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# taz.de -- Jahreswechsel als Zeitenwende: Die Zeit zwischen den Jahren
> Grauzone, Niemandsland, Fantasie und Erinnerung: Über die Bedeutung der
> Zwischenzeit, die dem Warten gehört und den wilden Jagden.
Bild: Zwischenzeiten sind Pausen, Zeiten des Wartens
Binäre Distinktionen sind tückisch. Aus ihrer Logik ergibt sich ein
Paradox: Je strenger die Opposition formiert wird, desto leichter zwingt
sie zur Teilhabe am Ausgeschlossenen. Im Zeichen des radikal Guten werden
böse Taten begangen; gerade die besten Freunde können zu schlimmsten
Feinden mutieren. Die gegensätzlichsten politischen Positionen können eine
Art von Allianz bilden: So wird gegenwärtig ein Bündnis zwischen rechten
und linken Populisten nicht nur in der italienischen Regierung, sondern
auch auf Pariser Straßen praktiziert.
Oder denken wir an die ungezählten Mauern, die seit mehr als zehntausend
Jahren errichtet wurden: Sie wurden gern als Doppelmauern geplant und
aufgebaut, um nicht einmal die Grenzen mit etwaigen Eindringlingen teilen
zu müssen. Aber die Trennung der Funktionen des Inklusiven und Exklusiven
führt regelmäßig zur Entstehung eines Dazwischen, das im Falle der
Doppelmauern als Niemandsland bezeichnet wird, in Ethik und Politik dagegen
als Grauzone oder alternativloser Sachzwang.
Was Räume und Territorien betrifft, gilt auch für die Zeit. Wir kennen
Zwischenzeiten wie die Zwischenkriegszeit zwischen 1918 und 1939, aber
auch Zeiten zwischen verschiedenen Regierungen wie das Interregnum nach der
Absetzung Kaiser Friedrichs II. durch Papst Innozenz IV. (1245) und der
Wahl Rudolfs I. (1273); heute erleben wir solche politischen Zwischenzeiten
während schwieriger Phasen der Koalitionsbildung nach einer Wahl.
Zwischenzeiten, „Niemandszeiten“, sind auch Pausen und Zeiten des Wartens.
Wir warten nicht gern, doch wer wartet, kann sein Warten mit eigenen
Inhalten füllen, womöglich gar mit einer Art von Zuneigung zur
verstreichenden Zeit. Die Prozesse kultureller Anreicherung des Wartens,
die zunehmend bewussten Wahrnehmungen von Zwischenzeiten, Verzögerungen,
Unterbrechungen und Pausen begünstigen die Übung elementarer Kompetenzen:
etwa die Fähigkeit, Vergangenes zu analysieren und zu reflektieren, aber
auch die Fähigkeit, das Bevorstehende, Herannahende vorwegzunehmen und zu
planen.
## Der Pflock des Augenblicks
Perspektivwechsel und Beratungen bremsen den Tatendrang, schieben sich
zwischen Situationen und Entscheidungen, zwischen Ereignisse und
Reaktionen. Während viele Umstände routiniert – ohne Zwang zur Reflexion –
bewältigt werden können, offenbart sich das mögliche Glück oder Unglück
einer konkreten Lage erst in den polymorphen Verzögerungen der Schritte von
einer Herausforderung zur Handlung. Die aktuelle Frage lautet dann
schlicht: Was tun?
Diese Frage kostet Zeit und bringt doch zugleich Zeit hervor. Während die
Tiere – nach Nietzsches viel zitiertem Wort – an den „Pflock des
Augenblicks“ gebunden sind, können Menschen warten, anders gesagt: Sie
können entwerfen, experimentieren, ausprobieren, Risiken abschätzen oder
Trends berechnen. Menschen sind Experten des Aufschubs, was uns – etwa bei
Klimakonferenzen – auch zur Verzweiflung treiben kann.
In „Masse und Macht“ betont Elias Canetti die Bedeutung der Chronologie und
der Zeitrechnung für das Selbstverständnis von Kulturen; er konstatiert:
„Nach Ordnungen der Zeit lassen sich Zivilisationen noch am ehesten
umgrenzen. Ihre Bewährung besteht in der Dauer ihrer geregelten
Überlieferung. Sie zerfallen, wenn niemand diese weiterführt. Ihre
Zivilisation ist zu Ende, wenn es ihr mit ihrer Zeitrechnung nicht mehr
ernst ist.“ Doch ist es eben gar nicht so leicht, die Zeitrechnung ernst zu
nehmen! Unterbrechungen und Zwischenzeiten – von der Geschichtswissenschaft
oft als dark ages, dunkle Zeitalter, apostrophiert – fallen gleichsam aus
dem Rhythmus geordneter Annalen heraus. Solche „dunklen Zeitalter“
entspringen einem Fehler oder dem schlichten Mangel an schriftlichen
Aufzeichnungen.
## Von Himmelskörpern und Sonnengöttern
Dabei ist die Zeitrechnung viel älter als die Erfindung der Schrift. Vor
Jahrtausenden wurde Zeit als himmlische Zeit beobachtet und gemessen: als
Zyklus der Bewegungen von Himmelskörpern, als Rhythmus der kosmischen
Natur; erst viel später wurde sie in chronologische Register eingetragen.
Zeit kann mit Hilfe himmlischer oder irdischer Maschinen berechnet werden.
Als Himmelsmaschine diente beispielsweise in der griechischen Antike der
„Schattenstab“, der Gnomon, – ein Vorläufer der Sonnenuhr – oder das
Planetarium im „Goldenen Haus“ des römischen Kaisers Nero.
Irdische Maschinen zur Zeitberechnung beruhen dagegen auf den
mathematischen Kalkulationen einer Kalenderrechnung, auf den dynastischen
Listen von Herrschergeschlechtern oder auf den mechanischen Konstruktionen
einer Uhr. Irdische Zeitmaschinen funktionieren unabhängig von den Zyklen
der Gestirne; und sie dominieren das zeitgenössische Bewusstsein. Wer
blickt heute noch zum Himmel, um die Tageszeit zu bestimmen? Und wer
beobachtet noch den Aufgang der Sternbilder, um die Jahreszeiten oder den
Zeitpunkt der Tagundnachtgleichen möglichst exakt zu schätzen?
Doch gerade die aktuelle „Zwischenzeit“, die das alte vom neuen Jahr
trennt, und die wir gewöhnlich mit dem Ausdruck [1][„zwischen den Jahren“]
bezeichnen, führt zu den Himmelskörpern zurück. Erinnern wir uns an die
Vorgeschichte. Nach Kaiser Aurelians Eroberung der Stadt Palmyra – im Jahr
272 – ordnete der Imperator an, künftig den 25. Dezember, Tag der
Wintersonnenwende im alten Rom, als Geburtstag des unbesiegbaren
Sonnengottes Sol Invictus zu feiern.
## Sonne schlägt Mond
Mit dieser Entscheidung verlieh Aurelian dem wichtigsten Festtag des
Mithraskults, der sich gerade unter den Legionen hoher Popularität
erfreute, eine staatspolitische Basis, die jedoch kaum länger als vierzig
Jahre tragfähig blieb, genau gesagt: bis zum Mailänder Edikt von 313 und
zur sogenannten konstantinischen Wende. Im Jahr 325 berief Kaiser
Konstantin das Konzil von Nicäa ein, das – neben vielen drängenden Fragen �…
auch das christliche Kirchenjahr festlegte.
Dabei erhielt die Sonne den Vorzug vor dem Mond: Weihnachten wurde auf den
25. Dezember gelegt, und nur die Berechnung des Ostertermins sollte auch
den Mondstand einbeziehen, gemäß der bekannten und erst von Carl Friedrich
Gauß in eine Formel transformierten Regel, Ostern solle am ersten Sonntag
nach dem ersten Vollmond nach dem Frühjahrsäquinoktium gefeiert werden.
Bis zum 4. Jahrhundert hatten die christlichen Gemeinden gar kein
Geburtsfest Christi gefeiert, und schon gar nicht am Tag der
Wintersonnenwende; Origenes hatte sogar ausdrücklich den Brauch der Heiden
verspottet, den dies natalis ihrer Gottheiten zu begehen. Allenfalls wurde
eine Art von „Tauffest“ Christi – am 6. Januar – zelebriert, gleichsam …
der impliziten Maxime, Wasser sei dicker als Blut.
## Bedrohliche Gegenwelt
Blut (Geburt) oder Wasser (Taufe), Sonne oder Mond: Nicht umsonst
entspricht die Frist vom 25. Dezember bis zum 6. Januar ziemlich exakt der
Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr. Binäre Distinktionen sind
tückisch. Und folglich bildete die Zeit zwischen Weihnachten und Epiphanie
eine besonders markante „Zwischenzeit“: die Zeit der Raunächte, in der die
Wilde Jagd durch Dörfer und Wälder zu toben pflegte.
In dieser Zeit wurde eine bedrohliche Gegenwelt errichtet, eine „verkehrte
Welt“, in der – wie in den altrömischen Saturnalien – ein verlorenes Rei…
allgemeiner Freiheit errichtet wurde: eine Welt, in der die Herren ihre
Sklaven bedienen mussten, in der die Toten die Lebenden heimsuchten und in
der die Kinder über die Alten herrschen durften. Anarchische
Zwischenzeiten: Die Saturnalien folgten den älteren Neujahrsfesten der
altorientalischen Hochkulturen; auch deren Jahresfeste ermöglichten
kollektive Erfahrungen von Chaos und utopischem Ursprung, von Erneuerung
und Befreiung, von Weltuntergang und Neuschöpfung.
Sie repräsentierten den Jahreswechsel als Zeitenwende schlechthin, wie
eine rituelle Erinnerung an das „goldene Zeitalter“ Ovids, das von Saturn
regiert wurde. Damals, so erzählen die Mythen, lebten die Menschen in
Sicherheit und Überfluss, friedlich, doch ohne Herren, Recht und Gesetz.
Sollen wir eine solche Welt nicht manchmal – zwischen den Zeiten, zwischen
den Jahren – erträumen?
30 Dec 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Macho
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