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# taz.de -- Zwischen den Jahren: Die Tage der Träume
> Die Zeit zwischen den Jahren stecke voller Magie, meint unsere Autorin.
> Das sahen die Leute in vorchristlicher Zeit auch so.
Bild: In den Raunächten soll Raureif liegen
Raunächte heißen die Tage zwischen dem ersten Weihnachtstag und dem 6.
Januar. In meiner Vorstellung muss Raureif auf ihnen liegen, damit ihre
Schönheit, erst sichtbar wird. Und wenn kein Raureif liegt, dann ein
Nebelhauch, ein Lichtschleier, irgendetwas, das ihre Konturen verwischt.
Ach, wie können die Konturen der Zeit verwischen? Dieses rhythmische
Ticktack, das Minuten schafft, aus denen Stunden und Tage werden. Zwölf
Tage genau. Und ich sage, es geht. Denn Zeit kann schnell vergehen und
langsam. Sie kann weich vergehen und hart. Sie kann sichtbar sein und
unsichtbar. Wie im Traum und wie in der Wirklichkeit.
In den Raunächten, Ursprung heidnisch, die Wintersonnenwende wurde
gefeiert, vergeht die Zeit weich, finde ich. Sie nimmt die Zielstrebigkeit
aus den Tagen. Stellt Schlaf über Wachsein und gibt in ihrem Schweben den
Dingen ihre Dingheit zurück. Alles wird Philosophie. Für eine Tasse zum
Beispiel zählt die meiste Zeit des Jahres nur die Funktion. In den
Raunächten, wenn auf allem ein Schleier liegt, wird ihre Tassenheit
sichtbar. Das Greifbare, das Runde, das Konvexe. Ah, Hexe!
Ich liebe die Tage zwischen den Jahren. Sie sind eine Leerstelle,
eingelullt von Dämmerung, in der alles, was zwanghaft sonst Ansprüche
stellt, nicht mehr zählt. Als wäre da Anarchie, aber eine leise, die nichts
fordert, auf eigentümliche Weise nichts will.
Der Kulturwissenschaftler [1][Thomas Macho], der mir bis kürzlich unbekannt
war, sagt, dass die Raunächte, diese Frist vom 25. Dezember bis zum 6.
Januar also, [2][„ziemlich exakt der Differenz zwischen Mond- und
Sonnenjahr“] entspreche und dass diese Tage in vorchristlicher Zeit eine
verkehrte Welt darstellten, in der Gesetze ausgehebelt waren, „in der die
Herren ihre Sklaven bedienen mussten, in der die Toten die Lebenden
heimsuchten und in der die Kinder über die Alten herrschen durften“. Auch
er bemüht das Wort „Anarchie“.
Wenn das stimmt, dann sind meine Gefühle also archaischer Natur. Obwohl ich
die Sterne nicht lesen kann, die Sonne nicht anbete, dem Mond bestenfalls
wie einem fernen Bekannten folge. Und obwohl sich das Christentum auf die
Zeit gesetzt hat mit der Geburt Christi und der Ankunft des Herrn.
Vor allem aber trotz der Knallerei an Silvester.
Wobei die Knallerei an Silvester, vor allem in Berlin, wo ich meist bin,
etwas Schlimmes bewirkt: Meine Raunachtstimmung ist jetzt schon nach sechs
Tagen, statt nach zwölfen vorbei, sie ist knallhart aus. Der Krach zerstört
jedes Sinnieren, jede Kontemplation, jedes Warten und Außer-sich-sein in
der Zeit. Am 1. Januar hat die Tasse wieder ihren Henkel, und ich trinke
daraus.
Waltraud Schwab
1 Jan 2023
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Macho
[2] /Jahreswechsel-als-Zeitenwende/!5558441
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