# taz.de -- Anwerbeabkommen: In mehreren Heimaten zu Hause | |
> 60 Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei: Nach Berlin | |
> kamen viele Arbeitsmigrant*innen – und blieben. | |
Bild: Der türkische Arbeitsminister Bülent Ecevit 1964 im Gespräch mit seine… | |
BERLIN taz | Die Gäste kamen zum Teetrinken, aber vor allem, um die | |
Badewanne zu nutzen. Jedes Wochenende war die Wohnung von Ayşe Demirs | |
Familie voll mit Verwandten und Bekannten, denn sie war eine von wenigen | |
türkeistämmigen Familien, die in Charlottenburg wohnten – mit mehreren | |
Zimmern, einer Badewanne und fließendem Warmwasser. | |
Ihr Vater kam 1965 als sogenannter Gastarbeiter nach Berlin und arbeitete | |
in einer Papierfabrik in Charlottenburg. Der beschönigende Begriff | |
„Gastarbeit“ hatte System: Die Arbeiter*innen, vorwiegend Männer, sollten | |
nach dem Zweiten Weltkrieg zum Arbeiten kommen, und nach maximal zwei | |
Jahren sollten sie wieder zurück. | |
Laut Demir lernte ihr Vater die deutsche Sprache schnell und übersetzte für | |
die anderen Kollegen. Deswegen wollte ihn sein Chef unbedingt halten und | |
bot ihm eine seiner Wohnungen zu einem geringen Mietpreis an. Heute | |
arbeitet Ayşe Demir im Vorstand [1][des Türkischen Bund | |
Berlin-Brandenburg.] | |
Der Großteil der Arbeitsmigrant*innen wohnte nach der Ankunft in | |
Deutschland in containerähnlichen Wohnheimen – meist unter schlechten | |
Bedingungen in Doppelzimmern, mit Rigipsplatten als Trennwände und kleinen | |
Gemeinschaftsbädern. | |
## Von der Politik vergessen | |
Laut Demir hat die Politik in den sechziger Jahren verpasst, sich | |
angemessen um die türkischen Arbeitsmigranten zu kümmern. Es habe keine | |
Sprachkurse gegeben, die Arbeiter hätten oft unter schlechten Bedingungen | |
gewohnt und es habe kaum Kontakt zu deutschsprachigen Menschen außerhalb | |
der Fabriktore gegeben. | |
Zum [2][Anlass des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens] am 30. Oktober hat | |
Demir bei einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend auf Einladung der | |
Berliner Integrationsbeauftragten mit Elke Breitenbach, Senatorin für | |
Integration, Arbeit und Soziales und der Migrationsforscherin Manuela | |
Bojadzijev über die vergangenen sechzig Jahre deutsch-türkischer | |
Beziehungen gesprochen. | |
In diesem Rahmen kritisiert Demir auch das deutsche Wahlrecht. Da die | |
Türkei kein EU-Staat ist, müssen türkeistämmige Menschen ihre türkische | |
Staatsbürgerschaft ablegen, wenn sie die deutsche wollen. „Das ist mit | |
Emotionen verbunden“, sagt Demir, „es ist klar, dass das vielen | |
schwerfällt.“ Laut dem Landesamt für Statistik besitzen etwa 100.000 | |
Menschen in Berlin die türkische Staatsbürgerschaft und dürfen sich deshalb | |
auch nicht an den Kommunalwahlen beteiligen. Demir fordert die Möglichkeit | |
der Mehrstaatlichkeit für türkeistämmige Menschen ohne deutschen Pass. | |
Bojadzijev betont bei der Diskussion, dass das Abkommen von türkischer | |
Seite aus mindestens genauso sehr gewollt wurde wie von deutscher. „Mit dem | |
Abkommen konnte man die Auswanderung aus der Türkei und die Einwanderung | |
nach Deutschland regulieren“, sagt sie. | |
## „Ich hatte auf keinen Fall geplant, hier alt zu werden“ | |
Einer der ersten Arbeitsmigranten, der heute 72-jährige Durmuş Çakmak, ist | |
in der Nähe der Stadt Tokat groß geworden, unweit vom Schwarzen Meer. Kurz | |
nach seiner Ausbildung zum Schlosser kam er 1970 nach Berlin. Vor der | |
Abreise musste er sich strengen medizinischen Untersuchungen unterziehen – | |
von den Knochen über die Organe bis hin zum Urin. „Wir standen dabei zu | |
fünft oder sechst nackt nebeneinander“, sagt er, „wir haben uns gefühlt w… | |
Schweine.“ | |
In Berlin angekommen, wurde Çakmak nach Spandau in eine Kabelfabrik | |
geschickt, wo er im Dreischichtsystem arbeitete. Nach drei Wochen wollte er | |
wieder zurück in die Türkei. „Ich habe mich alleine gefühlt“, sagt er. F… | |
die Kündigung wollte die Firma aber laut Çakmak die 750 Mark erstattet | |
haben, die sie für seine Anreise gezahlt hatte. Das konnte sich der damals | |
20-Jährige nicht leisten, also blieb er. „Ich hatte auf keinen Fall | |
geplant, hier alt zu werden“, sagt der 72-Jährige. | |
Mittlerweile gefällt Çakmak Berlin. Seine Leidenschaft für das | |
Theaterspielen konnte er in einem türkischen Studentenverein fortsetzen, | |
das gab ihm Kraft. „Ich fühlte mich immer wohler“, sagt Çakmak. Der | |
Frührentner spielt auch heute noch im Berliner Theater der Erfahrungen, ein | |
Laientheater mit Darsteller*innen über fünfzig Jahren. In seinem | |
Herkunftsland hat Çakmak ein Haus gebaut, wo er jedes Jahr zwei Monate | |
verbringt. | |
Als er vor sechzig Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, ließ oft | |
auch die eigenen Kinder zurück. Beide Elternteile arbeiteten in der Regel | |
in Schichten – ohne Kitaplätze, denn diese waren vor allem für deutsche | |
Staatsbürger*innen vorgesehen. Die Kinder wuchsen dann oft bei den | |
Großeltern in der Türkei auf. | |
## Noch immer diskriminierende Erfahrungen | |
Mittlerweile leben die Nachkommen der türkeistämmigen | |
Arbeitsmigrant*innen in der dritten und vierten Generation in Berlin. | |
Und trotzdem: Auch in ihrem Alltag musste Ayşe Demir schon oft Erfahrungen | |
mit Diskriminierung machen. Diese stellt sie auch bei den nachfolgenden | |
Generationen fest. | |
„Ich kann nicht verstehen, wieso sich Kinder der dritten Generation in der | |
Schule für Erdoğans Politik rechtfertigen müssen“, sagt sie. Ihr liegt | |
sowohl Deutschland als auch die Türkei am Herzen. „Ich habe mehrere | |
Heimaten“, sagt sie, „auch wenn die Mehrzahl von Heimat nicht so geläufig | |
ist.“ | |
28 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Sara Guglielmino | |
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