| # taz.de -- Jahresrückblick 2024: Es war nicht alles schlecht | |
| > Kriege, Nazis, Trump: 2024 war hart – aber es gab auch gute Nachrichten: | |
| > Ein versöhnlicher Rückblick mit hoffnungsvollen Botschaften aus aller | |
| > Welt. | |
| Bild: Positive Lehren aus harten Zeiten: Ruanda, hier die Hauptstadt Kigali, ha… | |
| Ruanda: Virus gestoppt | |
| Der Countdown begann am 30. Oktober. Das war der Tag, als in Ruanda der | |
| letzte Fall [1][des gefährlichen Marburg-Virus] im Labor bestätigt wurde. | |
| Laut den Regeln der Internationalen Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird | |
| eine Seuche dann als beendet erklärt, wenn 42 Tage, also zwei | |
| Inkubationsperioden, nachdem der letzte bestätigte positive Fall wieder | |
| negativ ist, kein neuer Infektionsfall mehr bekannt geworden ist. Und | |
| tatsächlich hat das ruandische Gesundheitsministerium am 20. Dezember das | |
| Ende der Seuche erklärt. | |
| Obwohl das Marburg-Virus neben dem verwandten Ebola-Virus eine der | |
| tödlichsten Krankheiten der Welt verursacht, starben beim jüngsten Ausbruch | |
| in Ruanda nur 15 Patienten. Seit dem offiziellen Ausbruch der Seuche am 27. | |
| September wurden landesweit 66 Patienten positiv getestet, darunter vor | |
| allem Ärzte und Pfleger von Krankenhäusern, wo das Virus sich zu Beginn | |
| zunächst unbemerkt verbreitete. | |
| Typische Symptome sind hohes Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen sowie | |
| Übelkeit und Bauchkrämpfe. Ähnlich wie bei Ebola wird das Marburg-Virus | |
| nicht über die Luft oder durch Tröpfcheninfektion, wie bei Corona, | |
| übertragen, sondern lediglich über Körperflüssigkeiten. Allerdings zählt es | |
| mit einer Sterblichkeitsrate von fast 25 Prozent zu einem der tödlichsten | |
| Viruserkrankungen für den Menschen. | |
| Es war der drittgrößte Ausbruch in der Geschichte. Der Ursprung der Virus | |
| liegt im Osten Afrikas. Als Träger des Virus werden Flughunde vermutet, | |
| über die das Virus auch auf Affen oder gar Menschen übertragen werden kann. | |
| In Ruanda hat sich der erste Patient im September in einem Steinbruch | |
| angesteckt. | |
| Das Virus ist benannt nach der hessischen Stadt Marburg. Es kam 1967, | |
| offenbar über infizierte Affen, von Uganda nach Deutschland, wo die | |
| Primaten bei Tierversuchen des Pharmakonzerns Behringwerke, der auf der | |
| Suche nach einem Polio-Impfstoff war, benutzt werden sollten. Innerhalb | |
| weniger Tage starben damals zahlreiche Labormitarbeiter an hohem Fieber. | |
| Ruanda hat in den vergangenen Jahren viele Erfahrungen darin gesammelt, die | |
| Verbreitung von Seuchen zu verhindern. Kurz nach Ende der Coronapandemie | |
| breitete sich im Nachbarland Kongo das Ebolavirus aus. In diesem Jahr | |
| grassieren zudem die Affenpocken in der Region. Ruandas Gesundheitsbehörden | |
| arbeiten seit der Coronapandemie eng mit der WHO zusammen. | |
| „Dieser Ausbruch zeigt, dass mit der besten verfügbaren Behandlung eine | |
| Genesung möglich ist und Beiträge zur Wissenschaft geleistet werden | |
| können“, sagte Sabin Nsanzimana, Ruandas Gesundheitsminister. „Die | |
| Erkenntnisse, die dieser Ausbruch liefert, werden dazu beitragen, künftige | |
| Überwachungsmaßnahmen zu gestalten und künftige Ausbrüche zu verhindern.“ | |
| Nach Angaben des ruandischen Gesundheitsministeriums wurden landesweit in | |
| nur kurzer Zeit mehr als 7.400 Tests durchgeführt und über 1.700 Menschen | |
| mit einer Einzeldosis eines Wirkstoffs des in den USA ansässigen Sabin | |
| Vaccine Institute geimpft. So sei es gelungen, die Infektions- sowie | |
| Sterblichkeitsrate weit unter dem globalen Durchschnitt vergangener | |
| Ausbrüche zu halten, lobte auch die WHO. | |
| Simone Schlindwein, Kampala | |
| Japan: Neues Jahr, neues Eheglück? | |
| Japan ist das einzige Mitglied der G7-Nationengruppe, das | |
| gleichgeschlechtliche Ehen noch nicht zulässt. Doch dieses Jahr markiert | |
| einen Wendepunkt: Mehrere wichtige Gerichtsurteile haben bewirkt, dass der | |
| Druck auf die Politik wächst, die Gesetzeslage zu liberalisieren. Im April | |
| waren bei der Rainbow-Pride-Parade in Tokio 15.000 Menschen mit | |
| Regenbogenfahnen durch den Bezirk Shibuya gezogen und hatten damit auch | |
| gefeiert, dass es neuen Anlass zur Hoffnung auf mehr Anerkennung und | |
| Gleichberechtigung für die japanische LGBTQ+-Community gibt. Denn kurz | |
| zuvor hatte das oberste Gericht von Sapporo das Verbot der | |
| gleichgeschlechtlichen Ehe für verfassungswidrig erklärt. | |
| Dieses erste Urteil eines obersten Regionalgerichts zog im Jahresverlauf | |
| zwei ähnliche Entscheidungen der obersten Gerichte in Nagoya und Fukuoka | |
| nach sich. Zwar scheiterten alle Klägerinnen und Kläger mit ihrer Forderung | |
| nach einer Entschädigung von symbolischen rund 6.000 Euro. Doch sie | |
| verfolgen gezielt diesen Weg, um in Berufung zu gehen und diese Frage vor | |
| das nationale Oberste Gericht zu bringen. Dort müsste die letzte Instanz | |
| dann eine endgültige Entscheidung treffen und im Erfolgsfall die Politik | |
| zum Handeln zwingen. | |
| Im Dezember urteilte das oberste Gericht von Fukuoka ausdrücklich, dass | |
| zivilrechtliche Bestimmungen, die gleichgeschlechtliche Ehen verbieten, | |
| gegen Artikel 13 der Verfassung verstoßen. Dieser Artikel garantiert das | |
| Recht auf Streben nach Glück. Zudem verletze das Verbot die Gleichheit vor | |
| dem Gesetz und die Würde des Einzelnen. „Es gibt keinen Grund mehr, die Ehe | |
| zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren nicht rechtlich anzuerkennen“, | |
| erklärte der Vorsitzende Richter Takeshi Okada. | |
| Nach dem Urteil hielten vier Kläger vor dem Gericht ein Schild mit der | |
| Frage hoch, warum das Parlament die gleichgeschlechtliche Ehe noch nicht | |
| legalisiert hat. Der 35-jährige Kläger Kosuke sagte, das Urteil „verändere | |
| die gesellschaftliche Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe“. Er habe | |
| nicht aufhören können zu weinen, als der Richter das Urteil vorlas. Sein | |
| 37-jähriger Partner Masahiro sagte, das Urteil „habe unser Leid verstanden, | |
| ich fühlte mich sehr beruhigt“. | |
| Im März entschied das Oberste Gericht der Inselnation zudem, dass | |
| gleichgeschlechtlichen Paaren gesetzliche Hinterbliebenenleistungen | |
| zustehen. Ein Mann, der rund 20 Jahre mit einem Partner zusammenlebte, | |
| klagte nach dessen Ermordung auf Opferentschädigung. Erst in letzter | |
| Instanz entschied die Justiz zugunsten des Klägers. Das | |
| Entschädigungsgesetz soll die Folgen des Todes eines geliebten Menschen | |
| mildern, hieß es in der Entscheidung. Dabei „macht es keinen Unterschied, | |
| ob die Person, die mit dem Opfer zusammenlebte, das andere oder das gleiche | |
| Geschlecht hatte“. | |
| Laut dem Verband der Rechtsanwaltskammern gibt es in über 200 japanischen | |
| Gesetzen und Verordnungen Bestimmungen, die Lebenspartner nach dem | |
| Gewohnheitsrecht wie rechtmäßige Ehepartner behandeln. Die Gleichheit der | |
| Partnerschaft sei jedoch nicht ausreichend, kommentierte die liberale | |
| Zeitung Mainichi das Urteil. Vielmehr sollte in Japan die | |
| gleichgeschlechtliche Ehe rechtlich umfassend anerkannt werden. | |
| Das neue Jahr könnte einen Durchbruch bringen. Die hohen Stimmenverluste | |
| der Regierungspartei LDP bei der Parlamentswahl Ende Oktober haben die | |
| erzkonservativen Blockierer geschwächt. Erstmals gäbe es eine | |
| parteiübergreifende Mehrheit im Parlament für die Legalisierung der | |
| gleichgeschlechtlichen Ehe. „Das würde die Nation glücklicher machen“, | |
| meinte auch Premier Shigeru Ishiba. Wegen seiner schwachen Position in der | |
| LDP will er weitere gerichtliche Entscheidungen abwarten. Doch sein kleiner | |
| Koalitionspartner, die Komei-Partei, drängt auf eine gesetzliche Initiative | |
| im Parlament. | |
| Martin Fritz, Tokio | |
| Norwegen: Tiefseebergbau wackelt | |
| Vor Gericht in Oslo verhandelte man gerade eine Klage des WWF gegen die | |
| norwegischen Tiefseebergbaupläne, als auf anderem Wege plötzlich Fakten | |
| geschaffen wurden. Das Leben am Meeresboden zwischen Grönland, Norwegen und | |
| Spitzbergen bleibt vorerst ungestört, denn die Minderheitsregierung hat | |
| zähneknirschend die für kommendes Jahr geplante Lizenzvergabe an | |
| Bergbauunternehmen auf Eis gelegt. Wie? Was? | |
| Kurzer Rückblick: Der WWF ist nicht der einzige Player in Norwegen, der | |
| sich gegen das Vorhaben der Regierung engagiert. Aber trotz der Proteste | |
| etwa von Naturschutzorganisationen, Forschungseinrichtungen und Behörden | |
| trieb Oslo die Pläne in diesem Jahr immer weiter voran. | |
| „Wir verstehen das Verhalten der Regierung selbst nicht“, hatte Karoline | |
| Andaur, Vorständin von WWF Norwegen, vor der Gerichtsverhandlung gesagt. | |
| Die augenscheinliche Eile bei der Lizenzvergabe war das zentrale Argument | |
| der Klage – der WWF ist überzeugt, dass die Regierung die | |
| Umweltverträglichkeitsprüfung nicht vorschriftsgemäß durchgeführt hat. | |
| Dass über die Ökosysteme am Meeresgrund noch viel zu wenig bekannt ist, | |
| darin sind sich die vielen Kritiker einig. Empfindliche Strukturen könnten | |
| unwiederbringlich verloren gehen, wenn Menschen dort unten auf der Jagd | |
| nach Mangan herumfuhrwerken. „Wir brauchen die seltenen Minerale, Europa | |
| muss sich unabhängig machen“, lautet aber die unverdrossene Parole der | |
| norwegischen Minderheitsregierung aus sozialdemokratischer Arbeiterpartei | |
| und Zentrumspartei. | |
| Stichwort Minderheitsregierung: Als solche ist man nun einmal gelegentlich | |
| auf die Unterstützung weiterer politischer Akteure angewiesen, zum Beispiel | |
| beim Beschließen des Staatshaushalts. In Norwegen verhandeln die | |
| Regierungsparteien dazu mit der Sozialistischen Linkspartei (SV). Und die | |
| kam mit einem für viele unerwarteten Verhandlungsgeschick um die Ecke. | |
| SV-Vorsitzende Kirsti Bergstø verkündete Anfang Dezember schließlich stolz, | |
| welche Anliegen ihre Partei durchgesetzt hat. Und siehe da: Ungeduldig | |
| wartende Bergbaukonzerne können sich den Lizenzerwerb vorerst abschminken, | |
| zumindest für das kommende Jahr 2025. | |
| Ministerpräsident Jonas Gahr Støre (Arbeiterpartei) räumte als guter | |
| Demokrat zähneknirschend ein, dass er aktuell keine andere Wahl hat: „Das | |
| ist ein Aufschub, den wir akzeptieren müssen.“ | |
| Dass durch diesen Aufschub zugleich etwas in Bewegung gerät, hofft wiederum | |
| Karoline Andaur: Sie nannte es gegenüber der taz „eine Pause, die der | |
| Regierung Zeit zum Umdenken gibt“. | |
| Die WWF-Klage wurde derweil zu Ende verhandelt. Zu welchem Schluss das | |
| Gericht kommt, will es Mitte Januar bekannt geben. Dann könnte sich zeigen, | |
| ob aus der Pause am Ende noch das endgültige Aus für den Tiefseebergbau | |
| wird. | |
| Anne Diekhoff, Västernorrland | |
| England: Gute Drohnen | |
| Vom obersten Stockwerk eines benachbarten Parkhauses sieht man es am | |
| besten: Ein leichtes Surren mischt sich in das Gurren der Tauben und dann | |
| hebt vom Dach des Krebszentrums im Guy’s Hospital in der Londoner | |
| Innenstadt ein kleiner, weißer, wie ein H geformter Flugkörper ab und | |
| fliegt schnurstracks und relativ schnell in Richtung Westen. Dann | |
| verschwindet das H vor dem Hintergrund des großen Victoria Towers des | |
| britischen Parlaments und des Londoner Riesenrads. | |
| Das Flugobjekt ist eine spezielle Drohne, deren Ziel das Dach des zwei | |
| Kilometer Fluglinie entfernten St. Thomas Hospital ist. Dort senkt sich die | |
| Drohne etwas und ein Krankenhausangestellter entnimmt einer Tasche, die mit | |
| einem Seil von der Drohne heruntergelassen wurde, einen Stahlbehälter mit | |
| zahlreichen Blutproben, die hier in einem Speziallabor untersucht werden | |
| sollen. | |
| Nach der Abgabe fliegt die Drohne sofort wieder zurück und landet, es sind | |
| seit dem Start kaum fünf Minuten vergangen, wieder auf dem Dach des | |
| Krebszentrums. Dass da über den Dächern eine mit Blut beladene kleine | |
| Drohne durch die Lüfte flog, hat von unten niemand bemerkt. | |
| Je nach Bedarf und bis zu zehnmal am Tag fliegen seit Mitte November Flüge | |
| mit Blutproben zwischen den beiden Krankenhäusern hin und her, mit | |
| Sondererlaubnis der britischen Luftfahrtbehörde. Die Beförderung der Proben | |
| auf diese Art spart wertvolle Zeit, denn bisher wurden sie per Motorrad | |
| oder Pkw befördert, was an schlechten Tagen im Londoner Innenstadtverkehr | |
| hin und zurück fast eine Stunde dauern kann. | |
| Das britische Gesundheitssystem NHS glaubt, dass nach dem Ablauf einer | |
| sechsmonatigen Probezeit dieses System auch andere medizinische Gegenstände | |
| und Proben transportieren kann, und man fühlt sich etwas erinnert an die | |
| fiktionale Gestalt Mary Poppins, die ebenfalls über den Dächern Londons | |
| unterwegs ist, allerdings mit einem altmodischen Regenschirm. Der Einsatz | |
| der Drohnen soll womöglich auch über London hinaus ausgeweitet werden. | |
| Der derzeitige Einsatz folgte bereits anderen Probeläufen in Dublin und in | |
| englischen ländlichen Regionen. So werde auch weniger Schadstoff und | |
| Energie verbraucht, erklärt die Krankenhausverwaltung. Hin und wieder wird | |
| man jedoch dennoch auf alte Methoden zurückgreifen müssen, denn bei sehr | |
| starkem Wind könnten die Drohnen nicht eingesetzt werden. | |
| Die Botschaft sei auch, dass Drohnen hier mal „für Gutes eingesetzt | |
| werden“, sagte Alec Jackson ein Projektleiter des Unternehmens Apian, die | |
| das Drohnenprojekt mit unterstützen. | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, London | |
| Deutschland: Grundrechte bleiben | |
| Vor rund einem Jahr machte die Correctiv-Recherche deutlich, wie akzeptabel | |
| in rechtsextremistischen Kreisen (inklusive AfD) das Konzept der | |
| „Remigration“ ist. Auch „nicht assimilierte Eingebürgerte“ sollen aus … | |
| Land gedrängt werden. Darauf hat die deutsche Zivilgesellschaft, von links | |
| bis konservativ, mit großen Demonstrationen reagiert und deutlich gemacht, | |
| dass sie solche im Kern rassistischen Konzepte von Staatsbürgerschaft | |
| ablehnt. Das war die richtige Reaktion, auch als Selbstvergewisserung der | |
| freiheitlich-demokratischen Mehrheit. | |
| In der Folge unterzeichneten jedoch auch 1,7 Millionen Menschen eine | |
| Petition, die dem Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke Grundrechte wie | |
| die Meinungsfreiheit und die Möglichkeit zu kandidieren entziehen wollte. | |
| Zum Glück hat keine etablierte politische Partei diese Position übernommen. | |
| Feinde der Demokratie bekämpft man nicht, indem man ihnen die Grundrechte | |
| entzieht. Die entsprechende Grundgesetz-Vorschrift Artikel 18, die | |
| offensichtlich davon ausgeht, Grundrechte seien eine Gegenleistung für | |
| Wohlverhalten, ist historisch überholt. | |
| Der Versuch, ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD einzuleiten, war | |
| etwas erfolgreicher. Immerhin 113 von 733 Abgeordneten unterzeichneten eine | |
| entsprechende Initiative. Vor allem die Grünen bestätigten hier ihr Image | |
| als gängelnde Verbotspartei. Zum Glück ist der Rückhalt für ein | |
| Verbotsverfahren in den großen Fraktionen, also bei SPD und CDU/CSU, recht | |
| gering. | |
| Dass auch Parteien, die die AfD inhaltlich bekämpfen, die Verbotsinitiative | |
| mehrheitlich ablehnen, macht Mut. Man kann nicht Vielfalt und Pluralismus | |
| propagieren, aber – je nach Bundesland – bis zu einem Drittel der | |
| Wähler:innen davon ausnehmen. Demokratie heißt, Wahlergebnisse auch dann | |
| zu akzeptieren, wenn sie weh tun. | |
| So handhaben es auch fast alle anderen westlich orientierten Demokratien. | |
| Es wäre also ein deutscher Sonderweg, eine große oppositionelle | |
| Rechtsaußen-Partei einfach zu verbieten. | |
| Die Demokratie ist ein Wert an sich. Wer sie vorschnell zur Disposition | |
| stellt, wertet sie ab und schadet damit langfristig der Demokratie. Es war | |
| daher eine der guten Nachrichten des Jahres 2024, dass ein | |
| Parteiverbotsverfahren im Bundestag keine Chance hatte. | |
| Christian Rath, Freiburg | |
| Kolumbien: Erfolg gegen Kinderehen | |
| „Meine Mutter war 15, als sie mich zur Welt brachte – mein Vater war 63.“ | |
| Was die indigene Senatorin Martha Peralta (MAIS) in einer Parlamentsdebatte | |
| schildert, ist kein Einzelfall in Kolumbien. Doch damit soll in Zukunft | |
| Schluss sein. Seit 1887 erlaubt das Gesetz die Ehe ab dem 14. Lebensjahr, | |
| wenn die Eltern zustimmen. Seit fast 20 Jahren gibt es Versuche, die | |
| Regelung zu ändern. Im November klappte es im zehnten Anlauf schließlich – | |
| am Ende einstimmig, über alle Parteigrenzen hinweg. Heiraten ist künftig | |
| erst mit 18 Jahren möglich. | |
| Das soll vor allem Mädchen schützen. Denn sie betrifft die Kinderehe in den | |
| meisten Fällen. #SonNiñasNoEsposas – Sie sind Mädchen, keine Ehefrauen – | |
| hieß die Kampagne gegen die Kinderehe daher. Laut dem Zensus von 2018 waren | |
| 15 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren und 1,8 Prozent der | |
| Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren verheiratet – vor allem in indigenen und | |
| afrokolumbianischen Gemeinden, aber nicht nur. Die Dunkelziffer dürfte | |
| höher liegen. | |
| Es trifft vor allem Mädchen auf dem Land aus armen Familien. In den meisten | |
| Fällen heiraten sie einen Mann, der mindestens 20 Jahre älter ist. Über die | |
| Hälfte wurde gegen ihren Willen von ihren Eltern verheiratet, belegen | |
| weitere Untersuchungen. Daten zeigen, dass die minderjährigen Ehefrauen in | |
| hohem Maße sexuelle Gewalt erleben. | |
| Und die Gewaltspirale dreht sich weiter: Von den jugendlichen Straftätern | |
| zwischen 14 und 18 Jahren sind 89 Prozent Kinder von Teenagermüttern. | |
| „Kinder, die Kinder aufziehen müssen“, sagt Alejandro Ruiz der taz. Der | |
| Jurist arbeitet beim kolumbianischen Ableger von SOS-Kinderdorf und hat den | |
| Gesetzestext entworfen. Damit es in Kraft tritt, fehlt noch die | |
| Unterschrift von Präsident Gustavo Petro. | |
| Noch nie wurde das Thema so breit und offen im Parlament debattiert – und | |
| so ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht, sagen Kinderschützer:innen. | |
| Laut Anwalt Ruiz vom kolumbianischen SOS-Kinderdorf ist eine breite | |
| Kampagne nötig, um das Gesetz in der ganzen Gesellschaft, bei | |
| Institutionen, Kindern und Eltern bekannt zu machen. | |
| Doch es ist nur ein erster Schritt, betont auch Thiago Hernández. „Es geht | |
| um einen Kulturwandel.“ Hernández arbeitet bei der Stiftung Plan, dem | |
| kolumbianischen Ableger von Plan International, die den Prozess eng | |
| begleitet hat. Geschlechterstereotypen müssten sich ändern. | |
| Hernández warnt davor, die Diskussion auf indigene Gemeinschaften zu | |
| beschränken und diese so zu stigmatisieren. Das Problem sei viel größer. | |
| Indigene Mädchen und Frauen hätten sich längst in ihren Gemeinschaften | |
| gegen die frühen Ehen mobilisiert. Auch die indigene Senatorin Martha | |
| Peralta betonte das im Parlament. Und machte Hoffnung auf Wandel: Indigene | |
| Kulturen seien „niemals statisch und immer dynamisch“ gewesen. | |
| Katharina Wojczenko, Bogotá | |
| Belgien: Sühne für Kongo-Verbrechen | |
| Fünf Frauen aus der Demokratischen Republik Kongo, Töchter weißer | |
| belgischer Väter und schwarzer kongolesischer Mütter und alle heute über 70 | |
| Jahre alt, erzielten am 2. Dezember einen historischen Erfolg vor Gericht | |
| in der früheren Kolonialmacht Belgien. In der Zeit zwischen 1946 und 1950 | |
| waren die „Mischlinge“ im Alter zwischen zwei und vier Jahren von den | |
| belgischen Behörden in der Kongokolonie ihren Müttern weggenommen und in | |
| katholische Waisenhäuser zwangsverbracht worden. Dort wurden sie | |
| misshandelt und schließlich 1961 nach Ende der Kolonialherrschaft schutzlos | |
| in den Händen lokaler Militärangehöriger zurückgelassen. | |
| Simone Ngalula, Monique Bitu Bingi, Lea Tavares Mujinga, Noelle Verbeeken | |
| und Marie-Jose Loshi verklagten den belgischen Staat, aber im September | |
| 2021 verloren sie in erster Instanz. Jetzt wertete das Berufungsgericht in | |
| Brüssel ihre „Entführung“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ u… | |
| sprach ihnen Entschädigungen zu. | |
| Die Kinder wurden von der Gesellschaft getrennt, weil die Existenz von | |
| „Mischlingen“ als Gefahr für die Kolonie gewertet wurde, sagte Anwältin | |
| Michèle Hirsch: Es handele sich um eine „Politik der Rassensegregation und | |
| der kolonialstaatlichen Entführungen“ und um einen „Identitätsdiebstahl�… | |
| Kolonialarchive belegen, dass es sich um eine organisierte staatliche | |
| Praxis handelte. Die Kinder wurden ihren Müttern weggenommen, mit Gewalt | |
| und Drohungen, und als elternlos definiert. Ihre weißen Väter hatten die | |
| Vaterschaft nicht anerkannt. | |
| Erst in den 1980er Jahren entdeckte Monique Bitu Bingi in alten Dokumenten | |
| Nachweise ihrer Herkunft; eine alte Nonne aus ihrem früheren Kinderheim | |
| hatte ihr einen Schlüssel zu ihren Archiven gegeben. Sie teilte ihre | |
| Entdeckungen mit ihren vier Leidensgenossinnen. 2014 entstand daraus ein | |
| Buch, das eine öffentliche Debatte anstieß. 2019 sprach Belgiens damaliger | |
| Premierminister Charles Michel eine Entschuldigung des belgischen Staates | |
| aus, aber Reparationen schloss die Regierung aus. Ebenso wurde die | |
| Einstufung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zurückgewiesen, da | |
| dieser Straftatbestand erst seit 1999 im belgischen Recht existiere. | |
| Das sieht das Gericht in Brüssel nun anders. „Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit“ seien als solche im Völkerstrafrecht seit den Nürnberger | |
| Kriegsverbrechertribunalen von 1946 anerkannt und damit gelte das auch für | |
| die vorliegenden Taten aus dem Zeitraum von 1948 bis 1961. „Ein | |
| historisches Urteil“, sagt Klägeranwältin Hirsch. „Zum ersten Mal in Euro… | |
| hat ein Gericht den ehemaligen Kolonialstaat wegen Verbrechen gegen die | |
| Menschlichkeit schuldig gesprochen.“ | |
| Das Urteil könnte einen Präzedenzfall darstellen. 15.000 bis 20.000 | |
| „Mischlingskinder“ sollen die belgischen Kolonialbehörden auf diese Weise | |
| im Kongo ihren afrikanischen Müttern weggenommen haben. François Misser, | |
| Brüssel | |
| Ukraine: Umweltschutz im Krieg | |
| Das Leben in Frontnähe – ich höre oft das dumpfe Grollen von Explosionen – | |
| ist nicht vergleichbar mit dem Leben in dem relativ ruhigen Kyjiw oder der | |
| Westukraine. Gleichwohl ist es erschreckend und beruhigend zugleich, dass | |
| man sich an alles gewöhnen kann. Wenn ich jetzt an 2024 zurückdenke, dann | |
| gibt es nämlich auch Dinge, über die ich mich freue. Etwa, wie unsere | |
| Gruppe „Zero Waste Kharkiv“ sich entwickelt, qualitativ und quantitativ. | |
| Unser Ziel ist es, Mülldeponien kleiner und kleiner werden zu lassen. Denn | |
| Deponien sind gefährlich. In ihnen bildet sich Methangas. Und wenn eine | |
| Rakete in eine Deponie einschlägt, gibt es eine gefährliche Explosion. | |
| Ich freue mich auch, wenn ich bei unseren Vorträgen in Schulen und | |
| Jugendzentren sehe, wie begeistert die Jugendlichen sich unsere | |
| Informationen über das Trennen von Wertstoffen und Recycling nicht nur | |
| anhören, sondern in ihrem Umfeld auch aktiv werden. Sie werden immer mehr | |
| zu Trägern eines ökologischen Bewusstseins. Wir wollen in die EU. Und das | |
| bedeutet auch, dass wir europäische Umweltstandards übernehmen. | |
| Und es freut mich zu sehen, dass nun immer mehr Gemeinden im Gebiet Charkiw | |
| die Einrichtung öffentlicher Kompostieranlagen beschlossen haben. Es ist | |
| deprimierend, durch Dörfer nördlich von Charkiw zu gehen. Sie sind oftmals | |
| völlig durch den Krieg zerstört. Gleichwohl ist es wichtig, dass das, was | |
| von den Häusern übrig geblieben ist, nicht auf die Deponie kommt. Ziegel | |
| und andere Baumaterialien gilt es wiederzuverwenden, anstatt sie einfach zu | |
| entsorgen. | |
| Wir haben Ziegel und Baumaterial des weitgehend zerstörten Ratsgebäudes des | |
| Dorfs Ruska Lozova gesammelt. Dieses Baumaterial können Familien gut | |
| gebrauchen, die vom Staat keine Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer | |
| Häuser erhalten. Geld bekommt nämlich nur, wer die Eigentumsverhältnisse | |
| nachweisen kann. Und die sind häufig unklar. Anderes Material aus dem | |
| zerstörten Gebäude, wie Metall oder Holz, wurde entweder recycelt oder zum | |
| Heizen verwendet. Wieder anderen Schutt nutzten wir zum Befüllen der durch | |
| Einschläge entstandenen Krater. Zwar lassen sich Fenster, Türen, | |
| Kücheneinrichtungen und Badarmaturen, Fußböden, Möbel und technische Geräte | |
| beim Wiederaufbau manchmal nicht mehr in demselben Haus nutzen. Gleichwohl | |
| haben wir einen Ort, an den derartiges Material gebracht werden kann und wo | |
| sich andere Menschen dann nehmen können, was sie noch irgendwie nutzen | |
| können. | |
| Besonders schwierig ist es mit Türen und Fenstern. Die werden oft auch nach | |
| dem Wiederaufbau erneut durch die Aggression Russlands zerstört, müssen | |
| mitunter mehrfach ausgewechselt werden. Auch über eine Schweizer | |
| Organisation erhalten wir ausrangierte Fenster in gutem Zustand. Schön wäre | |
| es, wenn wir zudem aus EU-Ländern Türen und Fenster, auch gebrauchte, | |
| erhalten würden. | |
| Anna Prokajewa, Leiterin von „Zero Waste Kharkiv“. | |
| (Protokolliert von Bernhard Clasen) | |
| 31 Dec 2024 | |
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