# taz.de -- Neuer Roman von Juri Andruchowytsch: Wenn die Nacht am dunkelsten i… | |
> Der Roman „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch gleicht einem tiefen | |
> Seufzer über die tragische Situation vieler osteuropäischer Länder. | |
Bild: Juri Andruchowytsch im Sommer in Berlin | |
Es ist fast so, als könne man die Stille der Nacht hören, als nehme man | |
jedes Ein- und Ausatmen, jede Stimmhebung und -senkung des Radiomoderators | |
Josip Rotsky wahr, als sei die Einsamkeit greifbar, die die Menschen, die | |
des Nachts vor ihren Radios hocken, mit dem Host dieser Musiksendung | |
teilen. „Radio Nacht“ heißt seine Show, sie läuft von Mitternacht bis acht | |
Uhr morgens, und sie scheint von einer untergegangenen Welt zu künden, in | |
der die blaue Stunde vor den Empfängergeräten eine ganz eigene Magie | |
erzeugte, ihren ganz eigenen Blues hervorbrachte. | |
„Radio Nacht“ ist auch der Titel des neuen Romans von [1][Juri | |
Andruchowytsch,] und wüsste man es nicht sehr schnell sehr viel besser, | |
könnte man glauben, der berühmte ukrainische Autor habe hier einen genuinen | |
Musikroman vorgelegt. Die nächtlichen Sendungen bilden die | |
Rahmenhandlung; die 15 Songs, die Rotsky Kapitel für Kapitel episch | |
anmoderiert, sind nicht nur toll kuratiert (man kann sie in einer [2][für | |
den Roman erstellten Playlist nachhören),] sondern sie sind auch | |
biografische Begleiter des Protagonisten. | |
Doch die Vorgeschichte der Hauptfigur ist ebenso bedeutend: Josip Rotsky | |
wird in einem unbenannten osteuropäischen Land berühmt als | |
Barrikadenpianist bei den Aufständen auf einem Poschtowa-Platz, er ist | |
„unmittelbar beteiligt an der geheimnisvollen Liquidation des Diktators, | |
des vorletzten in Europa“, wie wir erfahren. Ein Schlägerkommando bricht | |
dem Oppositionellen die Finger, sodass er selbst keine Musik mehr machen | |
kann. Er wird auf eine Erschießungsliste gesetzt, muss als Dissident ins | |
Exil gehen. | |
Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Juri Andruchowytsch, neben | |
[3][Serhij Zhadan] der wohl bekannteste Autor der Ukraine, erzählt von | |
einem postsowjetischen Land, in dem die Revolution gescheitert ist. Bei | |
einer Buchpremiere in Berlin sagte der Autor kürzlich, er beschreibe einen | |
Staat, der von einer weichen zu einer harten Diktatur übergegangen sei und | |
darin eher Belarus gleiche. Die Referenzen an die Revolution der Würde in | |
Kiew und die Parallelen zum [4][„Piano Extremist“] auf dem Maidan sind | |
natürlich trotzdem eindeutig – wenn man so will, beschreibt Andruchowytsch | |
die ukrainische Geschichte mit anderem Ausgang. | |
Die erzählerische Raffinesse ist beeindruckend an diesem Buch. Es gibt eine | |
übergeordnete Erzählerfigur, die für ein „Internationales Interaktives | |
Biografisches Komitee (IIBC)“ die Lebensgeschichte Rotskys erforschen soll | |
und dazu mit einer Figur namens Meph eine Art faustischen Pakt schließt. | |
## Ein Rabe als Begleiter | |
Die Erzählebenen werden dabei so bewusst wie gekonnt verwischt, wenn das | |
IIBC vorsieht, „dass der Biograf, wenn er sich ausreichend tief ins Leben | |
des beschriebenen Anderen versetzt hat, die Fähigkeit erhält, es, dieses | |
Leben, zu verändern und manchmal auch direkt in dessen verschiedene | |
Perioden einzudringen und dort zu agieren. Außerdem – das eigene Leben so | |
zu ändern, dass es manchmal mit dem Leben des Anderen vertauscht wird.“ | |
Der Roman verfügt zudem über eine enorme Verweisfülle. Mit einem ominösen | |
Raben, der den Protagonisten begleitet, bezieht sich Andruchowytsch wohl | |
auf Edgar Allen Poe. Eine Figur, der Rotsky im Gefängnis begegnet, ist nach | |
dem unbezahlten Arbeitsdienst in der Sowjetunion benannt (Subbotnik), und | |
wie elegant die inhaltlichen und sprachlichen Referenzen auch in der | |
deutschen Übersetzung funktionieren, zeigt eine Passage, in der von einer | |
„noch schwachen und unreifen Maid Demokratie“ die Rede ist. | |
In einem eingeflochtenen Drama treibt Andruchowytsch das Ganze auf die | |
Spitze, darin schimmert sein trotz aller Wut und Trauer nie versiegender | |
Humor durch. Wer die bestenfalls naiv (und besser heuchlerisch) zu | |
bezeichnende deutsche Haltung vor dem 24. Februar auf dem literarischen | |
Tablett serviert bekommen möchte, der lese dieses Dramaintermezzo. Bevor | |
sich nämlich der „vorletzte Diktator der östlichen Partnerschaft“ und die | |
„Meister des demokratischen Dialogs“ in einem Hotel zum Gespräch treffen, | |
kursiert ein Papier, in dem die hervorragenden, wertebasierten | |
westöstlichen Beziehungen hervorgehoben werden: „Fundamente unserer | |
Koexistenz, bla-bla-bla …für Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wachstum, | |
für den ungestörten Fluss von Waren und Kapital, den garantierten Transit | |
von Energieträgern …“ | |
Der Mollton, den dieser Roman (auch) setzt, klingt gegenwärtig wie ein | |
tiefer Stoßseufzer angesichts der tragischen Situation in vielen Teilen | |
Osteuropas. Liest man die Passagen über die nächtlichen Radiosendungen, | |
hört man den fantastischen Soundtrack dazu (unter anderem mit Tom Waits, | |
Soap & Skin, Klaus Nomi), wird diese Tragik lebendig. Einzig infrage zu | |
stellen ist, ob die Themenpalette des Romans nicht zu breit ist, denn auch | |
die Pandemie, der Klimawandel und MeToo werden stellenweise verhandelt. Das | |
wirkt überstrapaziert und konstruiert. | |
Für Josip Rotsky, der irgendwo dort draußen in seinem Studio hockt, ist die | |
Nacht die Zeit der melancholischen Töne. Eine Zeit der Weltflucht, der | |
Einkehr, der Selbstvergewisserung. Im Land Juri Andruchowytschs ist die | |
Nacht die Zeit, in der jederzeit die Bomben fallen können. | |
5 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Ukrainischer-Schriftsteller/!5404588 | |
[2] https://www.youtube.com/playlist?app=desktop&list=PLq5smUNy1TrO69GhxwNR… | |
[3] /Autor-Serhij-Zhadan-erhaelt-Friedenspreis/!5863571 | |
[4] https://www.huffpost.com/entry/the-piano-extremist-maest_b_4834523 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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