| # taz.de -- Belarussische Autoren zum Ukrainekrieg: „Die Worte verloren“ | |
| > Die Belarussen Alhierd Bacharevič und Julia Cimafiejeva wehren sich gegen | |
| > die Stigmatisierung ihres Landes. Ein Gespräch übers Exil und Putins | |
| > Krieg. | |
| Bild: Diktator Lukaschenko wendet sich bei einem Militärmanöver an die Presse | |
| taz: Alhierd Bacharevič, Sie haben kürzlich einen [1][„Brief an die | |
| Ukraine“]geschrieben, darin heißt es: „Ich bin dagegen, dass mein Belarus | |
| heute ausschließlich ein Fleck der Schande und des Hasses für die Welt sein | |
| soll.“ Worum ging es Ihnen in dem Brief? | |
| Alhierd Bacharevič (AB): Ukrainer und Belarussen haben einen gemeinsamen | |
| Feind: den russischen Imperialismus. Das war für mich das Wichtigste. Ich | |
| wollte den Ukrainern vermitteln, dass die Mehrheit in Belarus nicht hinter | |
| dem russischen Angriff auf die Ukraine steht. Mir schien es, dass viele | |
| Ukrainer den Staat Belarus, von dem der Krieg ausgeht, gleichgesetzt haben | |
| mit der Zivilbevölkerung des Landes. | |
| Die Ukrainer verstehen Ihres Erachtens zu wenig, dass Dikator Lukaschenko | |
| den Krieg mitträgt, nicht aber die Bevölkerung? | |
| AB: Lukaschenko laviert wie stets herum, sodass es nicht eindeutig ist, | |
| inwieweit Belarus selbst auch Aggressor ist. Derzeit wird hauptsächlich | |
| über Russland und den Westen gesprochen, dieses Thema geht unter. | |
| Zunächst wurde die belarussische Revolution brutal niedergeschlagen, seit | |
| dem 24. Februar wird von Belarus aus Krieg geführt. Gibt es derzeit | |
| überhaupt Hoffnung auf ein freies Belarus? | |
| Julia Cimafiejeva (JC): Natürlich gibt es sie – wie kann man ohne Hoffnung | |
| weiterleben? Wir sehen, dass der Kriegsverlauf nicht so ist, wie Putin sich | |
| das gedacht hat. Ich bin eher die Optimistische von uns beiden – also ich | |
| habe Hoffnung. | |
| AB: Ich glaube, dass es womöglich ein lang andauernder Krieg wird, | |
| vielleicht ein neuer Kalter Krieg. Ich fürchte sogar, dass es einen dritten | |
| Weltkrieg geben wird. In meinem Roman, „Die Hunde Europas“, habe ich eine | |
| Vision der Zukunft für das Jahr 2049 beschrieben: Russland hat einen neuen | |
| Weltkrieg begonnen und unser Land erobert. Belarus existiert nicht mehr, | |
| ebenso wenig unsere Kultur und Sprache. Die Welt ist durch einen neuen | |
| Eisernen Vorhang geteilt in ein russisches Reich und die freie Welt. Als | |
| ich den Roman 2016 schrieb, war es nur eine Dystopie. Jetzt rückt sie | |
| näher. | |
| JC: Nun habe ich eine Frage an dich: Wenn du keine Hoffnung hast, warum | |
| schreibst du dann weiter über Belarus und auf Belarussisch? | |
| AB: Den Grund hast du schon genannt! Wir haben keine andere Wahl, wir | |
| müssen leben und weiterschreiben. Es ist unsere Aufgabe, belarussische | |
| Kultur und Sprache im Exil am Leben zu halten. | |
| Alhierd, Sie haben den Essay [2][„Das letzte Wort der Kindheit – Faschismus | |
| als Erinnerung“] geschrieben. Wann entstand der Text und welchen Bezug | |
| hatte er? | |
| AB: Ich habe den Text im Herbst 2020 in Minsk geschrieben. Es schien mir | |
| klar, dass man das System Lukaschenko als das benennen muss, was es ist: | |
| als faschistisch. Es ist nicht die Art des Faschismus wie in Deutschland | |
| oder Italien im 20. Jahrhundert, es ist ein neuer Typus von Faschismus in | |
| einem relativ kleinen Land. Keiner erhörte unsere Warnungen. Im Westen hat | |
| man uns nicht ernst genommen, nach dem Motto: Das sind belarussische | |
| Schriftsteller, sie müssen ihre Regierung kritisieren, es ist ihre Aufgabe. | |
| Was die westlichen Intellektuellen nun aussprechen – dass Russland ein | |
| faschistischer Staat ist –, wurde in Belarus schon lange erkannt. Aber der | |
| Westen betrieb seine Russlandpolitik über unsere und über ukrainische Köpfe | |
| hinweg. | |
| Sehen Sie in Lukaschenkos Apparat Parallelen zum Nationalsozialismus? | |
| AB: Ja, etwa, was Propaganda angeht. Vor Kurzem wurde in einer | |
| Fernsehsendung über den oppositionellen Blogger und Fotografen Anton | |
| Matolka „diskutiert“. Ein bekannter Propagandist erklärte, man solle ihn | |
| mit der Axt erschlagen. 2021 wurde gefordert, dass wir – unabhängige | |
| Autoren, Theaterregisseure und Journalisten – am Minsker Hauptplatz | |
| aufgehängt werden. Swetlana Alexijewitsch, Mikalai Khalezin und ich wurden | |
| namentlich genannt. Das ist wie im Völkischen Beobachter seinerzeit. | |
| JC: Sobald Belarus nicht mehr in den Medien auftauchte, glaubten die | |
| Menschen im Westen wohl, es laufe hier alles normal. Das ist natürlich | |
| falsch. Die Menschen werden all der schlimmen Nachrichten überdrüssig, | |
| Medien spüren das und wechseln den Fokus. Und wenn die westlichen Medien | |
| die Situation nicht ständig thematisieren, nehmen auch Politiker die Lage | |
| als weniger dramatisch wahr. Aktuell spricht niemand mehr über Belarus oder | |
| über Afghanistan. Jetzt ist die Ukraine – auch zu Recht – im Fokus, aber | |
| ich fürchte, selbst da wird irgendwann diese Müdigkeit einsetzen. | |
| Julia, Sie haben 2020 [3][Ihr erstes Gedicht auf Englisch veröffentlicht, | |
| „My European Poem“.] Wollten Sie damit zeigen, dass Sie sich als Belarussin | |
| Europa zugehörig fühlen? | |
| JC: Ja, klar. Wo liegt Belarus noch gleich? In Asien? Belarus ist ein | |
| europäischer Staat. Ich schrieb das Gedicht wenige Tage vor den Wahlen, um | |
| westliche Leser und Facebook-Freunde aus aller Welt zu erreichen. Um | |
| ehrlich zu sein, würde ich so ein Gedicht jetzt nicht mehr schreiben, weil | |
| ich derzeit ein wenig enttäuscht bin vom Westen und seinen Reaktionen auf | |
| die Ereignisse jüngerer Zeit. | |
| Inwiefern? | |
| JC: Politiker weltweit gaben sich 2020 besorgt, brachten ihre Solidarität | |
| mit dem belarussischen Volk zum Ausdruck, das mutig gegen den Diktator | |
| protestierte. Medien veröffentlichten wunderschöne Fotos von in Weiß | |
| gekleideten friedlich protestierenden Frauen. Zur gleichen Zeit betrieben | |
| viele Staaten weiterhin Handel mit Lukaschenko und Putin, finanzierten zwei | |
| korrupte und kriminelle Regimes. Aus genau jenen Ländern, die sich so | |
| besorgt gezeigt hatten, hörte man später, die belarussische Protestbewegung | |
| sei für den Krieg mitverantwortlich. | |
| Julia, in „Minsk. Tagebuch“ schreiben Sie darüber, dass die literarische | |
| Sprache angesichts grausamer Ereignisse versage. Erleben Sie das während | |
| des Ukrainekriegs auch so? | |
| JC: Ja. Aktuell ist es am wichtigsten, ukrainische Autoren zu übersetzen, | |
| sodass ihre Stimmen gehört werden. Ich habe heute eine belarussische | |
| Zeitung gelesen, die protokolliert hat, was ein achtjähriger Junge aus | |
| Mariupol berichtet hat: Wie seine Mutter gestorben ist, wie sein Hund | |
| gestorben ist. Wie kann ich schreiben, nachdem ich das gelesen habe? | |
| AB: Das Massaker von Butscha war für mich der Moment, in dem ich meine | |
| Sprache verloren habe. Im März habe ich vielleicht fünf Texte geschrieben | |
| über die Ereignisse in der Ukraine. Nach Butscha habe ich kein Recht | |
| weiterzuschreiben. Es gibt keine Worte, um so etwas zu beschreiben. Erst | |
| später kommt die Sprache, kommen die Worte wieder. | |
| Ein Teil der belarussischen Kulturszene ist jetzt über ganz Europa | |
| verstreut. Was bedeutet das für die Community? | |
| JC: Es gibt eine gut organisierte belarussische Diaspora in Österreich, in | |
| Deutschland, in Polen, Tschechien, Litauen, Großbritannien, Georgien und | |
| den USA. Wir sollten nun versuchen, uns im Exil neu zu organisieren. | |
| AB: Ich fürchte nur, dass wir die Verbindung verlieren zu jenen Belarussen, | |
| die geblieben sind. Denn wenn wir ehrlich sind, wissen wir nur aus Medien | |
| und von unseren Freunden und Kollegen, was gerade in Belarus passiert. Wir | |
| können die Alltagsatmosphäre in Minsk nicht fühlen, für das Schreiben ist | |
| das aber elementar. Ich rede von Gerüchen, Tönen, Stimmungen und Stimmen | |
| auf der Straße. | |
| Einige Autoren sind geblieben. | |
| AB: Sie bleiben und sie schweigen. Ich verstehe das sehr gut, denn wenn sie | |
| Meinungen kundtun, kann der Preis dafür sehr hoch sein. Die Verleger, die | |
| geblieben sind, müssen zum Teil Selbstzensur üben und Texte zensieren. Das | |
| weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber ich mache ihnen keinen Vorwurf. | |
| Welche Repressionen gab es gegen Verleger in Belarus? | |
| AB: Andrej Januschkewitsch ist einer der bekanntesten Verleger in Belarus, | |
| er hat die belarussische Literatur zuletzt auf ein neues Level gehoben. Im | |
| April 2021 wurde die von ihm publizierte Neuauflage meines Romans „Die | |
| Hunde Europas“ an der Grenze konfisziert. Januschkewitsch ist erst vor | |
| wenigen Wochen aus seinem Büro in Minsk geworfen worden. Nachdem er am 16. | |
| Mai eine neue unabhängige Buchhandlung eröffnete, wurde er zusammen mit der | |
| Literaturbloggerin Nasta Karnackaja noch am selben Abend verhaftet und | |
| verurteilt – er zu 10 Tagen Haft, Nasta zu 13 Tagen. (Zum Zeitpunkt der | |
| Veröffentlichung dieses Interviews befinden sich beide noch in Haft, Anm. | |
| d. Red.). | |
| Ihnen wird vorgeworfen, staatsfeindliche Literatur zu publizieren. Kürzlich | |
| schrieb die größte Propagandazeitung über „Die Hunde Europas“, der Roman | |
| rufe „zu illegaler Machtergreifung“ auf und sei „feindselig gegen | |
| Staatsbeamte“. Interessante Interpretation! Eigentlich handelt das Buch von | |
| Sprache, Schöpfung und Sex, von Belarus und Minsk, von Illusionen und | |
| Zukunft. Das Buch wurde nun auf eine schwarze „Liste extremistischen | |
| Materials“ gesetzt und verboten. | |
| Lassen Sie uns noch über Ihre literarischen Einflüsse sprechen. Alhierd, | |
| Sie nennen unter anderem Vladimir Nabokov („Wolke, Burg, See“) als Vorbild. | |
| AB: Nabokov, Kafka und Joyce bezeichne ich als meine Lehrer, später kam | |
| auch Witold Gombrowicz dazu. Sie alle haben mein Leben verändert. Ihre | |
| Freiheit des Denkens beeindruckt mich noch heute. | |
| Julia, ich habe gelesen, dass Sie Bukowski übersetzt haben. | |
| JC: Das ist schon sehr lange her. Nicht nur Charles Bukowski habe ich ins | |
| Belarussische übersetzt, auch Werke von Walt Whitman und Stephen Crane. Ich | |
| habe viele weitere US-Autoren übersetzt – das hat mich beeinflusst. | |
| AB: Eigentlich sollten wir als Künstler mehr über Eros und Thanatos reden | |
| und Schönheit in diese Welt bringen. Stattdessen müssen wir viel zu viel | |
| über Politik sprechen. Aber so sind eben leider die Zeiten. | |
| Anm. d. Red.: Dieses Interview wurde nach Veröffentlichung um einen Hinweis | |
| ergänzt. | |
| 7 Jun 2022 | |
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| Jens Uthoff | |
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