| # taz.de -- Romanverfilmung „Warten auf Bojangles“: Sorgen sind so vulgär | |
| > Der französische Regisseur Régis Roinsard macht in seinem Film „Warten | |
| > auf Bojangles“ eine bipolare Störung zur bonbonbunten Tragikomödie. | |
| Bild: Fragiles Glück: Camille (Virginie Efira), Georges (Romain Duris) und Soh… | |
| In seinen ausgelatschten Schuhen und abgerissenen Klamotten tanzte Mr. | |
| Bojangles in einer Knastzelle oder auch für ein bisschen Trinkgeld in der | |
| Bar. Ein melancholisches Stehaufmännchen, das Sammy Davis Jr. mit dem Song | |
| „Mr. Bojangles“ weltberühmt machte. | |
| Geschrieben hatte den Ohrwurm 1968 der im vorletzten Jahr verstorbene | |
| Countrymusiker Jerry Jeff Walker, seitdem wurde das Lied mit der | |
| eingängigen Melodie und dem leichten Weltschmerz von unzähligen | |
| Sänger*innen höchst unterschiedlich interpretiert, mal swingend von | |
| Robbie Williams, mal zu Tränen rührend von Nina Simone. | |
| Und er diente als Inspiration für Titel, Thema und Tonfall eines | |
| französischen Bestsellers, Olivier Bourdeauts „Warten auf Bojangles“, der | |
| nun als nostalgische Tragikomödie verfilmt wurde. | |
| ## Südfrankreich der späten 50er Jahre | |
| Hier in der Schmelzsoulvariante von Marlon Williams ist das Stück der | |
| Lieblingssong von Camille [1][(Virginie Efira)] und Georges (Romain Duris), | |
| der das Liebespaar bei allen Hochs und Tiefs begleitet. Und davon gibt es | |
| mehr als genug. Auf einer mondänen Gartenparty im Südfrankreich der späten | |
| 1950er Jahre treffen sie aufeinander, zwei extravagant Unangepasste voller | |
| Lebenslust inmitten einer saturiert-bourgeoisen Gesellschaft, und es | |
| sprühen sofort Funken. | |
| Georges hat sich da bereits mit diversen Lügengeschichten und | |
| Fake-Biografien bei diversen Damen interessant gemacht, als er eine | |
| tanzende junge Frau entdeckt, die mit ihrer charmant-schillernden Art die | |
| Blicke auf sich zieht und sich im ersten Flirt mit Georges immer wieder | |
| neue Vornamen gibt. Georges ist hingerissen, doch sein Schwindel fliegt auf | |
| und die beiden flüchten kurzentschlossen. | |
| Wie im Rausch rasen sie mit dem Cabrio durch die Landschaft, bis sie just | |
| vor einer Kapelle bruchlanden, in der sie sich flugs selbst verheiraten. Am | |
| Altar schwört Georges nicht nur, Camille zu lieben und zu ehren, sondern | |
| alle Frauen, die sie sein wird. Ebendort zeugen sie gleich noch ihren Sohn, | |
| den sie später Gary nennen, nach Gary Cooper, dem Hollywoodstar. | |
| So turbulent-schwindelerregend, unbekümmert und in quietschbunten | |
| Pastelltönen beginnt Régis Roinsards Nostalgiekomödie, die in weiten | |
| Teilen mit ihrem Eskapismus eine Sehnsucht nach unbeschwerten Vergnügen | |
| bedient, die von Krieg, Pandemie und Inflation nichts wissen will. | |
| ## Luftschlösser und Cocktailpartys | |
| Auch nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren, die beiden Enfants | |
| terribles sind inzwischen Eltern, aber noch immer Kindsköpfe, die in Saus | |
| und Braus leben, Luftschlösser bauend die als banal empfundene Wirklichkeit | |
| verdrängen und in ihrer prachtvollen Wohnung allabendlich rauschende | |
| Cocktailpartys geben, während sich die Post ungeöffnet meterhoch im Flur | |
| stapelt. | |
| Aus Gary ist ein aufgeweckter Junge geworden, der jedoch in der Schule | |
| gemobbt und verprügelt wird, wenn er vom unglaublichen Familienleben | |
| erzählt und niemand ihm glauben will. Und irgendwann bekommt diese | |
| überdreht fröhliche Traumwelt des exzentrischen Trios tatsächlich kleine | |
| Risse, der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür, Camille fühlt sich | |
| zunehmend einsam, wenn Georges tagsüber einer Lohnarbeit nachgeht, sie | |
| reagiert oft unberechenbar. | |
| Er überspielt das lange mit strahlendem Lächeln, Besorgnis ist schließlich | |
| ein vulgäres Gefühl. Als ihre manischen und depressiven Phasen extremer | |
| werden, wird sie schließlich in die Psychiatrie eingewiesen, wo ihre | |
| Erkrankung weniger behandelt als bestraft wird. Bis ihre Jungs sie in | |
| unnachahmlicher Art von dort zu befreien versuchen. | |
| Die Vorlage, der Debütroman des 1980 geborenen Olivier Bourdeaut, traf 2016 | |
| einen Nerv mit den surrealen Anleihen an Boris Vian („Der Schaum der Tage“) | |
| und [2][Nobelpreisträger Patrick Modiano] („Im Café der verlorenen Jugend�… | |
| und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ein Regisseur wie Roinsard | |
| dafür interessierte, der sich mit der Filmkomödie „Mademoiselle Populaire“ | |
| (2012) bereits als Erschaffer zuckersüßer Nostalgiewelten empfahl. | |
| ## Tanz auf dem Vulkan | |
| Sein neuer Film schlägt zwar vor allem in der zweiten Hälfte durchaus | |
| dunklere Töne an, bleibt aber stets an der wohlfühlig-patinierten | |
| „Amélie“-Oberfläche und nimmt letztlich die Erkrankung seiner weiblichen | |
| Hauptfigur nicht ernst, wird dem komplexen Thema psychische Gesundheit oder | |
| der unbenannt bleibenden bipolaren Störung nicht gerecht, sondern erzählt | |
| von einer Amour fou als Tanz auf dem Vulkan. | |
| Nur hin und wieder bricht die Wirklichkeit der Nachkriegsjahre ein, wenn in | |
| einem Nebensatz erwähnt wird, dass Camilles Vater zur Zeit der deutschen | |
| Besatzung „nicht zu den Guten“ gehörte und sich Jahre später auf dem | |
| Dachboden erhängte, wo ihn Camille als kleines Mädchen fand. | |
| Für das gefährdete Außenseitertum seiner Figuren findet der Film jedoch | |
| keine eigene Position, er illustriert lediglich die Fantasiewelten und | |
| gefällt sich im leichten Ankratzen der glänzenden Bonbonschale. Am ehesten | |
| artikuliert sie sich noch im Schmelz von „Mr. Bojangles“ und seinem Tanz am | |
| Abgrund, damit das Leben weitergeht, so traurig der Verlust am Ende auch | |
| ist. | |
| 4 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Abeltshauser | |
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