# taz.de -- Neuer Roman von Patrick Modiano: Ein Leichtgewicht | |
> Nach bewährtem Muster: Patrick Modiano durchstreift in seinem neuen Roman | |
> „Die Tänzerin“ das nur allzu gut bekannte Paris der Erinnerung. | |
Bild: Stadt mit vielen Gesichtern: Paris in den 60er Jahren | |
Erinnern bereitet Arbeit. Dass zurückliegende Ergebnisse nicht einfach eine | |
Spur im Gedächtnis hinterlassen, zu der man auf kurzem Weg zurückfinden | |
kann, hat der Philosoph Paul Ricœur mehrfach beschrieben: Erinnern ist | |
keine passive Angelegenheit. Am Anfang steht der Reiz, ein Geruch etwa, am | |
Ende das nebelverhangene Bild aus der Vergangenheit. [1][Patrick Modiano] | |
genügte auch schon mal das Klicken eines Feuerzeugs, um seine Figuren im | |
Geiste Jahrzehnte überbrücken zu lassen. | |
Modiano sucht diese Reize gezielt. In seinem neuen Roman „Die Tänzerin“ | |
streift der Erzähler durch die vom Massentourismus gebeutelte französische | |
Hauptstadt; nur allzu bereit, sich in das von Akkordeonklängen untermalte, | |
stets nah am Kitsch gezeichnete Paris zurückspülen zu lassen, das Modiano | |
in all seinen Romanen heraufbeschwört. | |
Es ist die Begegnung mit einem alten Bekannten, der freilich nicht zugibt, | |
ebenjener Bekannte zu sein, die ihn an die 1960er Jahre zurückdenken lässt. | |
Damals liebt der Erzähler eine Tänzerin und passt regelmäßig auf deren Sohn | |
auf. Die Tänzerin bewältigt ihr Leben mit strenger Disziplin. Wie sie | |
wirklich zu dem Erzähler steht, weiß auch der nicht. Ab und an verbringen | |
beide die Nacht im Bett mit der Mäzenin Pola Hubersen. | |
Pola? Paula? Der Erzähler zögert, denn geschrieben hat er ihren Namen wohl | |
nie gesehen. Wer sich so exzessiv mit dem Erinnern beschäftigt wie Modiano, | |
macht seine Sache gut: Derart genaue Einblicke in die Feinmechanik der | |
Erinnerungsmaschine bekommt man selten. | |
## Nach bewährtem Muster | |
In der „Tänzerin“ spielt sich alles nach bewährtem Modiano-Muster ab: Es | |
gibt Berührungspunkte mit dem kriminellen Milieu, mysteriöse Frauen, selbst | |
die Vororte kennt man bereits. Modianos neuester Roman ist jedoch besonders | |
skizzenhaft, was die wohlgesinnte Leserin ihm als Methode auslegen kann, | |
jagt die Tänzerin doch dem Moment der Schwerelosigkeit nach. | |
Kurz kommt einem sogar Paul Valéry in den Sinn, der in „Tanz, Zeichnung und | |
Degas“ über jenen berühmten Maler nachdenkt, der versessen darauf war, | |
Bewegung auf Leinwand zu bannen. Aber doch eben nur kurz. Denn eigentlich | |
ist Modianos Roman eher inhaltsleer denn schwerelos. Zu einer Geschichte | |
fügt sich das Ganze nicht zusammen. | |
Man fragt sich schließlich, warum dieses mit 96 Seiten äußerst schmale Buch | |
als eigenständiger Roman erscheint, der sich recht fugenlos auch aus einem | |
seiner früheren Romane herausgelöst haben könnte. In „Unterwegs nach | |
Chevreuse“ etwa erinnert sich der Erzähler an das gleiche Paris, an eine | |
Frau mit unbekannter Vergangenheit, Rätsel, Straßenzüge. | |
Womöglich gerät das Erinnern auch mehr und mehr zum Nationalsport, immerhin | |
erscheinen von [2][Annie Ernaux] – wie Modiano französische:r | |
Literaturnobelpreisträger:in – jährlich neue Übersetzungen ihrer | |
Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an Partner und Verwandte. | |
## Verzicht auf Konstruktion | |
Ob es das tatsächliche, das eigene oder ein ausgedachtes Leben ist, an das | |
sich Ernaux wie Modiano erinnern, ist irgendwann auch nicht mehr wichtig, | |
wenn es zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde. Was autofiktionales von | |
nichtautofiktionalem Schreiben unterscheidet, ist ja weniger das | |
Zurückgreifen aufs biografische Material, auf den eigenen Erfahrungsschatz | |
als der weitgehende Verzicht auf Verfremdung und Konstruktion. | |
Modiano scheint einer Wahrheit verpflichtet, die die Gattung Roman nicht | |
einfordert. Er selbst hat in einem früheren Roman einmal von | |
„Geheimprovinzen“ geschrieben, die sich als Netz persönlicher | |
Referenzpunkte über Straßen und Plätze legen. Wem die Karte für diese | |
Provinzen fehlt, dem bleibt das Schichtwerk darunter verborgen. Sichtbar | |
ist nur das Gestein; und das ist ziemlich grau. | |
10 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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