Dorf | |
„Schmutz“ sagt, denk ich nicht zuerst an Dreck. | |
Meine liebste Freundin begann mit Jungs zu gehen. Ich mit niemandem. Meine | |
Freundin ging nie lange mit einem, aber in der Zeit war ich verlassen. In | |
der Höhle am Tuniberg, die dem Vater meiner Freundin gehörte, machten wir | |
Klassenpartys. Mit Flaschendrehen. Wen es erwischte, der musste wen küssen, | |
und wer das war, bestimmten die Flaschen. Nie werde ich vergessen, dass ich | |
Rüdiger Oyntzen küssen sollte. Der war mir zuwider. (Jahrzehnte später | |
brachte er auf Mallorca seine Kinder um.) Unter Gejohle hauchte ich an | |
seiner Wange vorbei. Meine Freundin stand im Hintergrund und reckte den | |
Daumen in die Luft. Und ich verstand: dein erster Kuss. | |
Ein Klassenkamerad, neben dem ich im Religionsunterricht saß, fragte mich | |
einmal, ob ich nie auf seine Hose schaue. Ob ich nicht sehe, was da | |
abginge. Nein, sagte ich, ich gucke da nicht hin. „Wir wissen, was mit dir | |
nicht stimmt“, sagte ein anderer bei anderer Gelegenheit. Sie wussten es | |
vor mir. | |
Nach dem Abitur ging ich fort. Wenn ich aber das Dorf besuchte und von | |
Freiburg kommend darauf wartete, den hohen Kirchturm zu sehen, legte sich | |
ein Band um meinen Hals und nahm mir fast den Atem. | |
Erst Jahrzehnte später konnte ich sehen, dass das Dorf idyllisch in der | |
Landschaft liegt. Darüber blauer Himmel. | |
Dieser Text erschien in längerer Form im 21. Band von „Mein lesbisches | |
Auge“. Darin erzählen 41 homosexuelle Frauen, wie sie ihre Heimat als | |
Jugendliche erlebten. In vielen Berichten wird das Gefühl des Befremdens, | |
des Unangebundenseins deutlich. Herausgegeben vom Konkursbuch Verlag | |
Tübingen, 351 Seiten, 16,80 Euro. | |
31 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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