# taz.de -- Ausstellung „Heimaten“ in Hamburg: Im Plural beheimatet | |
> Das Museum für Kunst und Gewerbe möchte zeigen, was Menschen mit dem | |
> Begriff „Heimat“ verbinden und hat dafür eine Mitmach-Ausstellung | |
> konzipiert. | |
Bild: Auch so eine Heimat: Wer als Erwachsener Sandmännchen schaut, denkt dabe… | |
Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören? An Nazi-Ideologie? An | |
Traditionen? An Ihr jetziges Zuhause? Oder an ein Zuhause, das Sie hinter | |
sich gelassen haben? Ist Ihre Heimat ein Ort? Oder ist Ihre Heimat vielmehr | |
eine Gemeinschaft? | |
Klar ist: Was Heimat ist, lässt sich nicht ein für allemal und für alle | |
klären. Eine allgemeingültige Definition gibt es nicht. Das ist der | |
Ansatzpunkt der Ausstellung „Heimaten“ im Hamburger Museum für Kunst und | |
Gewerbe. Der Ausstellungstitel steht bewusst im Plural. Denn Kuratorin | |
Amelie Klein will neue Perspektiven auf das Verständnis von Heimat eröffnen | |
und die Ausstellung für die Vielfältigkeit dessen offenhalten, was | |
[1][Menschen mit dem Begriff verbinden]. | |
So ist die Ausstellung zugleich eine Umfrage. Während des Rundgangs durch | |
Plakatwälder, vorbei an historischen Trachten, internationalen Reisepässen | |
und Installationen stoßen die Besucher:innen auf insgesamt sieben große | |
Fragen, an die sich wiederum jeweils eine Reihe von Fragen anschließen. Zum | |
Beispiel: Ist Ihre Heimat ein Grund zur Sorge? Über ein lokales Netzwerk | |
können die Besucher:innen Antworten geben, die Sekunden später an den | |
Wänden des langgestreckten Ausstellungsraumes erscheinen. | |
In weißen Lettern steht da etwa: „Heimat finde ich mit meinen Freundinnen, | |
in meiner kleinen Wohnung und beim Spazieren mit meiner alten Hündin Caro. | |
Helga, 63, aus Hamburg.“ Die Ausstellung ist partizipativ, so entsteht das | |
ungewöhnliche Gefühl, die anderen Ausstellungsbesucher:innen | |
persönlich kennenzulernen. Ist Helga diese Frau, die vor der | |
Sandmännchen-Figur steht? Oder jene vor der Brexit-Plakatwand? Die | |
Besucher:innen erzählen von ihren Familien, von ihrem Herkunftsort, | |
ihren neuen Heimaten und von ihren Sorgen. | |
Im Raum zwischen den leuchtenden Antworten an den Wänden sind die Exponate | |
der Ausstellung auf runden Podesten platziert. Wege aus weißen Quadraten | |
gruppieren sie anhand der sieben großen Fragen zueinander. | |
„Ist Zuhause auch dann Heimat, wenn niemand da ist?“ Das Video auf dem | |
Bildschirm hinter dieser Frage zeigt Hausfassaden. Große Wohnkomplexe, | |
leblose Fenster, leere Balkons. Die Kamera tastet langsam die Fassaden ab. | |
Historische Architektur mischt sich mit moderner. In der nächsten | |
Einstellung stehen Menschen auf den Balkonen. Sie lehnen am Geländer, | |
sprechen mit ihren Nachbar:innen nebenan, winken nach unten. | |
Die Bilder stammen aus dem ersten Lockdown 2020 in Italien. Zwei Monate | |
lang herrschten strenge Ausgangsbeschränkungen. Das Zuhause, die Heimat, | |
wurde zum Dreh- und Angelpunkt des Alltags. Niccolò Natali und Nikola | |
Lorenzin haben in „Messages from Quarantine“ die spezielle Stimmung | |
eingefangen und ihre Aufnahmen mit Stimmen aus dem Off hinterlegt. Väter, | |
Nachbarn, Mütter lesen Whatsapp-Nachrichten vor. Sie erzählen von ihren | |
Sorgen, ihren Ängsten und ihren Sehnsüchten. | |
Im vorderen Teil des Ausstellungsraumes kracht währenddessen ein | |
auseinanderbrechender Baumstamm auf den Waldboden. Die Videoinstallation | |
„Silberwald“ von Christoph Giradet zeigt mit drei parallel laufenden | |
Projektionen Szenen aus Heimatfilmen. Die Nebeneinanderstellung der Bilder | |
führt geschickt vor Augen, wie im Genre die immer gleichen Szenenbilder | |
wiederholt und damit eingeübt werden: Berggipfel in der Sonne, ein scheues | |
Reh, ein Jäger, der auf das Reh zielt, ein Liebespaar, das vor einem | |
aufziehenden Gewitter flieht. Der Heimatfilm wird zum komödienhaften | |
Plakativ. | |
Dazwischen sind vom Dirndl über das Sandmännchen und Wohnungsgrundrisse | |
syrischer Geflüchteter bis zur Liedersammlung „Songs of Gastarbeiter“ und | |
St.-Pauli-Trikots verschiedenste mit Heimat verbundene Objekte, Artefakte | |
und künstlerische Arbeiten ausgestellt. | |
## Verlust von Schutz | |
Dabei durchdringt die Ausstellung von Beginn an auch eine kritische | |
Perspektive. Der historische Überblick am Eingang visualisiert die | |
Geschichte des Begriffs Heimat und thematisiert unter anderem dessen | |
Ideologisierung im Dritten Reich. So erinnert das Silberbesteck einer | |
jüdischen Familie an das 1939 für Jüd:innen eingeführte Verbot, | |
Edelmetalle zu besitzen. Die Shoah zerstörte die Heimaten und Existenzen | |
jüdischer Familien. Neben der Vitrine steht: „Was bleibt von Heimat, wenn | |
Gemeinschaft zerstört wird?“ | |
So widmet sich eine der sieben großen Fragen gezielt dem Verlust von | |
Heimat. Wie fühlt sich Heimat für Menschen an, die sie verloren haben? | |
Einen Impuls, das nachzuempfinden, geben acht von der Decke hängende | |
Druckbögen, die Grundrisse von Häusern und Wohnungen zeigen. Geflüchtete | |
Syrer:innen haben sie anhand ihrer Erinnerungen gezeichnet. Zu sehen | |
sind großzügige Räume, Innenhöfe, Brunnen, Klavierzimmer. Durchgestrichene | |
Flächen symbolisieren dabei zerstörte Räume. Die Grundrisszeichnungen | |
zeigen so auch, was sonst selten wahrgenommen wird. Geflüchtete gelten als | |
heimat- und besitzlos. Dass sie auch Vertreter:innen der Mittelschicht | |
sein können, zählt in der neuen Heimat nicht. | |
Der [2][Verlust von Heimat] geht oft mit Heimweh einher. Weit entfernt vom | |
alten Zuhause sehnen viele Menschen sich nach Vertrautem, nach Gerüchen, | |
einem bestimmten Essen oder geliebten Menschen. Doch was ist, wenn man gar | |
keine Heimat hat? Das Protestbanner „Homesick“ von Benoît Aubard ist ein | |
besprühter Bettbezug, den Aubard auf der Straße in Paris gefunden hat. Er | |
spielt darauf an, dass viele gar kein Heim haben und ihr Bedürfnis nach | |
Schutz und Sicherheit nicht befriedigen können. | |
13 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Carla Geiger | |
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