# taz.de -- Zeit zwischen den Jahren: Ein Sehnsuchtsloch | |
> Um den Jahreswechsel herum werden die Zeiger der Uhr transparent. Warum | |
> ist das nicht viel öfter so? Als Grundrecht, nicht als Luxusgut. | |
Bild: Einfach mal nichts tun: Katzen haben das ziemlich gut drauf | |
Das Messen von Zeit ist eine alte Erfindung. Alle möglichen Kulturen | |
machten sich schon vor Tausenden Jahren an ihre Einteilung. Sie nutzen | |
dafür den Mond, die Sonne, Wasser, Räucherstäbchen. Es gibt ein Bedürfnis, | |
das Leben zu portionieren. Vielleicht, weil es tröstlich ist, wenn morgen | |
stets ein neuer Tag beginnt. Weil man sich mit Blick auf einen Kalender ein | |
bisschen selbstbestimmt fühlt. Weil es für die Organisation gemeinsamen | |
Lebens praktisch ist. | |
Die Tage um den Jahreswechsel sind auffällig anders. Sie entziehen sich | |
dieser Kontrolle, oder eher noch, wir entziehen sie ihr. Wir trauen uns, | |
weil es dieses eine Mal im Jahresverlauf weniger Mut braucht, den Takt der | |
Dinge zu verlassen, weil es akzeptiert ist, wenn auch längst nicht für | |
alle. Manche sagen „zwischen den Jahren“ zu diesem Sehnsuchtsloch, das die | |
Zeiger der Uhren transparent werden lässt und tut, als wären die Stunden | |
unmessbar, als gäbe es sie gar nicht, ein paar zusammengeschmolzene | |
Übergangstage lang. Wie schön das sein kann. | |
Dinge liegenlassen, [1][Langeweile], Haare waschen, die letzte Strumpfhose | |
ohne Laufmaschen suchen, Essen vorbereiten. Nicht sagen, dass man noch was | |
arbeiten muss, Gespräche führen mit Freunden und Kindern und dazwischen mit | |
sich selbst: Wie war dein Jahr? Woher nimmst du Zuversicht? Wird der Krieg | |
enden? Wie retten wir die Welt? Kann man zu oft den Film mit der | |
Schokoladenfabrik gucken? Weinen um das, was Trauer bedarf. Zwischendrin | |
durchziehen Feuerwerksfäden die sternlose Mitternacht. Umarmung, Kuss, | |
Bett, Spaziergang. Ich habe selten auf die Uhr geschaut. Die Zeit durfte | |
befreit sein, außer Kontrolle. | |
## Neujahr ist kein Neustart | |
Zeit ist eine knappe Ressource. Deswegen sagen wir „Zeit ist Geld“ und | |
haben nie genug. Was wir zusammenkratzen, bauen wir um die Lohnarbeit | |
herum. Wir nehmen uns vor, die Reste besser zu verwerten, länger wach | |
bleiben, früher aufstehen. Alles wird ein Kästchen im Stunden-, Wochen-, | |
Monatsplan. Und plötzlich reden wir häufiger davon, unseren Akku aufladen | |
zu müssen, als davon, dass wir keine Maschinen sind. Vielleicht sind wir | |
doch welche, der Akku klemmt hinter der Lunge und lädt nicht richtig. Viele | |
Menschen sind sehr müde geworden. Und müssen sich trotzdem rechtfertigen, | |
wenn sie vor Erschöpfung stehenbleiben, umfallen – oder nur in Frage | |
stellen, [2][ob dieses gesundheitsschädliche System nachhaltig sein kann], | |
auch für eine Gesellschaft als Ganze. | |
Das Jahr ist erst ein paar Tage alt. Die Fäden, die das letzte Jahr | |
gesponnen hat, nimmt das darauffolgende auf. Die Nachrichten und das | |
Thermometer belegen: Der Krieg ist noch Krieg, das Klima noch in der Krise, | |
mit dem 31. Dezember gab es davon kein Ende und keine Pause. Neujahr ist | |
kein Neustart. Auch die Zeit ist keine andere, sie ist weiterhin rar und | |
viel zu ungleich verteilt. Sicher kann das Leben nicht immer sein wie dann, | |
wenn ein Jahr ins nächste greift. Aber es müsste doch viel öfter. Als | |
Grundrecht, nicht als Luxusgut. | |
3 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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