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# taz.de -- Neuer Kinofilm von Joachim Trier: Die Sache mit Sisyphos
> Im Kino-Drama „Der schlimmste Mensch der Welt“ betrachtet Regisseur
> Joachim Trier die Sinnsuche einer jungen Frau, die durch Oslo treibt.
Bild: Gilt nicht als Seitensprung, ist trotzdem eine intime Geste zwischen Juli…
Die Sonne über Oslo geht gerade unter. Eine junge Frau blickt von einer
Dachterrasse aus auf die Stadt hinab, die in warmes Abendlicht getaucht
ist, und auf den ruhig dahinfließenden Akerselva. Sie steht, in einem
schwarzen Cocktailkleid, seitlich zur statischen Kamera, hält eine
Zigarette in der Hand. Ihr Gesicht ist zunächst abgewandt. Als sie den Kopf
schließlich dreht, durchbricht sie fast die vierte Wand.
Es ist eine lange und leise, beinah unscheinbare Szene, mit der Joachim
Trier den letzten Teil seiner „Oslo“-Trilogie einleitet – und doch ist in
ihr bereits vieles von dem angelegt, was das Werk des norwegischen
Filmemachers ausmacht: die zart bis erdrückend melancholische Stimmung
etwa, mit der vom Disruptiven im Alltäglichen, den unauffälligen
Augenblicken, die sich als Vorwehen einer Zäsur herausstellen sollen,
erzählt wird.
So zeigt die Eröffnungsszene von „Der schlimmste Mensch der Welt“ den
Moment, in dem Protagonistin Julie (Renate Reinsve) den Entschluss fasst,
die Buchpräsentation ihres Partners Aksel (Anders Danielsen Lie) vorzeitig
zu verlassen. Kurz darauf wird sie sich auf eine Hochzeitsfeier schleichen
und eine Begegnung mit einem Mann haben, die sie ihre aktuelle Beziehung
anzweifeln lässt und eine Sinnkrise auslösen wird.
## Kurze Momente der Befreiung
Dennoch ist das, wofür sich Trier und sein langjähriger Co-Autor [1][Eskil
Vogt („The Innocents“]) interessieren, nicht das Außergewöhnliche als
solches, sondern vielmehr seine zuverlässige Wiederholung. Was Julie
erlebt, mag ein Wendepunkt in ihrem Leben sein. Allerdings nur einer von
vielen. Das Autorenduo interpretiert das menschliche Dasein zuerst als eine
Aneinanderreihung existenzieller Krisen. Wie Sisyphos schieben ihre Figuren
ständig eine Last vor sich her, empfinden vor allem in Neuanfängen kurze
Momente der Befreiung. Ehe das Spiel von vorne beginnt.
Auch wegen dieser genauen Beobachtung ist „Der schlimmste Mensch der Welt“,
wie die beiden vorangegangenen Filme der Reihe, eine feinfühlige Reflexion
über die Grundbedingungen des Menschseins. Genauer gesagt, des Menschseins
in einer urbanen Wohlstandsgesellschaft, die es sich erlauben kann, mit dem
Sinn des eigenen Lebens anstatt dem eigenen Überleben selbst zu hadern. Die
skandinavische Metropole ist dafür eine hervorragende Kulisse.
Obwohl sie inhaltlich nicht miteinander verbunden sind, lassen sich die
drei Filme aufgrund dieses gemeinsamen Fokus als thematisch verwandt und
ihre Protagonisten jeweils als eine geistige Fortentwicklung betrachten.
Stets als intimes Porträt einer Selbstsuche angelegt, versuchen sich die
Figuren im ersten Film noch über äußerliche Zuschreibungen zu definieren.
Im [2][2006 erschienen „Auf Anfang“] werfen zwei junge Männer zu Beginn des
Films die Manuskripte für ihre ersten Roman in den Briefkasten. Von einer
Veröffentlichung versprechen sie sich nicht den großen finanziellen Erfolg,
sondern viel mehr die Zugehörigkeit zu einer Kaste und damit einen
Lebenszweck.
Während Eriks (Espen Klouman-Høiner) Roman abgelehnt wird, wird Phillips
(Anders Danielsen Lie) nur kurz darauf veröffentlicht und er selbst zu
einem Shootingstar der norwegischen Literaturszene. Doch was folgt, ist ein
zielloses Chaos: Sechs Monate später holen ihn seine Freunde aus einem
psychiatrischen Krankenhaus ab, er irrt durch die Stadt und stürzt sich
manisch in das Projekt, seinem Leben – wenn schon nicht mit dem Schreiben,
dann zumindest mit einer Liebesbeziehung – eine Richtung zu geben.
## Kapitulieren vor der Hoffnungslosigkeit
Während Phillip vehement gegen das, was Albert Camus als das Absurde, den
Widerstreit der Sinnlosigkeit der Welt und der Sinnsuche des Einzelnen,
beschrieben hat, anzukämpfen versucht, resigniert die erneut von Danielsen
Lie gespielte Hauptfigur des [3][2011 veröffentlichten „Oslo, 31. August“]
davor. Als der drogenabhängige Anders die Entzugsklinik verlässt, bereitet
ihm nichts eine Freude, nicht einmal das langersehnte Date mit einer
Geliebten. Es folgt ein kopfloses Streifen durch Oslo, gefüllt von
flüchtigen Begegnungen. Da nichts davon seiner Hoffnungslosigkeit Linderung
verschaffen kann, kapituliert er schließlich.
Auch in der „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist Danielsen Lie dabei. Als
Mittvierziger Aksel, besagter 15 Jahre älterer Freund von Protagonistin
Julie, kämpft er weder gegen die Absurdität an noch flieht er vor ihr in
den Selbstmord: Er hat sie akzeptiert, sich als Zeichner von
politisch-unkorrekten Underground-Comics in einer Existenz eingerichtet, in
der zeitweises Aufbegehren dennoch Platz findet, quasi zum Berufsbild
gehört.
Nichtsdestotrotz steht Julie und damit erstmals eine weibliche Sinnsuche im
Fokus des letzten Teils der Trilogie. Dass ausgerechnet die stärker als in
den beiden vorangegangenen Filmen im Kontext von Partnerschaften erfolgt,
kann man durchaus kritisch anmerken. Den Film deswegen als rückschrittlich
oder sein Frauenbild gar als reaktionär zu klassifizieren, würde ihm jedoch
in keiner Weise gerecht.
Im Gegenteil: Obschon die Stärke eines jeden Films der Reihe vor allem in
der Präzision der Charakterstudien liegt, die Vogt und Trier anstellen, ist
Julie wohl die facettenreichste Figur aus der Feder des Autorenduos. Sie
ist es, die sich am stärksten jeder Zuschreibung entzieht – vor allem in
Karrieredingen.
## Collage ihres Lebens
Trier arbeitet mit einer hastigen Collage, um einen Überblick über die
Laufbahnen zu geben, in denen sie sich bereits versucht hat: Das
Medizinstudium bricht sie ab, nachdem sie feststellt, dass ihre
Leidenschaft immer schon der Seele statt dem Körper gegolten habe, wie eine
allwissende Erzählerin aus dem Off erklärt. Das Psychologiestudium wirft
sie hin, weil ihr klar wird, dass sie doch immer der visuelle Typ gewesen
ist, und beschließt schließlich, Fotografin zu werden.
Bei einem Event, bei dem sie als Fotografin vor Ort ist, lernt sie
allerdings Aksel kennen, und macht schließlich die neue Beziehung zum Dreh-
und Angelpunkt ihrer Existenz. In zwölf Kapiteln sowie einen Pro- und einen
Epilog unterteilt, führt Trier durch die Stationen ihrer Partnerschaft, und
ihre Verbundenheit darüber hinaus. In kurzen essayistischen Geschichten
begleitet der Film seine Protagonistin bei der Suche nach dem eigenen
Daseinszweck, lässt sie partielle Antworten finden – und sie zuverlässig
wieder verwerfen.
Auch Aksel wird verworfen, sobald ihre Beziehung ins Alltägliche abgleitet
und keine zufriedenstellende Raison d’être mehr liefert. Die Saat für das
Ende ihrer Partnerschaft wird bereits in dem Kapitel ausgebracht, in dem es
auf der Hochzeitsfeier zur Begegnung mit Eivind (Herbert Nordrum), einer
neuen möglichen Antwort, kommt.
Weil sie sich geschworen haben, ihren Partnern nicht untreu zu werden,
nähern sich Julie und Eivind ausschließlich über Formen, die per
definitionem nicht als Seitensprung gelten. Allerdings mehr, weil sie
derart abseitig sind, dass sie nicht ausdrücklich unter die Definition
eines solchen fallen – und nicht, weil sie nicht intim genug wären, um als
Untreue ausgelegt zu werden.
## Intimer Austausch
Sie erzählen sich ihr dunkelstes Geheimnis, pusten sich gegenseitig
Zigarettenrauch in den Mund, riechen gegenseitig an den Achseln des anderen
und gehen sogar voreinander auf die Toilette. Gerade dieses
Außergewöhnliche ihrer Begegnung ist es wahrscheinlich, das sie zueinander
hintreibt.
Wie groß Julies Hoffnungen sind, dass mit Eivind alles anders sein könnte,
bebildert Trier in der zweiten Hälfte mit einer überbordend langen Szene,
die stark an klassische romantische Komödien erinnert: Eines Morgens träumt
sie sich aus dem Alltag fort, rennt verzückt durch die plötzlich
stillstehenden Straßen Oslos und auf ihre ganz persönliche Erlöserfigur zu.
Beziehungsweise dem neuen Mann, in dem sie sie vermutet. Auch wegen seiner
Inszenierungsfreude ist „Der Schlimmste Mensch der Welt“ nicht nur der
Schluss-, sondern auch der Höhepunkt der Trilogie.
Doch natürlich hat ein solches „happily ever after“ in einer
existenzialistisch-brütenden Reihe keinen Platz. Während für Julie kurz
darauf eine weitere Episode der Selbstsuche beginnt, geht die des an
Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Aksels jäh zu Ende.
Ob die „Oslo“-Trilogie damit letztlich eine Reihe über die schreckliche
Absurdität oder doch die absurde Schönheit des irdischen Daseins ist, hängt
davon ab, ob man die Leben von Triers und Vogts Figuren mehrheitlich als
erfüllt betrachtet. Ob man das kann, steht und fällt wiederum einzig mit
der Fähigkeit, sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen.
1 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Arabella Wintermayr
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