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# taz.de -- Roman über Jugend in Moskau: Letzte Generation Sowjetunion
> Trotz Unfreiheit wollten sie das Leben genießen. Die Autorin Kristina
> Gorcheva-Newberry erzählt von einer Jugend in den Achtzigern in Moskau.
Bild: Teil dieser Jugend, die es trotz allem zu genießen galt: 1982, Palast de…
Mit intensiven Bildern vom russischen Sommer beginnt dieser berückende
Roman über eine große Freundschaft, der vielleicht gerade deshalb so
eindrücklich geraten ist, weil er aus einer rückblickenden Perspektive
verfasst wurde. Wir erleben die Geschichte gleichsam durch einen
besonderen, rekapitulierenden und dabei (weitgehend) nostalgiefreien
Vergangenheitsfilter, der alle Farben stärker zum Leuchten bringt und das
Besondere in den Menschen, von denen erzählt wird, klarer strahlen lässt.
Kristina Gorcheva-Newberry, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist und in
Russland studiert hat, zog in den neunziger Jahren in die Vereinigten
Staaten und wurde dort zur englischsprachigen Schriftstellerin. Sie hat den
ProtagonistInnen ihres Romans viel vom eigenen Erleben mitgegeben. Denn
auch sie war ein Teenager in der Sowjetunion der achtziger Jahre, genau wie
Anja, die Ich-Erzählerin des Romans, und Milka, deren allerbeste Freundin
seit der ersten Klasse.
Anja und Milka verleben als Kinder herrliche Sommer auf der Datscha von
Anjas Eltern, in selbstverständlicher, inniger Nähe zu einander und zur
Natur. Auch als Teenager teilen die Mädchen noch alles, sogar den ersten
Zungenkuss, und entdecken mit Hilfe der jeweils anderen ihre Körper.
## Die Viererbande der Freund:innen
Als sie sechzehn sind, organisiert Milka eine angebliche Geburtstagsparty,
damit Anja Gelegenheit bekommt, ihre Unschuld zu verlieren. Milka selbst
verfügt bereits über einschlägige Erfahrungen, bewahrt aber Stillschweigen
über die genauen Umstände. Wenn Anja später versteht, warum die Freundin
schwieg, wird es zu spät sein, um eine Katastrophe zu verhindern.
Die kleine Party aber ist zunächst der Beginn einer wunderbaren, wenngleich
keineswegs konfliktfreien Freundschaft zu viert. Die beiden Jungen, die nun
dazugehören, könnten kaum unterschiedlicher sein: Der große und kräftige
Lopatin, der aus einer Funktionärsfamilie kommt, ist auch in seinem
Verhalten oft ungeschlacht und setzt nicht auf Intellekt, sondern auf
Stärke, um im Leben weiterzukommen. Der schmächtige, mit Asthma geschlagene
Trifonow dagegen, der bei einer alleinerziehenden Mutter aufwächst, hat
alle Bücher gelesen, die es gibt, und liebt insbesondere [1][Anton
Tschechows „Kirschgarten“.]
Mit diesem Tschechowschen Drama hat es seine besondere Bewandtnis. Immer
wieder taucht es im Roman auf, so oft, bis auch die letzte Leserin und der
letzte Leser begriffen haben, dass es als literarische Folie für den Roman
im Hintergrund durchschimmert.
Sogar ein Tonband wird eingeführt, auf dem die vier Jugendlichen ihre
Version des „Kirschgartens“ aufgenommen haben – in jeweils den Rollen, die
ihren eigenen Charakteren am besten entsprechen. Der herrliche Apfelgarten,
den Anjas Eltern bei ihrer Datsche im Moskauer Vorort hegen und pflegen,
übernimmt im Roman die Rolle und die (Verlust-)Symbolik von Tschechows
Kirschgarten.
## Eine Heimat, die nicht mehr existiert
Verlusterfahrungen sind ein großes Thema im Roman, darunter nicht zuletzt
die Erfahrung, die alte Heimat verloren zu haben, die sich in etwas völlig
anderes verwandelt habe, erklärte Gorcheva-Newberry [2][in einem Interview
mit dem Washington Independent]. Dieses Verlusterlebnis hat sie, die seit
1995 in den USA lebt, auch ganz persönlich durchgemacht.
Während der erste Romanteil von den Freuden und Herausforderungen einer
sowjetischen Jugend handelt, spielt der zweite, deutlich kürzere über
zwanzig Jahre später und erzählt davon, wie eine inzwischen vierzigjährige
Anja, die seit zwanzig Jahren nicht mehr in Russland war, nach Moskau
fliegt, um ihre gealterten Eltern dabei zu unterstützen, die
Datschensiedlung mit dem Apfelgarten gegen die Begehrlichkeit eines
Investors zu verteidigen, der auf dem Gelände neu und teuer bauen will.
Dabei trifft sie alte Bekannte wieder, und alte Traumata leben auf …
Dieser zweite Teil, der in den USA beginnt und in Moskau endet, ist
funktional eher eine Art Epilog. Die Schilderung von Anjas amerikanischem
Leben mit ihrem Ehemann Mike bleibt blass. Der Gatte wird als beinahe
klischeehafter Musteramerikaner vorgeführt (breitschultrig, tatkräftig,
zuverlässig). Ein ziemlicher Langweiler eigentlich, verglichen mit den
eigensinnigen sowjetischen Jungmännern aus Anjas Jugend – dieser Jugend,
die es trotz aller politischen Unfreiheit und der bescheidenen ökonomischen
Verhältnisse unbedingt zu genießen galt, auch wenn „wir wussten, dass unser
Schicksal in den Händen der Kommunistischen Partei lag und so
unwiderruflich war wie der Mond und die Sterne, wie das Leben selbst“.
Politische Diskussionen überlässt diese Jugend der Elterngeneration und
konzentriert sich darauf, das Leben zu feiern, wie es nun einmal ist. Nur
eben nicht mit Chips und Bier wie Gleichaltrige im Westen, sondern mit
eingelegten Gurken, Dosenfisch und Wodka. Dazu hört man Queen und Wiktor
Zoi, liest sich gegenseitig Tschechow vor und hat während der Klassenfahrt
auf die Krim Sex im Schwarzen Meer. Und obwohl das alles ebenfalls
einigermaßen klischeehaft klingt, wird es wohl so – oder so ähnlich –
gewesen sein.
Denn die Autorin spinnt das Treiben der letzten Generation Sowjetjugend in
so leuchtenden Farben und funkelnden Details aus, wie es nur eine kann, die
live dabei gewesen ist. Von Sowjetnostalgie kann dabei keine Rede sein.
Vielmehr liegt ein zärtlicher Hauch von Trauer über allem; und das Private
ist dabei unbedingt auch politisch zu lesen. Es ist eine auch wütende
Trauer über das, was hätte werden können, wenn nicht alles so gekommen
wäre, wie es gekommen ist.
13 Aug 2022
## LINKS
[1] /Neue-Intendanz-am-Gorki-Theater-Berlin/!5054702
[2] https://www.washingtonindependentreviewofbooks.com/index.php/features/an-in…
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Roman
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