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# taz.de -- Salman Rushdie über sein neues Buch: „Ich bin ein erbärmlicher …
> Salman Rushdie spricht über seinen Roman „Quichotte“, den Zustand der
> Demokratie in seiner Wahlheimat USA und über Rassismus-Erfahrungen.
Bild: Lebt „in New York, nicht in den USA“: Salman Rushdie
Salman Rushdie empfängt in einer Bar am Boulevard Unter den Linden, wo sein
deutscher Verlag die barocke Kommandantur hat wiederaufbauen lassen. Am Tag
zuvor war der 72-Jährige am Brandenburger Tor, erzählt er. 30 Jahre
Mauerfall feiern, gemeinsam mit Daniel Kehlmann. In „Quichotte“, seinem 14.
Roman, holt der in Indien geborene Rushdie einen Literaturklassiker in die
Jetztzeit. Sein Ritter von der traurigen Gestalt ist ein arbeitsloser
Vertreter, der sich mit seinem imaginierten Sohn Sancho auf eine Suche nach
der Liebe begibt, die vor allem eine Reise durch die Abgründe der heutigen
USA ist.
taz: Herr Rushdie, mit Ihrem Roman „Quichotte“ haben Sie versucht, so sagen
Sie, „ein Panorama dieser surrealen Zeit der Metamorphose zu zeichnen“. Was
genau finden Sie besonders surreal gerade?
Salman Rushdie: So ziemlich alles. Wir leben in einem verrückten Augenblick
– nicht nur wegen der Politik, nicht nur wegen des aktuellen Präsidenten.
Technologie und Städte verändern sich, der Aufstieg des Fremdenhasses. Ich
lebe nun seit 20 Jahren in den USA – und diese 20 Jahre sollten in das Buch
einfließen.
Wie werden die USA, wie wird die Welt nach der Metamorphose, die Sie
beschwören, aussehen?
Ich bin ein erbärmlicher Prophet. Es ist sehr schwer zu beurteilen, ob der
gegenwärtige Zustand die neue Normalität ist – oder nur eine vorübergehende
Verirrung. Vielleicht wissen wir nach der nächsten Präsidentenwahl mehr.
Vielleicht wird jemand gewählt, der die alten Regeln wieder in Kraft setzt.
Aber wenn Trump wiedergewählt wird, müssen wir uns wohl daran gewöhnen,
dass dieses dunkle Amerika das wahre Amerika ist.
Es ist ja nicht nur Trump. In Ihrer früheren Heimat Indien regiert der
Hindu-Nationalist Modi, in Osteuropa mehren sich die populistischen
Despoten.
Ja, es ist ein globales Problem. Aber ich glaube nicht an die
Zwangsläufigkeit von Geschichte. Gewaltige Veränderungen in kurzer Zeit
sind möglich. Schauen Sie doch bloß mal hier aus dem Fenster. Wenn ich
Ihnen ein paar Monate vor dem 9. November 1989 gesagt hätte, die Mauer
fällt, hätten Sie mir geglaubt?
Wahrscheinlich nicht einmal ein paar Tage vorher.
Ja, es war unvorstellbar. Die Geschichte schlägt immer mal wieder
unerwartete Haken. Nur ein Dummkopf glaubt zu wissen, was geschehen wird,
also schreibe ich lieber über das Jetzt. Trotzdem habe ich Modi und Trump
im Roman nie namentlich erwähnt. Aber natürlich sind sie immer da, sie sind
im Schatten präsent. Aber Trump und Modi sind Symptome, nicht die Krankheit
selbst. Zugegeben, beide verschlimmern die Krankheit, aber eigentlich sind
sie nur das Symptom. Ich habe die Namen absichtlich rausgelassen, weil der
Roman nicht von ihnen erzählt, sondern von der Welt – denn die ist
interessanter als diese Leute. Deswegen schreibe ich nicht darüber, wie
sich die Welt entwickeln könnte, sondern darüber, wie ich die Welt gerade
erlebe.
Eine Gemeinsamkeit zwischen Trump und Modi ist ihr Umgang mit der Wahrheit.
Beide lügen, behaupten dann aber, seriöse Medien würden Fake News
verbreiten.
Das ist eine Entwicklung, die schon vor Trump oder Modi begonnen hat. Die
Wahrheit selbst ist ein Problem geworden. Der Grund ist natürlich das
Internet, das einerseits nützlich ist und sehr viel Wissenswertes zur
Verfügung stellt, andererseits aber auch wahnsinnig viel Müll, ein ganzes
Meer aus Müll. Und das Wertvolle vom Müll zu unterschieden, das ist nicht
immer einfach. Das ist natürlich gefährlich für die soziale Stabilität,
gefährlich für die Welt, wie wir sie kennen. Vor allem ist es gefährlich
für die Demokratie.
Das gilt speziell für Indien. Ist die Demokratie dort am Ende?
Sie ist noch nicht am Ende. Immerhin gibt es noch Wahlen. Aber mehr haben
sie in Indien tatsächlich nicht mehr. Vor allem sollte man in einer
Demokratie keine Angst haben müssen vor dem politischen Gegner. Man sollte
wegen einer abweichenden Meinung nicht um sein Leben fürchten müssen.
Manchmal überholt die Realität die Literatur. Als Sie „Wut“ schrieben …
Erinnern Sie mich nicht daran.
Ihr Roman erschien offiziell am 11. September 2001, und „eine aktuelle
Satire verwandelte sich in historische Fiktion“, wie Sie später sagten.
Fürchten Sie Ähnliches für „Quichotte“?
Ich habe keine Ahnung. Man schickt die Bücher da raus – und hofft, dass sie
überleben. Aber was diesem Roman widerfuhr, war wirklich sehr seltsam.
Tatsächlich las ich erst nach zwölf Monaten zum ersten Mal aus diesem Buch,
denn niemand war in dieser Zeit an so etwas wie einer Literaturlesung
interessiert. Als ich dann schließlich doch in New York las, war die
Stimmung sehr speziell, sehr nostalgisch. Das New Yorker Publikum schien
sich sehr wehmütig an die Stadt zu erinnern, die verloren war. Das war sehr
berührend. Aber es stimmt schon: Über aktuelle Zustände zu schreiben, kann
riskant sein, die Geschichte kann leicht veraltet wirken. Also muss man
sich auf die Figuren, auf die Sprache, auf die literarische Qualität
besinnen, dann ist die Tagespolitik vielleicht noch Kontext, aber nicht
mehr das Entscheidende. Ich bin da also guter Hoffnung, schon weil
„Quichotte“ im Gegensatz zu „Wut“ ein ziemlich komisches Buch geworden …
Ja, sogar ein Schelmenroman. Warum haben Sie eine so veraltete Form
gewählt?
Nichts ist wirklich veraltet, es gibt immer einen Weg, einem Genre etwas
Neues abzugewinnen. Alles ist schon mal gemacht worden. Die Frage ist: Was
kann man tun, damit es wieder frisch wirkt. Aber mein Grund, das Genre
Schelmenroman zu wählen war auch der, dass er es einem erlaubt, die
Erzählformen zu wechseln, immer neue Abenteuer zu erzählen. Cervantes macht
das, indem er Romanfiguren ständig Geschichten über andere Figuren erzählen
lässt. Exakt dieses Format wollte ich nicht, aber ich habe mir die Freiheit
genommen, meine Geschichte mal als Spionagethriller zu erzählen, mal als
Science-Fiction-Roman, als Sozialreportage oder auch als Absurdes
Theaterstück.
Wo ist das Absurde Theater?
Erinnern Sie sich an die Szene, in der Quichotte und Sancho in das
Städtchen in New Jersey kommen, in dem sich manche Bewohner in Mammuts
verwandelt haben? Als Student spielte ich Theater, wir inszenierten
Ionescos „Die Nashörner“, und ich verstand das Stück nicht. Ich wusste
nicht, was das sollte. Also fragte ich den Regisseur, und er sagte:
„Salman, das Stück handelt vom Faschismus. Es handelt davon, wie sich der
Nachbar, dessen Kinder mit deinen Kindern gespielt haben, in ein Nashorn,
in ein Monster verwandeln kann, das nicht einmal mehr dieselbe Sprache
spricht wie du.“ Das Stück hat damals, ich war vielleicht 19 Jahre alt,
großen Eindruck auf mich gemacht.
Sie schicken einen alten Mann indischer Abstammung auf eine Reise, die eine
Art Bestandsaufnahme der USA ist. Warum ist gerade dieser Quichotte der
Richtige für so eine Bestandsaufnahme?
Ich bin nun mal ein Migrant mit indischen Wurzeln, und es ist mir noch nie
gelungen, ein Buch zu schreiben mit einem Protagonisten, der keine
indischen Wurzeln hat. So einfach ist das: Ich bin ein indischer Mann und
damit kenne ich mich aus. Also frage ich mich in jedem Buch: Was sind die
Konsequenzen, wenn man heute als Inder im Westen lebt? Da geht es mir auch
nicht anders als Schwarzen amerikanischen Autoren. Es ist übrigens sehr
spannend, was gerade in der amerikanischen Literatur passiert: Die schwarze
Community und die neueren Migranten-Communities revolutionieren gerade den
amerikanische Roman. Eine neue Generation schwarzer Schriftstellerinnen und
Schriftsteller übernimmt den Laden gerade. Jesmyn Ward hat zweimal den
National Book Award gewonnen, bevor sie überhaupt 30 Jahre alt wurde. Die
aktuelle Poet Laureate…
So etwas wie der offiziell ernannte Staatsdichter der USA.
… ist Joy Harjo, die erste Indigene in diesem Amt. Davor gab es mit Tracy
K. Smith und Natasha Trethewey zwei schwarze Frauen und mit Juan Felipe
Herrera einen Hispano. Traditionell wurde migrantische Literatur in den USA
von Einwanderern aus Osteuropa oder von Italienern geschrieben. Nun gibt es
Chimawanda Adichie aus Nigeria, Ocean Vuong aus Vietnam, Jhumpa Lahiri mit
bengalischem Migrationshintergrund, Junot Diaz aus der Dominikanischen
Republik – und so viele andere wundervolle Autoren. Alle diese so
unterschiedlichen Stimmen bereichern die amerikanische Literatur ungemein.
Und mir gefällt der Gedanke, dass ich irgendwie auch dazu gehöre – auch
wenn ich so viel älter bin. Ich will auch meine Geschichte erzählen, von
meinen Erfahrungen als Migrant berichten.
Ein immer wiederkehrendes Motiv von „Quichotte“ sind die Erfahrungen, die
die Protagonisten mit Rassismus machen. Ist das eine der Erfahrungen, von
denen Sie berichten wollten?
Auf jeden Fall. Ich habe Erfahrungen mit Rassismus gemacht, als ich im
Alter von 13 Jahren in den Westen kam. In dem Internat in England, in dem
ich war, schrieben Mitschüler rassistische Slogans an die Wand meines
Zimmers und zerstörten meine Unterlagen. Als ich die Schule abgeschlossen
hatte mit 18 Jahren, habe ich etwas, was ich damals für einen Roman hielt,
über diese Erfahrungen geschrieben, über rassistische Attacken und
Vorurteile.
Das Buch ist aber nie erschienen.
Nein, das Manuskript ist verloren gegangen. Meinen Eltern ist es gelungen,
es zu verschlampen – zum Glück. Ich fürchte, es hat nicht viel getaugt.
Aber wenn ich mich mit etwas auskannte damals, dann war es Rassismus – und
fortan habe ich immer darüber geschrieben.
Der Rassismus in den USA nimmt wieder zu. Denken Sie darüber nach, das Land
zu verlassen?
Nein, ich lebe ja nicht in den USA – ich lebe in New York. In Manhattan
haben mehr als 80 Prozent gegen Trump gestimmt. Ich bin ein Stadtmensch,
ich mag sehr große Städte.
Es gibt auch neue Spannungen zwischen den USA und Iran. Könnte das
gefährlich für Sie werden?
Ich lese die Nachrichten, aber es interessiert mich nicht sonderlich. Ich
habe mich nur für Iran interessiert, als der noch mehr daran interessiert
war, mich umzubringen. Seit Iran nicht mehr an mir interessiert ist,
interessiert er mich auch nicht mehr.
Werden Sie aktuell bedroht?
Nein, ich bin zu weit weg. Ich merke übrigens auch, dass ich immer weniger
über Indien schreibe – einfach, weil ich zu weit weg bin. Ich schreibe
lieber über die Orte, an denen ich lebe, da kenne ich mich besser aus.
Keine Angst vor einer neuerlichen Art Fatwa, diesmal ausgesprochen von den
Hindu-Nationalisten?
(lacht) Nein, ich habe vor langer Zeit beschlossen, keine Angst mehr zu
haben.
15 Nov 2019
## AUTOREN
Thomas Winkler
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