# taz.de -- Forscherin über umstrittenen Begriff: „Heimat rehabilitieren“ | |
> Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski kritisiert den | |
> hysterischen Umgang mit Heimat – und plädiert für ein zeitgenössisches | |
> Verständnis. | |
Bild: Kleingartensiedlung Groß-Sand in Hamburg mit deutscher und türkischer F… | |
taz: Frau Scharnowski, Ihr Buch heißt „Heimat. Die Geschichte eines | |
Missverständnisses“. Braucht der Begriff Rehabilitierung? | |
Susanne Scharnowski: Seit wir eine [1][Heimatdebatte] haben, werden ständig | |
drei Thesen wiederholt. Erstens: Die Romantiker haben dafür gesorgt, dass | |
Heimat so stark emotionalisiert, aber auch politisiert wurde: als Synonym | |
für Volk und Nation. Zweitens: Heimat ist ein Wort, aber auch ein Konzept, | |
das es in anderen Sprachen, in anderen Kulturen nicht gibt. Und aus dieser | |
Annahme folgt dann sehr schnell das Dritte: Heimat hat viel mit Nation zu | |
tun, aber auch mit Nationalismus, und dann wiederum mit | |
Nationalsozialismus. Diese drei Missverständnisse habe ich untersucht. Ich | |
bin an die Quellen zurückgegangen – und stellte fest, es ist anders, | |
komplizierter. | |
Selbst wenn Heimat ursprünglich wenig mit Nation und Volk zu tun hatte, ist | |
der Begriff oft mit Nationalismus verbunden. Wie wollen Sie das trennen? | |
Der Begriff ist [2][immer wieder von der politischen Rechten] besetzt | |
worden, aber soll die das letzte Wort behalten? Umfragen zufolge verbinden | |
85 bis 90 Prozent der Bevölkerung ausschließlich Positives mit dem Begriff, | |
an die Nation denken dabei nur 7 Prozent. Trotzdem gibt es Reaktionen, die | |
man schon als etwas hysterisch bezeichnen kann: Im Sommer 2018 sagte | |
[3][Klaus Theweleit bei einem Kongress in Hamburg] sinngemäß: „Eine | |
Gesellschaft, die sich auf Heimat beruft, ist potenziell mörderisch.“ Das | |
finde ich fast so problematisch, als wenn sich der Thüringer Heimatschutz | |
auf Heimat beruft. Insofern glaube ich tatsächlich, Heimat sollte | |
rehabilitiert werden, und sei’s nur, um eine politische Debatte zu haben, | |
die nicht auf Spaltung aus ist. | |
Die Debatte ist hoch emotional. Literatur- oder Diskursanalysen dringen da | |
kaum durch. | |
Ich setze etwas altmodisch auf Kontext. Ein Beispiel: Während dieser | |
Heimat-Debatten wurde immer wieder der [4][Wanderer über dem Nebelmeer von | |
Caspar David Friedrich] als Bild herangezogen. Was hat der mit Heimat zu | |
tun? Er stellt eigentlich das Gegenteil von Heimat dar, einen einsamen | |
Gipfelstürmer, weit weg vom Tal, von Dorf und Gemeinschaft, er schaut in | |
die Wolken, in die Ferne. Insofern passt er sehr gut als Ikone der | |
Romantik, aber überhaupt nicht als Illustration für Heimat. | |
Heimat gilt oft als regressiv, rückwärtsgewandt, als antiemanzipatorisch. | |
Ist das ein 68er-Erbe? | |
Das geht noch weiter zurück. Die Fünfziger waren die Jahre der | |
Heimatvertriebenen, wie man sie im Westen nannte, in der DDR hießen sie | |
Umsiedler. Sowohl DDR als auch BRD bezogen sich auf Heimat – nur betonte | |
man im Westen die „alte Heimat“, im Osten die „neue“, den Sozialismus. … | |
auch in Österreich gab es schon seit 1960 eine Antiheimatliteratur, die | |
sehr böse auf das Dorfleben blickt. In dieser Zeit wurde der Zusammenhang | |
konstruiert, dass ein positives Heimatbild untrennbar mit Faschismus oder | |
Nationalsozialismus verbunden ist und dass das Bedürfnis nach Heimat | |
regressiv ist, Kitsch oder eine falsche Idylle. | |
Es gab auch linke Heimatbewegungen. Von den Lebensreformern bis zur | |
Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahre. Weisen sie ähnliche ideologische Muster | |
auf? | |
Ich sehe alle Heimatbewegungen eher als Pendelbewegung, als Reaktion auf | |
vorhergegangene Entwicklungen: Auf Heimat beruft sich meist, wer sich | |
einseitig gegen technologischen Fortschritt und dessen schädliche | |
Auswirkungen wendet. In den 60er Jahren versuchte man ja durch Rationalität | |
in die Moderne zu kommen, da man den Nationalsozialismus als Rückfall in | |
Barbarei oder Irrationalismus verstand. Danach entwickelte sich eine | |
Gegenbewegung, die sich nach Wärme sehnte – Ernst Bloch sprach vom Kälte- | |
und Wärmestrom. Dieser Wärmestrom sollte menschlichen Bedürfnissen nach | |
Glück und Harmonie zur Geltung verhelfen. Vor diesem Hintergrund entstand | |
die linke Heimatbewegung. | |
Wann wurde Heimat erstmals politisch instrumentalisiert? | |
Ich würde sagen: mit dem Ersten Weltkrieg. Da wurden zum Beispiel alte | |
Lieder des 19. Jahrhunderts auf Postkarten gedruckt, auf denen die Soldaten | |
ihre Liebsten umarmten. Das war echte Staatspropaganda. Die Heimatbewegung | |
am Ende des 19. Jahrhunderts war dagegen eine Bürgerbewegung, eine Reaktion | |
auf die Umbrüche durch die Industrialisierung; allerdings war das eine | |
klassenspezifische Wahrnehmung. Es waren vor allem die Bildungsbürger, die | |
sich um die Heimat sorgten. Sie sahen die malerischen vertrauten | |
Landschaften verschwinden, also das, was wir heute kitschig finden, was es | |
im 19. Jahrhundert aber noch gab: die alte Mühle am Bach, Hecken, Wäldchen | |
und so weiter. | |
War Heimat ein rein bürgerlicher Topos? | |
Eher bildungsbürgerlich. Die Arbeiter hatten ganz andere Probleme, vor | |
allem fürchterliche Arbeits- und Lebensbedingungen. Auch die Industriellen | |
standen dieser Heimatbewegung äußerst skeptisch gegenüber. Denn Deutschland | |
entwickelte sich sehr schnell zu einem Exportland, aus dieser Zeit stammt | |
ja das letzte unserer positiven nationalen Selbstbilder. Es wollte | |
Absatzmärkte erschließen, endlich auch Kolonialmacht werden. Das war, | |
politisch gesehen, eine Antiheimatpolitik und passte überhaupt nicht zu der | |
Rede von Scholle, Verwurzelung und Bauerntum. Da wird es dann Ideologie, | |
wenn einerseits Heimat in politischen Statements aufgerufen wird, | |
andererseits aber eine Politik betrieben wird, die das Gegenteil ist. | |
Kann man das auch auf die NS-Ideologie beziehen? Dort war man auf | |
Expansion, Vernichtung und nicht auf Bewahrung aus. | |
Absolut. Die Nazis haben Heimat propagandistisch genutzt, ebenso wie auch | |
das Schwarzbrot und die Autobahn, das größte Propagandaprojekt überhaupt; | |
eine Synthese von deutscher Landschaft und deutscher Ingenieurskunst. Man | |
liest oft, Blut-und-Boden-Ideologie und Heimat gehörten zusammen. Das | |
trifft aber nicht zu. In der Heimatbewegung um 1900 geht es um ganz | |
konkrete Orte, Landschaften, Bauten. Die Blut-und-Boden-Ideologie sieht den | |
Boden in erster Linie als eine ökonomische Ressource und geht gerade nicht | |
von einer Verbindung von Land und Leuten aus, sondern von der | |
vermeintlichen Überlegenheit der „arischen“ Rasse, der dann das Recht | |
zugesprochen wird, Land zu erobern, das offensichtlich von anderen bewohnt | |
ist. | |
Im Moment läuft im Kino Thomas Heises Film „Heimat ist ein Raum aus Zeit“. | |
Ist Heimat mehr Raum oder mehr Zeit? Oder ein Zeitraum, der nur in der | |
Vergangenheit liegt? | |
Ich ziehe das Wort „Ort“ vor. Raum ist etwas, das man erobern kann. Das | |
passt ganz gut zu „Blut und Boden“. Raum ist Ressource; Geopolitik hat | |
immer etwas mit Räumen zu tun. Der Ort dagegen ist spezifisch, markiert, er | |
hat Grenzen, eine Geschichte. Und so wie ich Heimat verstehe in einem | |
zeitgemäßen Sinn, ist Heimat tatsächlich ein Ort, der wenig zu tun hat mit | |
Herkunft: Heimat muss nicht unbedingt der Ort sein, an dem ich geboren bin. | |
Heimat ist der Ort, mit dem ich mich identifiziere und wo Zugehörigkeit | |
entsteht. Das braucht aber in der Tat Zeit. | |
Wie unterscheidet sich Herkunft von Heimat, kann man das trennen? | |
Unbedingt! Die Heimat als Herkunft kann man sich nicht aussuchen, aber sie | |
prägt einen natürlich, und dem kann man sich nur begrenzt entziehen, auch | |
wenn man sich eine neue Heimat sucht. Heimat ist aber mehr als nur diese | |
passive Prägung; Heimat ist aktive Aneignung. Selbst in der Nachkriegszeit, | |
als man von „alter“ und „neuer“ Heimat sprach, galt: Man kann mehrere | |
Heimaten haben. Ich würde aber sagen: nicht unbegrenzt viele. Der Begriff | |
der Identität fällt oft im selben Kontext. Ich spreche lieber von | |
Identifikation; das hat mit dem Jetzt-Zustand zu tun, nicht nur mit der | |
Herkunft. Heimat bildet für mich eine Brücke zwischen Vergangenheit, | |
Gegenwart und Zukunft. | |
Migration wird global immer stärker. Im Berliner Maxim-Gorki-Theater läuft | |
eine Reihe unter dem Titel „De-heimatize it“. Ist das nicht das | |
angemessenere Motto? | |
Ich glaube das nicht. Gerade in Zeiten, wo die Menschen unterwegs sind, | |
denken sie umso mehr über ihre Heimat nach. Man muss auch differenzieren: | |
Es gibt die erzwungene Migration und die freiwillige oder halb erzwungene, | |
weil man vielleicht hofft, woanders ist es besser. Nur weil ich an einem | |
anderen Ort lebe, heißt das noch lange nicht, dass ich mit meiner alten | |
Heimat fertig bin. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn viele nicht | |
wissen, wohin sie gehören? Ich glaube nicht, dass „De-heimatize“ die Lösu… | |
ist. Das hieße ja, die Individualisierung noch erhöhen. Und wir haben eh | |
eine Gesellschaft, die wahnsinnig individualisiert ist. | |
Heimat ist ein Gefühl – das ist ein Satz, den die meisten Menschen | |
unterschreiben würden. | |
Ich nicht. Das ist für mich eine Art Neoidealismus oder Neoromantik, eine | |
Verinnerlichung, die mit der materiellen Welt wenig zu tun hat. Das | |
suggeriert: Jeder kann im Prinzip überall Heimat „fühlen“, ganz unabhäng… | |
von seiner Umwelt. Als wären wir frei und unabhängig von der materiellen | |
Welt. Das ist fast schon zynisch, wenn man auf Umweltzerstörung, | |
Klimawandel, Plastik im Meer blickt. | |
Der Klimawandel ist doch ein Beispiel dafür, dass es um ein großes | |
komplexes Ganzes geht und nicht mehr um „meinen Garten, mein Dorf, mein | |
Land“. | |
Ja, aber ich würde eher die andere Sicht stark machen. Ich finde es gut, | |
für das Klima auf die Straße zu gehen. Aber es gibt eben nicht nur die | |
große, komplexe Welt, es gibt auch den überschaubaren Ort, an dem das Leben | |
stattfindet. | |
Gibt es ein Menschenrecht auf Heimat? | |
Die Vertriebenen wollten 1950, dass dies im internationalen Recht anerkannt | |
wird. Dazu ist es nie gekommen. Ich bekam nach einem Interview die | |
Zuschrift einer Wissenschaftlerin, die in Neuseeland über den Heimatbegriff | |
der Maori forscht. Doch: Auch die neuseeländischen „Ureinwohner“ haben | |
nicht „immer schon“ dort gelebt. Kaum jemand hat immer schon an einem Ort | |
gelebt. Die meisten ethnischen Gruppen oder Stämme sind irgendwann von | |
woanders gekommen. Wenn man ein Menschenrecht auf Heimat festschreiben | |
würde, würden sicher Ansprüche auf Territorien formuliert, und so würde man | |
eine ganze Kette weiterer Kriege anzetteln. | |
Wie definieren Sie Heimat für sich persönlich? | |
Meine Herkunftsheimat ist das alte West-Berlin, eine intellektuelle Heimat, | |
die Welt der Sprache und der Literatur, auch der englischen. Und jetzt lebe | |
ich in einem ganz anderen Berlin, auch das ist Heimat. Das Verhältnis zur | |
Herkunftsheimat und das zur Wahlheimat ist Veränderung und Schwankungen | |
ausgesetzt. Man kommt, glaube ich, nie hundertprozentig an. Die | |
Vorstellung, es könnte eine Gesellschaft oder einen Ort geben, an dem man | |
hundertprozentig aufgehoben ist, ist auch eine Form von Utopiekitsch. | |
19 Nov 2019 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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