# taz.de -- Neuer Roman von Anne Tyler: Der Mann, der freitags staubsaugt | |
> Der Roman „Der Sinn des Ganzen“ folgt Micah, der Festplatten alter Ladys | |
> repariert und putzt. Geschichten aus der Welt des alten weißen Mannes. | |
Bild: Einbruch in die geordnete Welt alter weißer Männer: Schriftstellerin An… | |
Wie immer ist der neue Roman von Anne Tyler nur ein schmales Büchlein. Wie | |
immer ist die Geschichte schnell erzählt. Wie nahezu immer geht es um einen | |
Menschen, der aus seinem Alltagstrott geworfen wird. Und wie immer erzählt | |
das Buch von herzlich gewöhnlichen Menschen und ihren vollkommen | |
unspektakulären Problemen. | |
Aber wie immer ist das in einer einfachen, berückend klaren Sprache und mit | |
so viel Empathie und Einfühlungsvermögen aufgeschrieben, dass man den | |
Charakteren unbedingt folgen und das schmale Bändchen nicht mehr aus der | |
Hand legen möchte. | |
In „Der Sinn des Ganzen“ folgen wir Micah Mortimer, einem 43-jährigen | |
Computerfachmann, der als „Tech Eremit“ die Festplatten alter Ladys | |
repariert und die Drucker von Handwerkern aus der Nachbarschaft wieder in | |
Gang kriegt. Ein Zubrot verdient er sich als Hausmeister seines | |
Mietshauses. Das Mobiliar seiner peinlich sauber gehaltenen Wohnung, in der | |
er allein lebt, hat er praktischerweise vom Vormieter übernommen. Jeder Tag | |
seiner Woche, die [1][vom montäglichen „Bodenwischtag“ bis zum | |
freitäglichen „Staubsaugertag“] fein säuberlich getaktet ist, beginnt | |
pünktlich um 7.15 Uhr. Micah ist stolz darauf, sich sklavisch an die | |
Verkehrsregeln zu halten. | |
Bei den Feiern seiner umfangreichen, so schlampigen wie lebenslustigen | |
Familie erträgt der seltsame Onkel duldsam den leisen Spott für seine | |
Pedanterie. „Eigentlich war sein Leben schön. Es gab keinen Grund zum | |
Unglücklichsein.“ | |
Doch dann kommt Unordnung in Micahs Leben. Seine Freundin, die | |
Grundschullehrerin Cass, mit der er eine seiner Meinung nach sehr | |
erwachsene Beziehung ohne große gegenseitige Verpflichtungen führt, | |
verlässt ihn, und vor der Tür steht ein junger Mann, der behauptet, sein | |
Sohn zu sein. Beide Ereignisse werden von Micah mit der ihm eigenen | |
bedächtigen, emotional kaum involvierten Art bewältigt, werfen ihn aber | |
dann doch langsam, aber sicher aus seiner Bahn, bis er eines Morgens | |
aufwacht und das Gefühl hat, „versehentlich den Traum eines anderen | |
geträumt“ zu haben. | |
## Sinnsuche ohne Grübeln | |
Die subtilen Veränderungen entwickeln sich nicht in inneren Monologen, | |
sondern werden von Tyler mit kleinen Details nur angedeutet. Hemingway hat | |
ganz ähnlich über vollkommen andere Männer geschrieben. | |
Deshalb führt der deutsche Titel auch in die Irre. Um den Sinn des Ganzen | |
geht es in diesem Roman so, wie es im Leben immer um den Sinn des Ganzen | |
geht: eigentlich nie, aber im Grunde dann halt doch die gesamte Zeit. Diese | |
Sinnsuche kommt bei Tyler aber eben nicht als bauchschweres, | |
existenzialistisch verklärtes Grübeln daher, sondern als scheinbar leicht | |
zu bewältigendes, kaum der Rede wertes, aber dann doch melancholisch | |
stimmendes Luxusproblem eines privilegierten Lebens in der Ersten Welt. | |
Dramatik, die bei der nachgerade penetrant lakonischen Autorin noch nie ein | |
Stilmittel der Wahl war, fällt deshalb folgerichtig vollkommen flach. | |
## Welt des alten weißen Mannes | |
Ja, es sind Geschichten aus der Welt des alten weißen Mannes. Aber eine | |
muss das dreckige Geschäft übernehmen und die protokollieren. Und dass ihr | |
die Aktualität nicht egal ist, beweist Tyler dadurch, dass ganz nebenbei | |
die gesellschaftlichen Zustände in die Erzählung einbrechen. | |
Einer von Cass’ Schülern lebt „mit seiner Großmutter in einem Auto“, in… | |
TV-Nachrichten werden „Latino-Immigranten“ in einen „Transportbus für | |
Gefangene“ getrieben, und im Radio: Massenschießerei in einer Synagoge, | |
Luftangriffe im Jemen, [2][von ihren Eltern getrennte Flüchtlingskinder] an | |
der mexikanischen Grenze. „Micah hört sich das alles teilnahmslos an. Er | |
findet es nicht erstaunlich.“ | |
Wer ihr also zu viel Gutes antun möchte, könnte der mittlerweile | |
78-jährigen Tyler unterstellen, ihr 23. Roman sei der Kommentar zur Krise | |
des Mannes. Allerdings ist Micahs Männlichkeit eine ganz und gar nicht | |
toxische, sein Charakter illustriert bestenfalls einen Nebenaspekt der | |
Debatte um die Misere der Männlichkeit. Seine Einsamkeit steht nicht | |
stellvertretend für sein Geschlecht, sondern bloß als Symptom einer sich | |
immer weiter individualisierenden, vereinzelnden Gesellschaft. | |
## Aus Gegenständen werden Menschen | |
Der originaltitelgebende „Redhead by the Side of the Road“ ist denn auch | |
ein Feuerhydrant, den Micah bei seinen morgendlichen Joggingrunden immer | |
wieder aufs Neue für ein rothaariges Kind hält. „Ihm ist aufgefallen, dass | |
sein Sehfehler hauptsächlich darin besteht, unbelebte Gegenstände visuell | |
in Menschen zu verwandeln.“ | |
Der Prozess, den Micah durchläuft und der ihn schlussendlich aus seiner | |
selbstgewählten Isolation, aus der „Endlosschlaufe“, in der „im Grunde s… | |
ganzes Lebens gefangen“ war, herausführt, endet allerdings nicht in einem | |
von Fanfaren umflorten Triumph eines klassischen Entwicklungsromans, nicht | |
mal in einem dramatischen Erwachen. | |
Trotzdem hält „Der Sinn des Ganzen“, das ist die Kunst von Anne Tyler, | |
jener unermüdlichen Kartografin der Luxusprobleme des bürgerlichen Lebens | |
seit mehr als fünf Jahrzehnten, über seine ganze Länge eine feine, | |
diffizile, ja nachgerade unaufgeregte Spannung. Diese entspannte Spannung, | |
die gibt es wohl nur im wahren Leben. Und eben bei Anne Tyler. | |
14 May 2020 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Winkler | |
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