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# taz.de -- „Meine Stunden mit Leo“ im Kino: Keine Spur von Bitterkeit
> In der Komödie „Meine Stunden mit Leo“ von Regisseurin Sophie Hyde
> brilliert Emma Thompson als Witwe auf der Suche nach sexuellen
> Erfahrungen.
Bild: Daryl McCormick (Leo) und Emma Thompson (Nancy) im Hotel
Dies hätte ein Film werden können, der sich schlicht in einen Trend
einreiht. Ein Trend, der von gealterten Frauen erzählt, die im letzten
Lebensdrittel noch mal nach dem großen Glück suchen. Meist wird in einem
[1][komödiantischen Ton] von den irrwitzigen Situationen erzählt, in die
sie sich dabei begeben.
Selbstermächtigend sollen Szenen wie jene aus dem 2019 erschienenen Film
„Gloria Bell“ sein, in der sich [2][Julianne Moore] in der titelgebenden
Hauptrolle einem Intimwaxing unterzieht, den Zwischenstand mit einem
Handspiegel etwas misstrauisch beäugt und dann anweist, an den Seiten noch
etwas zu stutzen. Das unterschwellige Gefühl, das Filme wie diese
vermitteln, ist eine nicht zu leugnende Bitterkeit. Am Ende tanzt Gloria
doch allein mit ihren Freundinnen, das Projekt „erfüllende Partnerschaft“
ist gescheitert.
Dass sich bei „Meine Stunden mit Leo“ von Sophie Hyde gar nicht erst der
Eindruck einschleicht, ob eine eigentlich schmerzliche Niederlage
„weg-empowert“ werden muss, liegt allein schon an der Protagonistin Nancy,
die eigentlich anders heißt und ein ganz anderes Ziel verfolgt, als die
große Liebe zu finden.
## Nie wieder vortäuschen
Mit Feuereifer spielt Emma Thompson eine verwitwete, pensionierte
Religionslehrerin, die während ihrer Ehe keine einzige befriedigende
sexuelle Erfahrung gemacht hat. „Als mein Mann starb, habe ich mir
geschworen, nie wieder vorzutäuschen“, bricht es bald aus ihr heraus, als
sie Leo – einem jungen Sexarbeiter, der ebenfalls anders heißt – in einem
Londoner Hotelzimmer gegenübersteht.
Zweckmäßig und routiniert sei der Beischlaf mit ihrem Ehemann gewesen,
führt sie aus. Nicht einen einzigen Orgasmus habe sie in ihrem Leben
gehabt. Auf einen solchen hoffe sie nun auch gar nicht, das wäre ein zu
verwegener Wunsch. Aber eine Frau von Welt wolle sie sein, und dafür
brauche es mehr sinnliche Erfahrungen als eine durchschnittliche Nonne sie
vorweisen kann.
Auch das Drehbuch der britischen Komikerin Katy Brand zeichnet seine
Protagonistin als quirlig-unbeholfene Frau in ihrem letzten Trimester, hat
dabei aber mehr als deren individuelle Suche nach Erfüllung im Blick. Mit
Daryl McCormack sieht sich Thompson einem charismatischen Spielpartner
gegenüber, mit dem sie in klugen Wortwechseln das sich über die
Generationen hinweg veränderte Verhältnis zu Sexualität und
Selbstverwirklichung austariert.
## Bemüht abgeklärt
Nancys bemüht abgeklärte Herangehensweise an die Treffen mit Leo speist
sich aus einer tiefliegenden Scham, als Frau – zumal ihres Alters –
überhaupt nach Erotik zu suchen, und damit aus einer Erziehung, die
weibliche Lust mit etwas Sünd-, zumindest aber Lasterhaften gleichsetzte.
Leo hat als Endzwanziger eine pragmatischere, freiere Haltung zu
Sexualität. Er betrachtet sie als Teil der Identität und plädiert dafür,
dass sie viel leichter zur Verfügung gestellt werden sollte. Der Film der
australischen Regisseurin [3][Sophie Hyde] geht dennoch nicht darüber
hinweg, wie stigmatisiert sein Beruf weiterhin ist. Der Familie sage er, er
arbeite auf einer Bohrinsel. Dass ihn seine Mutter längst verstoßen hat,
kommt später ans Licht.
Das ebenso feinfühlige wie stellenweise überaus lustige Kammerspiel kreist
damit auch um Fragen nach nicht aufgearbeiteter emotionaler Last. Dabei
wagt der Film durchaus, die erstaunlich harmonische Beziehung zwischen
seinen Protagonisten zu durchbrechen.
## Enorme Empathie
Das kommt hauptsächlich durch Leos enorme Empathie für die Unsicherheiten
seiner Kundin, seine nahezu unbeirrbare Intuition dafür, wie er auf sie
zugehen muss, zustande. Zum Bruch führt Nancys [4][Kontrollwahn], der sie
zu Recherchen zu seiner Person treibt und damit eine professionelle Grenze
überschreitet.
Dass sich am Ende alles zum Guten zu wenden scheint, kann man „Meine
Stunden mit Leo“ als unnötige Konfliktscheu vorwerfen. Andererseits kommt
es nur so zu einer Schlüsselszene, die wohl die stärkste im Film ist: Die
über 60-jährige Protagonistin steht nackt vorm Spiegel, mustert ihren
Körper und sieht wahrscheinlich erstmals in ihrem Leben mit einem Gefühl
von Behaglichkeit auf sich selbst. Da ist keine Spur von Bitterkeit.
13 Jul 2022
## LINKS
[1] /Komoedie/!t5019071
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[3] /Schwul-lesbische-Filmfestivals-im-Norden/!5031969
[4] /Schaulager-Basel/!5179507
## AUTOREN
Arabella Wintermayr
## TAGS
Großbritannien
Komödie
Altern
Romanverfilmung
Film
Kino
Historienfilm
Spielfilm
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