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# taz.de -- Belarussischer Musiker über Proteste: „Wir werden gewinnen“
> Der belarussische Musiker Igor Bancer kommt in den nächsten Tagen für
> acht Monate in eine Strafkolonie. Ein Gespräch darüber und zur Stimmung
> in seinem Land.
Bild: Der belarussische Punk-Musiker Igor Bancer
taz: Igor Bancer, wie erleben Sie die Stimmung in Belarus, seit der
regimekritische [1][Journalist und Blogger Roman Protassewitsch ] und seine
russische Freundin Sofia Sapega [2][nach der Zwangslandung einer
Ryanair-Maschine] auf dem Weg von Athen nach Vilnius entführt und in Minsk
festgenommen wurden?
Igor Bancer: Die Stimmung in der belarussischen Gesellschaft ändert sich
von Tag zu Tag, sie verdüstert sich. Das, was mit dem Ryanair-Flug im
weißrussischen Luftraum passiert ist, kann als „Akt des Staatsterrorismus“
bezeichnet werden und niemand – buchstäblich niemand – hätte erwartet, was
mit Roman Protassewitsch und Sofia Sapega passiert ist.
Dennoch bin ich weit davon entfernt zu sagen, dass die belarussische
Gesellschaft über die Entführung des Jets schockiert ist. Nach der
unerwartet harten Welle des Staatsterrors gegen die friedlichen
Demonstrationen im letzten Jahr und den unverhältnismäßig strengen Urteilen
in sämtlichen politischen Fällen rechnet jede*r in Belarus mit den
grausamsten Strafen für die kleinsten „Delikte“. Das können drakonische
Strafen wegen emotionaler Kommentare im Netz sein oder das Tragen von
weißen Socken mit roten Streifen – die Farben der Opposition. Die
politische Lage im Land bewegt sich aufgrund von innen- und
außenpolitischen Entscheidungen Lukaschenkos stärker in die falsche
Richtung.
Wir steuern auf ein faschistisches Regime und einen Polizeistaat zu, alle
sehen es kommen, selbst Unterstützter*innen von Lukaschenko. Anspannung
und Phobie – das sind zwei wichtige Worte, um die Stimmung in Belarus
momentan zu beschreiben.
Nach der Entführung haben EU und USA als Reaktion Sanktionen angekündigt,
trotz des versprochenen Kredits von Russland ist kein Wirtschaftsaufschwung
in Sicht. Eine Chance, Lukaschenko zu stürzen, oder Narrenfreiheit für
jemanden, der nichts mehr zu verlieren hat?
Karl Marx sagte, dass die Basis die Wirtschaft ist und die Basis bestimmt,
wie eine Gesellschaft aussehen wird. Jetzt befindet sich die belarussische
Wirtschaft aufgrund der Sanktionen und der politischen Isolation des
Lukaschenko-Regimes in einem wirklich schlechten Zustand. Viele
belarussische Ökonomen sagen voraus, dass das Regime aufgrund der
wirtschaftlichen Lage in Kürze zusammenbrechen wird.
Aber im Moment sehe ich darin keine Chance, Lukaschenko zu stürzen, weil er
[3][von Russland unterstützt wird] – mehr oder weniger offen. Lukaschenko
ist jetzt zwar ein Symbol für den Hass auf den belarussischen Staat, und
obwohl Europa und USA versuchen, ihr Bestes zu tun, um die belarussische
Zivilgesellschaft zu unterstützen, ist Putins Russland aus vielen Gründen
daran interessiert, Lukaschenko an der Macht zu halten. Selbst wenn
Lukaschenko zurücktreten und die politische Bühne verlassen wird, glaube
ich nicht, dass wir uns auf politischer und vor allem wirtschaftlicher
Ebene dem russischen Einfluss entziehen können.
Belarus ist in allen Bereichen abhängig von Russland. Der Abgang von
Lukaschenko kann für unsere Gesellschaft noch nichts bedeuten, wir brauchen
tiefgreifende Reformen. Und ich sehe mit einem Abgang Lukaschenkos noch
keinen ersten Schritt dahingehend und bleibe daher pessimistisch …
Das ist verständlich. 15 Journalist*innen der unabhängigen
belarussischen Nachrichtenagentur tut.by und zuletzt der Chefredakteur der
Zeitung „Hrodna.life“, Aliaksei Shota, wurden verhaftet wegen
„Extremismus“, ein gern verwendeter Vorwurf des Regimes. Wie lässt sich
gegen so eine Behauptung ankommen …?
Einige der tut.by-Journalist*innen sind wieder frei, manche von ihnen,
darunter auch Chefredakteurin Marina Zolotova, sitzt noch im Gefängnis.
Mein Freund Aliaksei Shota wurde im Zuge der großen Solidaritätswelle
freigelassen, aber auch er ist nicht optimistisch. Shota weiß, dass es bis
zur nächsten Festnahme nicht lange dauern wird. Die Regierung will all
diesen unabhängigen Journalist*innen zu verstehen geben, dass für sie
keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als das Land zu verlassen – wie es
bereits in den letzten Monaten viele Journalist*innen gemacht haben,
die emigriert sind. Andernfalls werden die Behörden früher oder später
einen Weg finden, sie für das zu verhaften, was sie tun: Die Wahrheit zu
sagen.
Was empfinden Sie dabei, wenn Menschen sich für die Freiheit einsetzen?
Das macht mich stolz, dass ich viele mutige Belaruss:Innen Freunde
nennen kann. Sie haben das Land nicht verlassen und sind bereit, für ihre
berufliche Pflicht sogar ins Gefängnis zu gehen. Wir merken immer wieder:
Gemeinsam halten wir leichter durch und Solidarität – auch aus anderen
Ländern – ist und bleibt die stärkste Waffe in der dunkelsten Zeit der
belarussischen Geschichte. Wir haben keine Angst, für das, was wir tun,
bestraft zu werden, denn wir sind sicher, dass wir die Wahrheit auf unserer
Seite haben. Eines Tages werden wir gewinnen, auch wenn es uns viele
Anstrengungen, verlorene Gesundheit, Inhaftierung kosten wird …
… auch Lukaschenko bleibt hart. Den demokratischen Aktivisten Witold
Aschurok ließ er verhaften, er starb nach fünf Monaten in der Strafkolonie.
Auch Sie müssen demnächst die Strafe in einer solchen Kolonie antreten, was
wird Sie erwarten?
Auch der 18-jährige Dmitry Stakhovsky wurde verhaftet und hat sich am 26.
Mai das Leben genommen, weil er den moralischen Druck der
Sicherheitsbehörden nicht mehr ertragen konnte. Gegen ihn wurde wegen der
Teilnahme an regierungsfeindlichen Protesten ermittelt. Auch der Fall von
Witold Aschurok zeigt uns, dass sich der Staat überhaupt nicht um seine
eigenen Bürger*innen kümmert. Ich erwarte Attacken gegen mich, weil ich
in einige Anti-Lukaschenko-Aktionen verwickelt bin und damit die
Strafkolonien zu einem regulären Gefängnis mache. Bis dahin warte ich auf
einen Anruf der Strafabteilung des Innenministeriums mit der Information,
wie schnell ich Grodno verlassen muss und wohin sie mich für meine Strafe
schicken werden. Es ist eine stressige Situation: Sitzen und darauf warten,
was als Nächstes passiert, so stressig …
Sie werden im Ungewissen gelassen?
Am Montag habe ich einen Brief vom Bezirksgericht Grodno erhalten, in dem
geschrieben steht, dass ich nicht für die volle, angesetzte Zeit, sondern
für acht Monate in die Strafkolonie muss. Im belarussischen Gesetz wird ein
Tag in Untersuchungshaft mit zwei in der Kolonie gleichgesetzt. Das ist
also die gute Nachricht, denke ich. Ich versuche, nicht an die Strafkolonie
zu denken, denn es gibt noch viel zu tun, solange ich frei bin.
Wie erleben Sie Ihre Zeit bis dahin?
Ich fühle mich versklavt. Aber ich versuche, meine PMA (Positive Mental
Attitude) beizubehalten und so normal wie möglich weiterzuleben. Ich bin
noch auf vielen Ebenen aktiv, unterstütze linke Initiativen. Versuche nicht
aufzugeben, auch wenn es ab und zu unfassbar schwer ist, aus dem Bett zu
kommen und auf die Straße zu gehen, denn ich weiß, was in meinem Land
passiert ist und die Zukunft sieht aus wie „No Future“…
Würden Sie es alles noch mal so machen?
Ohne Zweifel: Tausendundeinmal mehr. Das belarussische Volk verdient es, in
einem freien Land zu leben und Teil der Europäischen Gemeinschaft zu sein.
Wenn wir uns auf den Weg zu einem wirklich demokratischen europäischen Land
machen sollten, möchte ich ein Teil dieses Weges gehen, egal, wie schwer,
leidend und lang dieser Weg sein wird. Ich bin bereit, für das, was ich
tue, bestraft zu werden, denn ich tue das in Übereinstimmung mit meinen
Idealen.
Ich werde das Lächeln auf meinem Gesicht behalten, bis zur letzten Minute
meines Lebens, weil ich weiß, dass ich das Richtige getan habe. Ich mache
nichts Falsches. Indem sie aber Menschen wie mich ins Gefängnisse stecken,
werden Lukaschenko und seine Leute irgendwann ins Nirgendwo gelangen. Ich
möchte Zeuge des Endes des Regimes sein. Und ich werde mein Bestes tun, um
das Ende von Lukaschenkos Regierungszeit zu beschleunigen.
4 Jun 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Du Pham
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