# taz.de -- Neuer Roman von Patrick Modiano: Schattenfiguren mit Schuldgefühlen | |
> Der Nobelpreisträger Patrick Modiano macht in seinem neuen Roman der | |
> nostalgischen Figur des teilnahmslosen Beobachters den Prozess. | |
Bild: Paris – die Stadt, die mit „existenzialistisch gewirkten Sätzen zum … | |
Es wirkt alles leicht, fast magisch, doch zugleich ist es transparent. | |
Selten einmal öffnet sich ein Roman so einfach, so selbstverständlich wie | |
dieser. Ein paar Namen nur von Straßen und Personen: „Dannie, Paul | |
Chastagnier, Aghamouri, Duwelz, Gérard Marciano, 'Georges', das Unic Hotel | |
in der Rue du Montparnasse“, und schon stellen sich die Bilder ein aus dem | |
Paris der sechziger Jahre, als St. Germain den Glanz einer intellektuellen | |
Weltkapitale ausstrahlte und selbst die Schattenwelten in den schummrigen | |
Bars in elegantes Schwarzweiß getaucht war. | |
Die Bilder zeigen eine junge Frau wie aus einem Piaf-Chanson, die sich | |
Dannie nennen lässt, ein leichtes Mädchen wahrscheinlich, stets bedroht von | |
der Gosse, was Jean, der Erzähler, als junger Verehrer nicht sehen mag. Und | |
sie holen Mantelgestalten wie aus einem Melville-Film hervor, deren | |
klangvolle Namen von klandestinen Geschäften künden, die längst verjährt | |
sind, mit Ausnahme des Mords, der irgendwie mit Jeans Erinnerungen | |
verbunden sein muss, beunruhigend wie ein schlechter Traum. | |
Dass er nicht geträumt habe, behauptet Jean schon im ersten Satz des | |
Romans, und als Beweis listet er die Namen all jener aus seinem Leben | |
Verschwundenen auf, die er fünfzig Jahren zuvor in sein Notizbuch | |
gekritzelt hat. Wie eine Beschwörungsformel liest er die Wörter immer | |
wieder, und mit jeder Lesung setzt der Roman neu an. Man könnte ihn auch | |
irgendwo in der Mitte zu lesen beginnen, so offen ist dieser Text, von der | |
Mitte über das Ende hinaus bis zum Anfang und weiter, was auch bedeutet: | |
Der Erzähler bewegt sich im Kreis. | |
Denn so leicht sich ihm die Bilder einstellen und so fließend sie | |
aneinandergereiht sind, so flüchtig sind sie zugleich, und sie wollen sich | |
nicht zusammenfügen zu den Geschichten, auf die sie verweisen. Vom | |
zauberhaften Dahingleiten in den Erinnerungen handelt dieser Roman und | |
zugleich vom Abgleiten in die Gefangenschaft eines Schwebezustands, in dem | |
sich die Bilder nur unablässig überblenden, ohne Aussicht, die Welt, die | |
sie abbilden, je zu begreifen. | |
## Zauberhaftes Dahingleiten | |
Als wolle er die diffusen Bilder erden, bricht Jean auf zu Streifzügen in | |
die Stadt, sucht auf Straßenschildern nach Breschen durch die Zeit, und | |
manchmal scheint es ihm zu gelingen: Einmal sieht er sich durch die eigenen | |
Erinnerungen gehen, aber wie ein Zwilling, der parallel im Paris seiner | |
Jugend lebt. Der Doppelgänger Jean erscheint dabei zugleich als | |
Wiedergänger früherer Erzähler Modianos, die wie er als Schriftsteller das | |
Erinnern zu ihrem Beruf gemacht haben und dabei völlig zu verschwinden | |
scheinen hinter ihren Beobachtermasken, was sie wiederum mit dem Autor | |
Patrick Modiano verbindet. Nichts fürchten sie mehr als die Schleier, die | |
sich über die Erinnerung legen, außer dass der Schleier, der ihre Existenz | |
verbirgt, sich einmal hebt. | |
So kommt es vielleicht auch, dass sich mit dem Namen des diesjährigen | |
Nobelpreisträgers weniger das Bild einer öffentlich gegenwärtigen Person | |
als eines Literatentyp verbindet, der aus dem Fundus der Pariser Folklore | |
jener Zeit stammt, die Modianos Bücher beschwören. Durch seine Romane | |
geistern auch immer die Erinnerung an die pathetisch ernsten Jungdichter, | |
die vor einem halben Jahrhundert die Stadt mit existenzialistisch gewirkten | |
Sätze zum zentralen Ort eines modernen Lebensgefühls erhöhten, wenn sie ihr | |
Fremdsein mit sich selbst postulierten. Zuletzt war es Patrick Modiano so | |
gut gelungen, sich hinter den Beobachtermasken in seinen Büchern zu | |
verbergen, dass sein Name diesen Typus fast wie ein Klischeebild evoziert. | |
In „Gräser der Nacht“ macht Modiano dieser nostalgischen Figur, die sich | |
zum teilnahmslosen Beobachten verurteilt versteht, den Prozess. | |
Es ist nicht nur der süße Schmerz des Verlusts, der Jean nicht loskommen | |
lässt von Dannie. Zugleich treibt ihn ein Schuldgefühl an, das ihm seltsam | |
unverstanden bleibt, aber im Verlauf des Romans subtil korrespondiert mit | |
der Befreiung aus den Fesseln der Empathie, die nichts als bürgerlicher | |
Ballast war für den jungen Dichter. Die sensible Distanz in der | |
Beschreibung, für die Modiano zu Recht berühmt ist, zeigt in diesem Roman | |
ihre kalte Schattenseite, denn die Übergänge von der Diskretion zum | |
Desinteresse sind fließend, und Jeans jugendliche Ignoranz lässt in seinem | |
Gedächtnis nur blinde Flecken zurück. | |
## Das nie Gesuchte der Bilder | |
Jean, der kein Wort hat für seine Gefühle zu Dannie, bleibt es versagt, | |
seine Erinnerungen aus einer anderen als der eigenen Perspektive zu | |
verstehen. Dabei hat Modiano ihm eine Schattenfigur beigesellt, einen | |
Polizisten, der die Geschichte Dannies als Mordermittlung erzählen kann. | |
Beide verbindet das unausgesprochene Gefühl, auf der sicheren Seite des | |
Lebens zu stehen. Das Ich, das mag zwar ein anderer sein, ein Zwilling, der | |
an seiner existenziellen Einsamkeit leidet, aber die wirklich anderen, das | |
ist die Halbwelt, das sind Mädchen wie Dannie, und vor allem sind das die | |
Migranten aus dem Maghreb. | |
Elisabeth Edl, die ein bewegliches, melodiöses Deutsch für ihre Übersetzung | |
gefunden hat, weist darauf hin, dass Modiano mehrmals im Roman an die | |
Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka erinnert, und nichts | |
konturiert Jeans Ignoranz schärfer als seine Gleichgültigkeit gegenüber dem | |
Fall. | |
Sie verleiht aber auch der Sprache eine seltene Leichtigkeit. Immer wieder | |
überrascht der geringe Aufwand an Worten, das nie Gesuchte der Bilder und | |
die Offenheit der Erzählbewegung. Nie ist es einfacher gewesen, Zugang zu | |
finden zum Werk eines Nobelpreisträgers, und kaum einmal gelangt eine | |
sentimental motivierte Prosa zu einer erzählerischen Klarheit wie in diesem | |
Roman. | |
8 Nov 2014 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jost Weyandt | |
## TAGS | |
Patrick Modiano | |
Paris | |
Roman | |
Französische Literatur | |
Roman | |
Nobelpreis | |
Literatur | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neuer Roman von Patrick Modiano: Ein Leichtgewicht | |
Nach bewährtem Muster: Patrick Modiano durchstreift in seinem neuen Roman | |
„Die Tänzerin“ das nur allzu gut bekannte Paris der Erinnerung. | |
Utopisches Buch „Die bleichen Füchse“: Aussteigen mit Yannick | |
In seinem Roman „Die bleichen Füchse“ entwirft der französische | |
Schriftsteller Yannick Haenel einen Aussteiger. Dem ist Aktualität egal. | |
Reaktionen auf Literaturnobelpreis: In flagranti als Nichtleser ertappt | |
Selbst in seinem Heimatland ist die Auszeichnung von Patrick Modiano eine | |
Überraschung. Die meisten kannten bisher nur seinen Namen. | |
Kommentar Literaturnobelpreis: Nicht falsch, aber auch nicht wichtig | |
Der Literaturnobelpreis für Modiano trifft nicht den Falschen, setzt aber | |
auch keine Maßstäbe. Die Akademie hätte deutlichere Zeichen setzen können. | |
Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano: Bücher, die sich von allein erzäh… | |
Patrick Modiano distanziert sich nicht von seinen Erzählern. Dadurch | |
gewinnen die Texte des Literaturnobelpreisträgers eine verletzliche | |
Leichtigkeit. | |
Literatur-Nobelpreis für Patrick Modiano: Ganz besondere „Erinnerungskunst“ | |
Der Nobelpreis für Literatur geht an den französischen Schriftsteller | |
Patrick Modiano. Sein Werk beschäftigt sich vor allem mit dem Zweiten | |
Weltkrieg. |