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# taz.de -- Roman „Die Postkarte“ von Anne Berest: Die verlorene Erinnerung
> Anne Berest erforscht das Schicksal ihrer im Zweiten Weltkrieg
> deportierten Vorfahren. Ihr Roman ist erschütternde Erinnerungsliteratur.
Bild: Wer könnte die Postkarte geschrieben haben? Anne Berest mit ihrer Mutter…
Erinnerungsliteratur ist nicht nur en vogue, sie ist mittlerweile
unüberschaubar und häufig von geringem Interesse. Ganz anders der Roman
„Die Postkarte“ von Anne Berest, der nicht nur eine Familienchronik ist,
sondern eine Spurensuche nach den verschwundenen Verwandten, die fast alle
von den Nazis ermordet wurden.
Die Einzige, die davonkam, ist Myriam, die Großmutter, die jedoch, um die
Geister der Toten nicht zu wecken, nie über die Zeit des Schreckens
spricht. Berest begibt sich auf die Reise in eine weit entfernte
Vergangenheit, auf der sie Erschütterndes erfährt und dies auf eine Weise
beschreibt, die durch Schlichtheit und Eleganz besticht.
Erste Nachforschungen hat bereits Berests Mutter Lélia angestellt, die
ihrem Kind schon früh erzählt, woher es kommt und was passiert ist. Der
Name Lélia bedeutet im Hebräischen die „Leuchtende“, das Licht in der
Dunkelheit, die ihre Mutter Myriam erlebt hat und die die Tochter
durchdringen soll. Lélia hatte schon als Kind gefragt, warum die Gäste auf
einem Fest alle eine Nummer auf dem Arm hatten. Das seien Telefonnummern,
hatte ihre Mutter genervt geantwortet, denn ältere Leute wären nun mal
vergesslich.
Irgendwann glaubt Lélia das nicht mehr. Sie will mehr wissen, denn sie hat
keine Großeltern und keinen Vater. Der hatte sich umgebracht, als Lélia
drei Jahre alt war. Von ihm hat sie nur den Namen: Picabia. Vicente Picabia
war der spät Geborene der Musikerin und Schriftstellerin Gabriële Buffet
und des Schriftstellers und Künstlers [1][Francis Picabia,] als die Ehe
schon in die Brüche gegangen war, ein Verlorener, für den seine Eltern
keine Zeit hatten. Vicente muss später sogar seinen Platz für seinen
berühmten Vater im Familiengrab räumen.
Lélias Großeltern mütterlicherseits waren russische Juden, die zuerst nach
Riga flüchten müssen, von dort aus nach Palästina, wo sie es nicht lange
aushalten, um sich schließlich in Paris eine Existenz aufzubauen.
Im Land der Aufklärung und der Menschenrechte glaubt sich Ephraim, der
Großvater, sicher, er ignoriert die bedrohlichen Anzeichen, er fühlt sich
zu alt, um erneut zu flüchten. Und waren in Amerika nicht schon genug
Juden? Hätte er da überhaupt eine Chance? Er bleibt und verschließt die
Augen davor, dass sich die Schlinge um ihn und seine Familie immer enger
schließt.
## Flieh doch endlich!
Es ist nur einer spontanen Eingebung zu verdanken, dass er seiner ältesten
Tochter Myriam befiehlt, sich zu verstecken, als seine beiden anderen
Kinder abgeholt werden. Die Zwangsläufigkeit, mit der das alles geschieht,
ist schwer zu ertragen, und man ertappt sich dabei, wie man denkt, flieh
doch endlich! Obwohl ihn Frankreich als Staatsbürger nicht will, ist
Ephraims Glaube an das Land unerschütterlich. An ihm erfüllt sich aber
nicht nur das unerbittliche Schicksal eines Staatenlosen, sondern das eines
aller Rechte beraubten Juden.
Im Dorf, das Lélias Großeltern verließen im Glauben, wieder zurückzukommen,
sucht Anne Berest nach Zeitzeugen, und entdeckt dabei das Klavier ihrer
Familie im Haus eines der Nachbarn, die damals schnell dabei waren, sich an
den von Laken bedeckten wertvollen Möbeln zu bereichern.
Was macht man dann, Jahrzehnte später? Es ist schon schwierig, von den
Behörden einen Totenschein zu bekommen, weil die französische Verwaltung
nicht von „im Lager Umgekommenen“ spricht, sondern von „nicht
Zurückgekehrten“, als würden die deportierten Juden noch leben und um damit
zu verdeutlichen, dass man nichts damit zu tun hat und deshalb auch keine
Ansprüche stellen kann.
Man verweigert den Überlebenden die Anerkennung des rassistischen Motivs
der Verfolgung und behauptet stattdessen, es hätte sich um „politische
Gründe“ gehandelt. Erst 1996 (!) ringt sich die Behörde zu dem Vermerk
„gestorben in der Deportation“ durch, so dass die Überlebenden eine
Korrektur der betreffenden Sterbeurkunde erwirken können.
## Wichtige Figuren in der Résistance
Aber Myriam ist entkommen. Sie trägt keinen Judenstern und geht weiter an
die Uni in Paris, wo sie zufällig Vicente Picabia trifft und ihn 1941
heiratet, ohne zu ahnen, wie verloren er wirklich ist. Hätte die ältere
Schwester Vicentes – Jeanine – den Frischvermählten nicht gesagt, dass es
höchste Zeit ist zu flüchten, wäre diese Geschichte nie aufgeschrieben
worden.
Jeanine ist eine wichtige Figur im Widerstand und wird von De Gaulle am 12.
Mai 1943 mit der Médaille de la Résistance ausgezeichnet, vor allem für die
Nachricht von in Brest vor Anker liegenden deutschen Kriegsschiffen, die
aufgrund dieser Information von der englischen Luftwaffe schwer beschädigt
werden konnten. Auch Marcel Duchamp ist im Widerstand. Und [2][Samuel
Beckett] steigt rasch zum Feldwebel im Netzwerk Gloria SMH auf, während
René Char eine wichtige Rolle dabei spielt, den zersplitterten Widerstand
zu verbinden und die zögernden Menschen mitzureißen.
In den Notizen von Myriam, die Lélia nach ihrem Tod findet, steht, sie habe
„die Demarkationslinie zusammen mit Hans Arp in einem Kofferraum
überquert“, der als „entarteter Künstler“ auf der schwarzen Liste der N…
steht. Auch Myriam schließt sich dem Widerstand an, macht Botengänge,
überbringt verschlüsselte Nachrichten und hört BBC, um Berichte über den
neuen Kriegsverlauf zu verfassen.
Sie verbringt lange Zeit auf dem Hochplateau von Claparèdes in einer
verlassenen Hütte zusammen mit dem von Unruhe getriebenen Vicente, der
süchtig ist nach Amphetaminen, mit denen sich die Angst unterdrücken lässt,
und ihrem späteren Mann Yves Bouveris, der wie viele junge Männer sich der
Anordnung der Behörden widersetzt und dem Arbeitsdienst in Deutschland
entzogen hatte.
## Das Hotel der lebenden Toten
Nach Kriegsende geht Myriam täglich zum Hotel Lutetia, einem ehemaligen
Luxushotel mit 350 Zimmern, das für die Rückkehr der deportierten Franzosen
beschlagnahmt wird. Es herrscht ein riesiges Chaos auf dem Boulevard
Raspail, denn die bis auf die Knochen abgemagerten Lagerinsassen
erschrecken die Pariser, die dennoch jeden Neuankömmling bedrängen, um
etwas über ihre vermissten Verwandten in Erfahrung zu bringen.
Auch Myriam sucht nach ihren Eltern und Geschwistern. Immer noch macht sie
sich Hoffnungen, noch immer ist die Wahrheit über die Lager nicht bekannt.
Eine Unmenge von Fotos der Vermissten hängt im Foyer des Hotels, aber
Myriam hat keine Fotos. Sie kann nur ihre Namen auf einem Zettel schreiben
und an die Wand heften. Kurze Zeit später wird das „Hotel der lebenden
Toten“ geschlossen. Myriam hat niemanden gefunden, der ihr etwas über ihre
Familie hätte erzählen können.
Das alles findet Berest im Zuge ihrer Recherchen eines merkwürdigen
Vorfalls heraus. Eine Karte mit den vier Vornamen der Familie Rabinovitch,
die in Auschwitz getötet wurden, taucht 2003 im Briefkasten von Lélia auf,
die sie als ungelöstes Rätsel in einer Schublade verwahrt. Mit diesem
genialen Kunstgriff, nämlich herauszufinden, wer diese Postkarte
geschrieben haben könnte, geht Anne Berest der vagen Spur ihrer
biografischen Herkunft nach. Auch wenn die Anhaltspunkte dürftig sind, die
Autorin fügt die Puzzleteile zusammen, die nach und nach ein überraschendes
Gesamtbild einer Geschichte ergeben, die nie zu Ende erzählt sein wird.
Anne Berest kennt man hierzulande durch die mit leichter Hand geschriebene
Abhandlung „How To Be Parisian“. Diesmal ist ihr ein bewegendes Werk über
ihre Familie gelungen, ein großes Buch der Erinnerung, das in der Suche
nach und im Zusammentragen von Details nicht zufällig ein wenig an Patrick
Modiano erinnert, mit dessen autobiografischem Buch „Ein Stammbaum“ sie
sich beschäftigt und das sie für das Theater bearbeitet hat.
In ihrem Roman spiegelt sich die ganze Tragödie wider, deren Protagonisten
Anne Berest ein Gesicht verleiht, und indem sie sie in ihrem Buch wieder
lebendig werden lässt, erfüllt sie den letzten Wunsch ihrer Großmutter
Myriam.
6 Jun 2023
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## AUTOREN
Klaus Bittermann
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