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# taz.de -- Jahresrückblick 2024: Es war nicht alles schlecht
> Kriege, Nazis, Trump: 2024 war hart – aber es gab auch gute Nachrichten:
> Ein versöhnlicher Rückblick mit hoffnungsvollen Botschaften aus aller
> Welt.
Bild: Positive Lehren aus harten Zeiten: Ruanda, hier die Hauptstadt Kigali, ha…
Ruanda: Virus gestoppt
Der Countdown begann am 30. Oktober. Das war der Tag, als in Ruanda der
letzte Fall [1][des gefährlichen Marburg-Virus] im Labor bestätigt wurde.
Laut den Regeln der Internationalen Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird
eine Seuche dann als beendet erklärt, wenn 42 Tage, also zwei
Inkubationsperioden, nachdem der letzte bestätigte positive Fall wieder
negativ ist, kein neuer Infektionsfall mehr bekannt geworden ist. Und
tatsächlich hat das ruandische Gesundheitsministerium am 20. Dezember das
Ende der Seuche erklärt.
Obwohl das Marburg-Virus neben dem verwandten Ebola-Virus eine der
tödlichsten Krankheiten der Welt verursacht, starben beim jüngsten Ausbruch
in Ruanda nur 15 Patienten. Seit dem offiziellen Ausbruch der Seuche am 27.
September wurden landesweit 66 Patienten positiv getestet, darunter vor
allem Ärzte und Pfleger von Krankenhäusern, wo das Virus sich zu Beginn
zunächst unbemerkt verbreitete.
Typische Symptome sind hohes Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen sowie
Übelkeit und Bauchkrämpfe. Ähnlich wie bei Ebola wird das Marburg-Virus
nicht über die Luft oder durch Tröpfcheninfektion, wie bei Corona,
übertragen, sondern lediglich über Körperflüssigkeiten. Allerdings zählt es
mit einer Sterblichkeitsrate von fast 25 Prozent zu einem der tödlichsten
Viruserkrankungen für den Menschen.
Es war der drittgrößte Ausbruch in der Geschichte. Der Ursprung der Virus
liegt im Osten Afrikas. Als Träger des Virus werden Flughunde vermutet,
über die das Virus auch auf Affen oder gar Menschen übertragen werden kann.
In Ruanda hat sich der erste Patient im September in einem Steinbruch
angesteckt.
Das Virus ist benannt nach der hessischen Stadt Marburg. Es kam 1967,
offenbar über infizierte Affen, von Uganda nach Deutschland, wo die
Primaten bei Tierversuchen des Pharmakonzerns Behringwerke, der auf der
Suche nach einem Polio-Impfstoff war, benutzt werden sollten. Innerhalb
weniger Tage starben damals zahlreiche Labormitarbeiter an hohem Fieber.
Ruanda hat in den vergangenen Jahren viele Erfahrungen darin gesammelt, die
Verbreitung von Seuchen zu verhindern. Kurz nach Ende der Coronapandemie
breitete sich im Nachbarland Kongo das Ebolavirus aus. In diesem Jahr
grassieren zudem die Affenpocken in der Region. Ruandas Gesundheitsbehörden
arbeiten seit der Coronapandemie eng mit der WHO zusammen.
„Dieser Ausbruch zeigt, dass mit der besten verfügbaren Behandlung eine
Genesung möglich ist und Beiträge zur Wissenschaft geleistet werden
können“, sagte Sabin Nsanzimana, Ruandas Gesundheitsminister. „Die
Erkenntnisse, die dieser Ausbruch liefert, werden dazu beitragen, künftige
Überwachungsmaßnahmen zu gestalten und künftige Ausbrüche zu verhindern.“
Nach Angaben des ruandischen Gesundheitsministeriums wurden landesweit in
nur kurzer Zeit mehr als 7.400 Tests durchgeführt und über 1.700 Menschen
mit einer Einzeldosis eines Wirkstoffs des in den USA ansässigen Sabin
Vaccine Institute geimpft. So sei es gelungen, die Infektions- sowie
Sterblichkeitsrate weit unter dem globalen Durchschnitt vergangener
Ausbrüche zu halten, lobte auch die WHO.
Simone Schlindwein, Kampala
Japan: Neues Jahr, neues Eheglück?
Japan ist das einzige Mitglied der G7-Nationengruppe, das
gleichgeschlechtliche Ehen noch nicht zulässt. Doch dieses Jahr markiert
einen Wendepunkt: Mehrere wichtige Gerichtsurteile haben bewirkt, dass der
Druck auf die Politik wächst, die Gesetzeslage zu liberalisieren. Im April
waren bei der Rainbow-Pride-Parade in Tokio 15.000 Menschen mit
Regenbogenfahnen durch den Bezirk Shibuya gezogen und hatten damit auch
gefeiert, dass es neuen Anlass zur Hoffnung auf mehr Anerkennung und
Gleichberechtigung für die japanische LGBTQ+-Community gibt. Denn kurz
zuvor hatte das oberste Gericht von Sapporo das Verbot der
gleichgeschlechtlichen Ehe für verfassungswidrig erklärt.
Dieses erste Urteil eines obersten Regionalgerichts zog im Jahresverlauf
zwei ähnliche Entscheidungen der obersten Gerichte in Nagoya und Fukuoka
nach sich. Zwar scheiterten alle Klägerinnen und Kläger mit ihrer Forderung
nach einer Entschädigung von symbolischen rund 6.000 Euro. Doch sie
verfolgen gezielt diesen Weg, um in Berufung zu gehen und diese Frage vor
das nationale Oberste Gericht zu bringen. Dort müsste die letzte Instanz
dann eine endgültige Entscheidung treffen und im Erfolgsfall die Politik
zum Handeln zwingen.
Im Dezember urteilte das oberste Gericht von Fukuoka ausdrücklich, dass
zivilrechtliche Bestimmungen, die gleichgeschlechtliche Ehen verbieten,
gegen Artikel 13 der Verfassung verstoßen. Dieser Artikel garantiert das
Recht auf Streben nach Glück. Zudem verletze das Verbot die Gleichheit vor
dem Gesetz und die Würde des Einzelnen. „Es gibt keinen Grund mehr, die Ehe
zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren nicht rechtlich anzuerkennen“,
erklärte der Vorsitzende Richter Takeshi Okada.
Nach dem Urteil hielten vier Kläger vor dem Gericht ein Schild mit der
Frage hoch, warum das Parlament die gleichgeschlechtliche Ehe noch nicht
legalisiert hat. Der 35-jährige Kläger Kosuke sagte, das Urteil „verändere
die gesellschaftliche Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe“. Er habe
nicht aufhören können zu weinen, als der Richter das Urteil vorlas. Sein
37-jähriger Partner Masahiro sagte, das Urteil „habe unser Leid verstanden,
ich fühlte mich sehr beruhigt“.
Im März entschied das Oberste Gericht der Inselnation zudem, dass
gleichgeschlechtlichen Paaren gesetzliche Hinterbliebenenleistungen
zustehen. Ein Mann, der rund 20 Jahre mit einem Partner zusammenlebte,
klagte nach dessen Ermordung auf Opferentschädigung. Erst in letzter
Instanz entschied die Justiz zugunsten des Klägers. Das
Entschädigungsgesetz soll die Folgen des Todes eines geliebten Menschen
mildern, hieß es in der Entscheidung. Dabei „macht es keinen Unterschied,
ob die Person, die mit dem Opfer zusammenlebte, das andere oder das gleiche
Geschlecht hatte“.
Laut dem Verband der Rechtsanwaltskammern gibt es in über 200 japanischen
Gesetzen und Verordnungen Bestimmungen, die Lebenspartner nach dem
Gewohnheitsrecht wie rechtmäßige Ehepartner behandeln. Die Gleichheit der
Partnerschaft sei jedoch nicht ausreichend, kommentierte die liberale
Zeitung Mainichi das Urteil. Vielmehr sollte in Japan die
gleichgeschlechtliche Ehe rechtlich umfassend anerkannt werden.
Das neue Jahr könnte einen Durchbruch bringen. Die hohen Stimmenverluste
der Regierungspartei LDP bei der Parlamentswahl Ende Oktober haben die
erzkonservativen Blockierer geschwächt. Erstmals gäbe es eine
parteiübergreifende Mehrheit im Parlament für die Legalisierung der
gleichgeschlechtlichen Ehe. „Das würde die Nation glücklicher machen“,
meinte auch Premier Shigeru Ishiba. Wegen seiner schwachen Position in der
LDP will er weitere gerichtliche Entscheidungen abwarten. Doch sein kleiner
Koalitionspartner, die Komei-Partei, drängt auf eine gesetzliche Initiative
im Parlament.
Martin Fritz, Tokio
Norwegen: Tiefseebergbau wackelt
Vor Gericht in Oslo verhandelte man gerade eine Klage des WWF gegen die
norwegischen Tiefseebergbaupläne, als auf anderem Wege plötzlich Fakten
geschaffen wurden. Das Leben am Meeresboden zwischen Grönland, Norwegen und
Spitzbergen bleibt vorerst ungestört, denn die Minderheitsregierung hat
zähneknirschend die für kommendes Jahr geplante Lizenzvergabe an
Bergbauunternehmen auf Eis gelegt. Wie? Was?
Kurzer Rückblick: Der WWF ist nicht der einzige Player in Norwegen, der
sich gegen das Vorhaben der Regierung engagiert. Aber trotz der Proteste
etwa von Naturschutzorganisationen, Forschungseinrichtungen und Behörden
trieb Oslo die Pläne in diesem Jahr immer weiter voran.
„Wir verstehen das Verhalten der Regierung selbst nicht“, hatte Karoline
Andaur, Vorständin von WWF Norwegen, vor der Gerichtsverhandlung gesagt.
Die augenscheinliche Eile bei der Lizenzvergabe war das zentrale Argument
der Klage – der WWF ist überzeugt, dass die Regierung die
Umweltverträglichkeitsprüfung nicht vorschriftsgemäß durchgeführt hat.
Dass über die Ökosysteme am Meeresgrund noch viel zu wenig bekannt ist,
darin sind sich die vielen Kritiker einig. Empfindliche Strukturen könnten
unwiederbringlich verloren gehen, wenn Menschen dort unten auf der Jagd
nach Mangan herumfuhrwerken. „Wir brauchen die seltenen Minerale, Europa
muss sich unabhängig machen“, lautet aber die unverdrossene Parole der
norwegischen Minderheitsregierung aus sozialdemokratischer Arbeiterpartei
und Zentrumspartei.
Stichwort Minderheitsregierung: Als solche ist man nun einmal gelegentlich
auf die Unterstützung weiterer politischer Akteure angewiesen, zum Beispiel
beim Beschließen des Staatshaushalts. In Norwegen verhandeln die
Regierungsparteien dazu mit der Sozialistischen Linkspartei (SV). Und die
kam mit einem für viele unerwarteten Verhandlungsgeschick um die Ecke.
SV-Vorsitzende Kirsti Bergstø verkündete Anfang Dezember schließlich stolz,
welche Anliegen ihre Partei durchgesetzt hat. Und siehe da: Ungeduldig
wartende Bergbaukonzerne können sich den Lizenzerwerb vorerst abschminken,
zumindest für das kommende Jahr 2025.
Ministerpräsident Jonas Gahr Støre (Arbeiterpartei) räumte als guter
Demokrat zähneknirschend ein, dass er aktuell keine andere Wahl hat: „Das
ist ein Aufschub, den wir akzeptieren müssen.“
Dass durch diesen Aufschub zugleich etwas in Bewegung gerät, hofft wiederum
Karoline Andaur: Sie nannte es gegenüber der taz „eine Pause, die der
Regierung Zeit zum Umdenken gibt“.
Die WWF-Klage wurde derweil zu Ende verhandelt. Zu welchem Schluss das
Gericht kommt, will es Mitte Januar bekannt geben. Dann könnte sich zeigen,
ob aus der Pause am Ende noch das endgültige Aus für den Tiefseebergbau
wird.
Anne Diekhoff, Västernorrland
England: Gute Drohnen
Vom obersten Stockwerk eines benachbarten Parkhauses sieht man es am
besten: Ein leichtes Surren mischt sich in das Gurren der Tauben und dann
hebt vom Dach des Krebszentrums im Guy’s Hospital in der Londoner
Innenstadt ein kleiner, weißer, wie ein H geformter Flugkörper ab und
fliegt schnurstracks und relativ schnell in Richtung Westen. Dann
verschwindet das H vor dem Hintergrund des großen Victoria Towers des
britischen Parlaments und des Londoner Riesenrads.
Das Flugobjekt ist eine spezielle Drohne, deren Ziel das Dach des zwei
Kilometer Fluglinie entfernten St. Thomas Hospital ist. Dort senkt sich die
Drohne etwas und ein Krankenhausangestellter entnimmt einer Tasche, die mit
einem Seil von der Drohne heruntergelassen wurde, einen Stahlbehälter mit
zahlreichen Blutproben, die hier in einem Speziallabor untersucht werden
sollen.
Nach der Abgabe fliegt die Drohne sofort wieder zurück und landet, es sind
seit dem Start kaum fünf Minuten vergangen, wieder auf dem Dach des
Krebszentrums. Dass da über den Dächern eine mit Blut beladene kleine
Drohne durch die Lüfte flog, hat von unten niemand bemerkt.
Je nach Bedarf und bis zu zehnmal am Tag fliegen seit Mitte November Flüge
mit Blutproben zwischen den beiden Krankenhäusern hin und her, mit
Sondererlaubnis der britischen Luftfahrtbehörde. Die Beförderung der Proben
auf diese Art spart wertvolle Zeit, denn bisher wurden sie per Motorrad
oder Pkw befördert, was an schlechten Tagen im Londoner Innenstadtverkehr
hin und zurück fast eine Stunde dauern kann.
Das britische Gesundheitssystem NHS glaubt, dass nach dem Ablauf einer
sechsmonatigen Probezeit dieses System auch andere medizinische Gegenstände
und Proben transportieren kann, und man fühlt sich etwas erinnert an die
fiktionale Gestalt Mary Poppins, die ebenfalls über den Dächern Londons
unterwegs ist, allerdings mit einem altmodischen Regenschirm. Der Einsatz
der Drohnen soll womöglich auch über London hinaus ausgeweitet werden.
Der derzeitige Einsatz folgte bereits anderen Probeläufen in Dublin und in
englischen ländlichen Regionen. So werde auch weniger Schadstoff und
Energie verbraucht, erklärt die Krankenhausverwaltung. Hin und wieder wird
man jedoch dennoch auf alte Methoden zurückgreifen müssen, denn bei sehr
starkem Wind könnten die Drohnen nicht eingesetzt werden.
Die Botschaft sei auch, dass Drohnen hier mal „für Gutes eingesetzt
werden“, sagte Alec Jackson ein Projektleiter des Unternehmens Apian, die
das Drohnenprojekt mit unterstützen.
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, London
Deutschland: Grundrechte bleiben
Vor rund einem Jahr machte die Correctiv-Recherche deutlich, wie akzeptabel
in rechtsextremistischen Kreisen (inklusive AfD) das Konzept der
„Remigration“ ist. Auch „nicht assimilierte Eingebürgerte“ sollen aus …
Land gedrängt werden. Darauf hat die deutsche Zivilgesellschaft, von links
bis konservativ, mit großen Demonstrationen reagiert und deutlich gemacht,
dass sie solche im Kern rassistischen Konzepte von Staatsbürgerschaft
ablehnt. Das war die richtige Reaktion, auch als Selbstvergewisserung der
freiheitlich-demokratischen Mehrheit.
In der Folge unterzeichneten jedoch auch 1,7 Millionen Menschen eine
Petition, die dem Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke Grundrechte wie
die Meinungsfreiheit und die Möglichkeit zu kandidieren entziehen wollte.
Zum Glück hat keine etablierte politische Partei diese Position übernommen.
Feinde der Demokratie bekämpft man nicht, indem man ihnen die Grundrechte
entzieht. Die entsprechende Grundgesetz-Vorschrift Artikel 18, die
offensichtlich davon ausgeht, Grundrechte seien eine Gegenleistung für
Wohlverhalten, ist historisch überholt.
Der Versuch, ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD einzuleiten, war
etwas erfolgreicher. Immerhin 113 von 733 Abgeordneten unterzeichneten eine
entsprechende Initiative. Vor allem die Grünen bestätigten hier ihr Image
als gängelnde Verbotspartei. Zum Glück ist der Rückhalt für ein
Verbotsverfahren in den großen Fraktionen, also bei SPD und CDU/CSU, recht
gering.
Dass auch Parteien, die die AfD inhaltlich bekämpfen, die Verbotsinitiative
mehrheitlich ablehnen, macht Mut. Man kann nicht Vielfalt und Pluralismus
propagieren, aber – je nach Bundesland – bis zu einem Drittel der
Wähler:innen davon ausnehmen. Demokratie heißt, Wahlergebnisse auch dann
zu akzeptieren, wenn sie weh tun.
So handhaben es auch fast alle anderen westlich orientierten Demokratien.
Es wäre also ein deutscher Sonderweg, eine große oppositionelle
Rechtsaußen-Partei einfach zu verbieten.
Die Demokratie ist ein Wert an sich. Wer sie vorschnell zur Disposition
stellt, wertet sie ab und schadet damit langfristig der Demokratie. Es war
daher eine der guten Nachrichten des Jahres 2024, dass ein
Parteiverbotsverfahren im Bundestag keine Chance hatte.
Christian Rath, Freiburg
Kolumbien: Erfolg gegen Kinderehen
„Meine Mutter war 15, als sie mich zur Welt brachte – mein Vater war 63.“
Was die indigene Senatorin Martha Peralta (MAIS) in einer Parlamentsdebatte
schildert, ist kein Einzelfall in Kolumbien. Doch damit soll in Zukunft
Schluss sein. Seit 1887 erlaubt das Gesetz die Ehe ab dem 14. Lebensjahr,
wenn die Eltern zustimmen. Seit fast 20 Jahren gibt es Versuche, die
Regelung zu ändern. Im November klappte es im zehnten Anlauf schließlich –
am Ende einstimmig, über alle Parteigrenzen hinweg. Heiraten ist künftig
erst mit 18 Jahren möglich.
Das soll vor allem Mädchen schützen. Denn sie betrifft die Kinderehe in den
meisten Fällen. #SonNiñasNoEsposas – Sie sind Mädchen, keine Ehefrauen –
hieß die Kampagne gegen die Kinderehe daher. Laut dem Zensus von 2018 waren
15 Prozent der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren und 1,8 Prozent der
Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren verheiratet – vor allem in indigenen und
afrokolumbianischen Gemeinden, aber nicht nur. Die Dunkelziffer dürfte
höher liegen.
Es trifft vor allem Mädchen auf dem Land aus armen Familien. In den meisten
Fällen heiraten sie einen Mann, der mindestens 20 Jahre älter ist. Über die
Hälfte wurde gegen ihren Willen von ihren Eltern verheiratet, belegen
weitere Untersuchungen. Daten zeigen, dass die minderjährigen Ehefrauen in
hohem Maße sexuelle Gewalt erleben.
Und die Gewaltspirale dreht sich weiter: Von den jugendlichen Straftätern
zwischen 14 und 18 Jahren sind 89 Prozent Kinder von Teenagermüttern.
„Kinder, die Kinder aufziehen müssen“, sagt Alejandro Ruiz der taz. Der
Jurist arbeitet beim kolumbianischen Ableger von SOS-Kinderdorf und hat den
Gesetzestext entworfen. Damit es in Kraft tritt, fehlt noch die
Unterschrift von Präsident Gustavo Petro.
Noch nie wurde das Thema so breit und offen im Parlament debattiert – und
so ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht, sagen Kinderschützer:innen.
Laut Anwalt Ruiz vom kolumbianischen SOS-Kinderdorf ist eine breite
Kampagne nötig, um das Gesetz in der ganzen Gesellschaft, bei
Institutionen, Kindern und Eltern bekannt zu machen.
Doch es ist nur ein erster Schritt, betont auch Thiago Hernández. „Es geht
um einen Kulturwandel.“ Hernández arbeitet bei der Stiftung Plan, dem
kolumbianischen Ableger von Plan International, die den Prozess eng
begleitet hat. Geschlechterstereotypen müssten sich ändern.
Hernández warnt davor, die Diskussion auf indigene Gemeinschaften zu
beschränken und diese so zu stigmatisieren. Das Problem sei viel größer.
Indigene Mädchen und Frauen hätten sich längst in ihren Gemeinschaften
gegen die frühen Ehen mobilisiert. Auch die indigene Senatorin Martha
Peralta betonte das im Parlament. Und machte Hoffnung auf Wandel: Indigene
Kulturen seien „niemals statisch und immer dynamisch“ gewesen.
Katharina Wojczenko, Bogotá
Belgien: Sühne für Kongo-Verbrechen
Fünf Frauen aus der Demokratischen Republik Kongo, Töchter weißer
belgischer Väter und schwarzer kongolesischer Mütter und alle heute über 70
Jahre alt, erzielten am 2. Dezember einen historischen Erfolg vor Gericht
in der früheren Kolonialmacht Belgien. In der Zeit zwischen 1946 und 1950
waren die „Mischlinge“ im Alter zwischen zwei und vier Jahren von den
belgischen Behörden in der Kongokolonie ihren Müttern weggenommen und in
katholische Waisenhäuser zwangsverbracht worden. Dort wurden sie
misshandelt und schließlich 1961 nach Ende der Kolonialherrschaft schutzlos
in den Händen lokaler Militärangehöriger zurückgelassen.
Simone Ngalula, Monique Bitu Bingi, Lea Tavares Mujinga, Noelle Verbeeken
und Marie-Jose Loshi verklagten den belgischen Staat, aber im September
2021 verloren sie in erster Instanz. Jetzt wertete das Berufungsgericht in
Brüssel ihre „Entführung“ als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ u…
sprach ihnen Entschädigungen zu.
Die Kinder wurden von der Gesellschaft getrennt, weil die Existenz von
„Mischlingen“ als Gefahr für die Kolonie gewertet wurde, sagte Anwältin
Michèle Hirsch: Es handele sich um eine „Politik der Rassensegregation und
der kolonialstaatlichen Entführungen“ und um einen „Identitätsdiebstahl�…
Kolonialarchive belegen, dass es sich um eine organisierte staatliche
Praxis handelte. Die Kinder wurden ihren Müttern weggenommen, mit Gewalt
und Drohungen, und als elternlos definiert. Ihre weißen Väter hatten die
Vaterschaft nicht anerkannt.
Erst in den 1980er Jahren entdeckte Monique Bitu Bingi in alten Dokumenten
Nachweise ihrer Herkunft; eine alte Nonne aus ihrem früheren Kinderheim
hatte ihr einen Schlüssel zu ihren Archiven gegeben. Sie teilte ihre
Entdeckungen mit ihren vier Leidensgenossinnen. 2014 entstand daraus ein
Buch, das eine öffentliche Debatte anstieß. 2019 sprach Belgiens damaliger
Premierminister Charles Michel eine Entschuldigung des belgischen Staates
aus, aber Reparationen schloss die Regierung aus. Ebenso wurde die
Einstufung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zurückgewiesen, da
dieser Straftatbestand erst seit 1999 im belgischen Recht existiere.
Das sieht das Gericht in Brüssel nun anders. „Verbrechen gegen die
Menschlichkeit“ seien als solche im Völkerstrafrecht seit den Nürnberger
Kriegsverbrechertribunalen von 1946 anerkannt und damit gelte das auch für
die vorliegenden Taten aus dem Zeitraum von 1948 bis 1961. „Ein
historisches Urteil“, sagt Klägeranwältin Hirsch. „Zum ersten Mal in Euro…
hat ein Gericht den ehemaligen Kolonialstaat wegen Verbrechen gegen die
Menschlichkeit schuldig gesprochen.“
Das Urteil könnte einen Präzedenzfall darstellen. 15.000 bis 20.000
„Mischlingskinder“ sollen die belgischen Kolonialbehörden auf diese Weise
im Kongo ihren afrikanischen Müttern weggenommen haben. François Misser,
Brüssel
Ukraine: Umweltschutz im Krieg
Das Leben in Frontnähe – ich höre oft das dumpfe Grollen von Explosionen –
ist nicht vergleichbar mit dem Leben in dem relativ ruhigen Kyjiw oder der
Westukraine. Gleichwohl ist es erschreckend und beruhigend zugleich, dass
man sich an alles gewöhnen kann. Wenn ich jetzt an 2024 zurückdenke, dann
gibt es nämlich auch Dinge, über die ich mich freue. Etwa, wie unsere
Gruppe „Zero Waste Kharkiv“ sich entwickelt, qualitativ und quantitativ.
Unser Ziel ist es, Mülldeponien kleiner und kleiner werden zu lassen. Denn
Deponien sind gefährlich. In ihnen bildet sich Methangas. Und wenn eine
Rakete in eine Deponie einschlägt, gibt es eine gefährliche Explosion.
Ich freue mich auch, wenn ich bei unseren Vorträgen in Schulen und
Jugendzentren sehe, wie begeistert die Jugendlichen sich unsere
Informationen über das Trennen von Wertstoffen und Recycling nicht nur
anhören, sondern in ihrem Umfeld auch aktiv werden. Sie werden immer mehr
zu Trägern eines ökologischen Bewusstseins. Wir wollen in die EU. Und das
bedeutet auch, dass wir europäische Umweltstandards übernehmen.
Und es freut mich zu sehen, dass nun immer mehr Gemeinden im Gebiet Charkiw
die Einrichtung öffentlicher Kompostieranlagen beschlossen haben. Es ist
deprimierend, durch Dörfer nördlich von Charkiw zu gehen. Sie sind oftmals
völlig durch den Krieg zerstört. Gleichwohl ist es wichtig, dass das, was
von den Häusern übrig geblieben ist, nicht auf die Deponie kommt. Ziegel
und andere Baumaterialien gilt es wiederzuverwenden, anstatt sie einfach zu
entsorgen.
Wir haben Ziegel und Baumaterial des weitgehend zerstörten Ratsgebäudes des
Dorfs Ruska Lozova gesammelt. Dieses Baumaterial können Familien gut
gebrauchen, die vom Staat keine Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer
Häuser erhalten. Geld bekommt nämlich nur, wer die Eigentumsverhältnisse
nachweisen kann. Und die sind häufig unklar. Anderes Material aus dem
zerstörten Gebäude, wie Metall oder Holz, wurde entweder recycelt oder zum
Heizen verwendet. Wieder anderen Schutt nutzten wir zum Befüllen der durch
Einschläge entstandenen Krater. Zwar lassen sich Fenster, Türen,
Kücheneinrichtungen und Badarmaturen, Fußböden, Möbel und technische Geräte
beim Wiederaufbau manchmal nicht mehr in demselben Haus nutzen. Gleichwohl
haben wir einen Ort, an den derartiges Material gebracht werden kann und wo
sich andere Menschen dann nehmen können, was sie noch irgendwie nutzen
können.
Besonders schwierig ist es mit Türen und Fenstern. Die werden oft auch nach
dem Wiederaufbau erneut durch die Aggression Russlands zerstört, müssen
mitunter mehrfach ausgewechselt werden. Auch über eine Schweizer
Organisation erhalten wir ausrangierte Fenster in gutem Zustand. Schön wäre
es, wenn wir zudem aus EU-Ländern Türen und Fenster, auch gebrauchte,
erhalten würden.
Anna Prokajewa, Leiterin von „Zero Waste Kharkiv“.
(Protokolliert von Bernhard Clasen)
31 Dec 2024
## LINKS
[1] /Virenausbruch-in-Ruanda/!6036870
## AUTOREN
Simone Schlindwein
Martin Fritz
Anne Diekhoff
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
Christian Rath
Katharina Wojczenko
François Misser
Anna Prokajewa
Bernhard Clasen
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