# taz.de -- Roman „Serge“ von Yasmina Reza: Anstrengende Menschen | |
> Die französische Autorin Yasmina Reza hat ein Konversationsdrama in | |
> Prosaform geschrieben. Es geht um einen Familienausflug nach Auschwitz. | |
Bild: Die französische Schriftstellerin Yasmina Reza im Jahr 2017 | |
Serge kann ein wahrer Kotzbrocken sein. Einerseits. Andererseits ist er | |
Familie, und das schlägt alles. Diese Familie unternimmt in diesem Roman | |
eine Reise nach Auschwitz; und wenn man die hiesigen Rezensionen von | |
Yasmina Rezas neuestem Werk scannt, könnte man den Eindruck bekommen, dass | |
Auschwitz das Hauptthema des Romans sei. | |
Das stimmt nicht ganz. Falls es ein Hauptthema in diesem Roman gibt, so ist | |
es am ehesten das soziale Konstrukt Familie und die Frage nach einer | |
gemeinsamen familiären oder/und jüdischen Identität. Auschwitz kommt in | |
diesem Zusammenhang die Rolle eines extremen Schauplatzes zu, in dessen | |
Rahmen die Autorin unter anderem die charakterlichen Defizite ihrer | |
Hauptfigur besonders pointiert offenlegen und nebenbei auch zeigen kann: | |
Das Wissen um die Shoah, selbst wenn vermittelt durch eine sehr achtsame | |
Gedenkkultur, macht niemanden zu einem besseren Menschen. | |
Also hat die Menschheit durch Auschwitz nichts gelernt. Das ist wohl | |
ungefähr das, was Serge selbst sagen würde, der es schafft, sich während | |
der Auschwitz-Reise so sehr mit seiner Schwester zu streiten (und dabei | |
eindeutig im Unrecht ist), dass beide danach monatelang nicht miteinander | |
reden. | |
Die Familie also: Sie konstituiert sich in diesem Roman, der mit der | |
Beerdigung der alten Mutter beginnt („Ist doch verrückt, dass sich eine | |
Jüdin einäschern lässt“, kommentiert Enkelin Joséphine befremdet), aus dr… | |
Geschwistern und ihrem Anhang. Serge ist in den Sechzigern, Jean, der die | |
Rolle des (ausgleichenden, aber dem Bruder gegenüber eher unkritischen) | |
Ich-Erzählers übernimmt, wenige Jahre jünger; und die Schwester Nana ist | |
mit gewissem Abstand die Jüngste. Nana ist als Einzige glücklich | |
verheiratet; allerdings finden ihre chronisch ungebundenen Brüder den | |
langjährigen Gatten der Schwester kaum standesgemäß. | |
Jean seinerseits hat es nie geschafft, eine ernsthafte Beziehung | |
einzugehen, und pflegt ein lockeres Verhältnis zu einer Frau, um deren | |
kleinen Sohn er sich gern kümmert. Serge hat eine Tochter, Joséphine, aus | |
einer verflossenen Beziehung. Gerade ist er obdachlos geworden, denn seine | |
Freundin hat ihn vor die Tür gesetzt. | |
Man kann sie sich alle als anstrengende Menschen vorstellen. Yasmina Reza | |
verschwendet keine Zeit mit expliziten Charakterzeichnungen, liefert nur, | |
vor allem vermittelt durch die Dialoge, andeutungsreiche Skizzen. Joséphine | |
ist ein gutes Beispiel; denn da Ich-Erzähler Jean mit seiner Nichte wenig | |
anfangen kann, muss man sie durch andere Zeichen lesen. Die 23-jährige | |
Tochter von Serge ist zu dessen großbürgerlicher Enttäuschung Visagistin | |
geworden, läuft mit einer gestylten „Ananas-Frisur“, wie ihr Onkel es | |
nennt, durch Auschwitz und macht ununterbrochen Fotos, was Jean sehr | |
irritiert: „‚Schrecklich‘, sagte Joséphine und machte noch ein paar | |
Außenaufnahmen vom Krematorium. Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit | |
schrecklich, unfassbar usw. sagen? fragte ich mich.“ | |
Doch es ist Joséphine, die den Familienausflug nach Auschwitz überhaupt | |
initiiert hat und die ihren widerstrebenden Vater zwingt, die Räume der | |
Gedenkstätte auch zu betreten, wenn er schon mal da ist. „Gerade hab ich | |
ihr für ein Wahnsinnsgeld eine Augenbrauen-Fortbildung bezahlt, da könnt | |
ihr mal sehen, und jetzt will sie nach Auschwitz, was hat das Mädchen | |
bloß?“, äußert Serge sein Unverständnis für das ganze Unternehmen. Für | |
seine Tochter aber scheint „Auschwitz“, einigermaßen absurderweise, als | |
Konzept zentral für eine jüdische Identität zu sein, nach der sie sucht, | |
die der älteren Generation aber eher wumpe ist. | |
Dass sich aus deutscher Sicht die ironisch gefärbten Auschwitz-Passagen | |
anders lesen als aus französischer Perspektive, versteht sich von selbst. | |
Eine deutsche Autorin könnte nicht tun, was Reza hier tut. Auf keinen Fall | |
könnte zum Beispiel ein nichtjüdischer deutscher Ich-Erzähler sich lustig | |
machen über israelische Touristen, die sich für die Besichtigung eines KZs | |
in ihre Nationalflagge wickeln. Und natürlich fühlt man bei der Lektüre ein | |
gewisses Widerstreben, solche Beobachtungen amüsant zu finden, weil damit | |
ein tief verinnerlichtes Tabu verletzt wird. Aber Reza macht ja keineswegs | |
aus Auschwitz eine Lachnummer, sondern nimmt nur die Formen des Gedenkens | |
aufs Korn. | |
Ihre Beobachtungen sind dabei gut austariert zwischen sanft satirischen | |
Passagen und beklemmenden Momenten. Allerdings geht es in diesem Roman eben | |
eher so nebenbei um Auschwitz und ansonsten um eine Menge anderer Dinge: um | |
das Verschwinden des Jüdischseins in einer säkularen Gesellschaft. Um | |
Männer von großem Selbstbewusstsein, die im fortgeschrittenen mittleren | |
Alter die erste existenzielle Krise erleben. Und um die Familie, die man | |
halt immer so nehmen muss, wie sie ist. Aber andererseits ist sie wohl auch | |
das, was man draus macht. | |
15 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Roman | |
Buch | |
Vergangenheit | |
Auschwitz | |
Familie | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Literatur | |
Roman | |
Bergen-Belsen | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Holocaust | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Roman „Die Postkarte“ von Anne Berest: Die verlorene Erinnerung | |
Anne Berest erforscht das Schicksal ihrer im Zweiten Weltkrieg deportierten | |
Vorfahren. Ihr Roman ist erschütternde Erinnerungsliteratur. | |
Roman über Jugend in Moskau: Letzte Generation Sowjetunion | |
Trotz Unfreiheit wollten sie das Leben genießen. Die Autorin Kristina | |
Gorcheva-Newberry erzählt von einer Jugend in den Achtzigern in Moskau. | |
Historikerin über Kinder im KZ: „Der Tod war für sie normal“ | |
Weil die meisten starben, weiß man wenig über Kinder im KZ. Historikerin | |
Diana Gring hat aus Überlebenden-Interviews eine Ausstellung gemacht. | |
Ukrainische und russische Bücher: Boykottiert Öl – nicht die Kultur | |
Die Autor*innen aus dem östlichen Europa gehören in die Schaufenster der | |
Bücherläden. Sie liefern eine ehrliche gesellschaftliche | |
Selbstbeschreibung. | |
Historikerstreit 2.0: Konjunkturen der Erinnerung | |
Ein Sammelband beleuchtet die blinden Flecken der postkolonialen Theorie. | |
Er zeigt, warum die Präzedenzlosigkeit der Shoah gut begründet ist. | |
Yasmina Rezas Sarkozy-Buch: Abstürze in die Banalität | |
Getriebener, Kandidat, Normalo: Yasmina Reza hat ein Buch über Nicolas | |
Sarkozy geschrieben. Und über die Inszenierung einer politischen Person. |