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# taz.de -- Historiker über Protestbewegung: Stalins Schatten über Belarus
> Noch hält der Kreml die schützende Hand über den Diktator Lukaschenko in
> Minsk. Dessen Schergen gehen brutal gegen die Protestbewegung im Lande
> vor.
Bild: Solidaritätsdemonstration für Roman Protassewitsch in Krakau
„Wir sind inzwischen in Kiew. Aus Minsk mussten wir fliehen“, schreibt mir
Anfang Juni die 42-jährige Psychologin Anna* im Messengerdienst Telegram.
Wir kennen uns seit unserer gemeinsamen Studienzeit in der zweiten Hälfte
der 1990er Jahre in Minsk. Heute ist sie eine landesweit bekannte
Bloggerin. Seit dem Sommer 2020 engagieren sich Anna und ihr 44-jähriger
Ehemann, der IT-Spezialist Maxim*, [1][in der Protestbewegung gegen die
Lukaschenko-Diktatur.] Eine Familie aus der Mittelschicht, die Freiheit,
Demokratie und vor allem ein besseres Leben für ihre zwei Kinder will.
Ich melde mich bei Anna. Sie berichtet mir von Protestaktionen im letzten
Jahr und vor allem von Maxim, der Aktivist*innen mit Spenden
unterstützte und Mistreiter*innen bei sich versteckte. Er verbachte
insgesamt 13 Tage in Haft. Sein Auto wurde im September 2020 von der
Polizei beschädigt, er musste seinen Führerschein abgeben.
Im April 2021 fahndete die Polizei erneut nach ihm. Da Maxim nunmehr eine
längere Haftstrafe drohte, setzte er sich mit lediglich einem Rucksack nach
Kiew ab. Vier Wochen später kam glücklicherweise Anna mit den Kindern nach.
„Wann war das?“, frage ich. „Unmittelbar nach [2][dem Fall
Protassewitsch]“, antwortet Anna. Der Fall Protassewitsch: ein Ereignis,
das eine Zäsur in der Geschichte der andauenden Belarus-Krise markiert.
## Erfolterte Geständnisse
Am 3. Juni zeigt das belarussische Staatsfernsehen ONT ein 90-minütiges
„Interview“ mit dem am 23. Mai festgenommenen 26-jährigen Blogger.
Protassewitsch liefert [3][krude Geständnisse] ab, belastet etliche
Mitstreiter*innen, verbreitet antiwestliche Verschwörungstheorien und
bedient sich dabei des offiziellen belarussischen Propagandajargons.
Zu allem Überfluss schwärmt er noch von „einem Mann mit stählernen Eiern�…
dem belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko, jenem rachsüchtigen
Diktator, der die Ryanair-Maschine des Flugs 4978 von Athen nach Vilnius
entführen ließ und dessen Staatssicherheit den Blogger und seine
23-jährige Freundin Sofia Sapega verschleppte.
Am Ende der perfiden Selbstgeißelung bricht Protassewitsch reumütig in
Tränen aus, bittet um Vergebung und hofft auf Lukaschenkos Barmherzigkeit.
Der Blogger weiß, dass sein und Sapegas Schicksale nunmehr allein in den
Händen des Herrschers liegen. Die in Stil und Geist stalinistischer
Schauprozesse gemachte Sendung, deren Autoren nicht einmal die Folterspuren
an Protassewitschs Gelenken zu verdecken versuchten, geht um die Welt und
beherrscht in den nächsten Tagen die Schlagzeilen.
## Das verhasste Regime
Die Lukaschenkotreue belarussische Staatspresse macht sich über den am
Boden zerstörten Staatsfeind Protassewitsch lustig, feiert den „endgültigen
Untergang“ der vermeintlich vom Westen gelenkten Protestbewegung und droht
den im Ausland ansässigen Aktivisten*innen mit der unabwendbaren
Vergeltung. Lukaschenkos Gegner*innen sind hingegen vom infamen Umgang
mit Protassewitsch konsterniert und lassen ihrem Frust über das verhasste
Regime in sozialen Netzwerken freien Lauf.
Während die westliche Öffentlichkeit die Propagandainszenierung scharf
verurteilt und ihre [4][Solidarität mit Protassewitsch] bekräftigt, zeigen
sich manche russische Propagandisten enttäuscht von ihren „unfähigen“ und
„übereifrigen“ belarussischen Kollegen, die vor allem den wichtigsten
Zuschauer Lukaschenko zufriedenstellen wollten und das aussichtsreiche
Interviewprojekt vollkommen unglaubwürdig machten: Wer soll an die
Geständnisse des Bloggers glauben, der noch vor Kurzem den belarussischen
Staatschef in Haft sehen wollte und diesen nunmehr frenetisch feiere?
Am 14. Juni versucht das Regime diese „Anfänger-Fehler“ eher schlecht als
recht zu korrigieren: Protassewitsch taucht in einer Pressekonferenz auf,
greift die Opposition an, schwärmt von seinem neuen Leben im Minsker
KGB-Gefängnis und weist die Gerüchte zurück, Lukaschenko habe ihn
persönlich misshandelt. Diese Auftritte sind weitere Tiefpunkte der
belarussischen Tragödie. Weitere Tiefpunkte? Seit der gefälschten
[5][Präsidentschaftswahl am 9. August 2020] und der grausamen
Niederschlagung der Proteste bestehen die Nachrichten aus Belarus fast
ausschließlich aus Tiefpunkten, wobei das Regime eine rote Linie nach der
anderen überschreitet und den Boden des Abgrunds noch immer nicht erreicht
zu haben scheint.
## In Saddams und Gaddafis Fußstapfen
Schon vor 2020 galt der seit 1994 amtierende Staatschef Lukaschenko als
skrupelloser Autokrat. Seit Beginn der Proteste kennt er kein Pardon mehr
und sieht sich in den Fußstapfen der Diktatoren Saddam Hussein und Muammar
al-Gaddafi, die bis zum bitteren Ende um die Macht kämpften. Stalins
Schatten schwebt über der heutigen Republik Belarus: Demonstranten werden
getötet, bald überschreitet die Zahl von politischen Gefangenen die Marke
von 500, Zehntausende Menschen haben ähnlich wie Maxim und Anna bereits das
Land verlassen. Regimegegner*innen werden in der Propaganda als
„Volksfeinde“ und „ausländische Agenten“ diffamiert.
In der zweiten Maihälfte spitzte sich die Situation erneut zu: Nachdem die
von der Opposition angekündigten großen Protestaktionen in der ersten
Monatshälfte ausgeblieben waren, glaubte Lukaschenko, fest im Sattel zu
sitzen, und entschloss sich zu einem Frontalangriff auf die Überreste der
Zivilgesellschaft: Zunächst wurde das größte unabhängige Internetportal
Tut.by, das dem Regime schon lange ein Dorn im Auge war, am 18. Mai
zerschlagen, wobei etliche Journalist*innen und Manager*innen
hinter Gittern landeten.
Drei Tage später kam [6][der 51-jährige politische Häftling Witold
Aschurok] in einem Gefängnis im Osten des Landes unter mysteriösen
Umständen ums Leben. Von der Justiz aus politischen Gründen bedrängt,
sprang der 18-jährige Dmitrij Stachowskij am 25. Mai von einem 16-stöckigen
Minsker Gebäude in den Tod. Am 1. Juni berichtete der Aktivist Stepan
Latypow in einer Gerichtsverhandlung über erschreckende Foltermethoden,
denen er in der Haft ausgesetzt gewesen sei, und versuchte anschließend
sich das Leben zu nehmen.
## Gesamteuropäisches Problem
Vor diesem dramatischen Hintergrund entwickelte sich Ende Mai die
Ryanair-Affäre, die aus der lokalen beziehungsweise osteuropäischen
Belarus-Krise ein akutes gesamteuropäisches Problem machte, das dringend
seine Lösung sucht. Nach der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine
schnitten die EU und die Ukraine die Republik Belarus vom Flugverkehr ab.
EU und USA planen neue und zudem härtere, von der belarussischen Opposition
befürwortete Wirtschaftssanktionen, die dem dreisten Regime eine Lektion
erteilen und vielleicht sogar seinen Untergang beschleunigen sollen.
Allerdings gehen Brüssel und Washington davon aus, dass die Belaruskrise
nicht ohne Moskau gelöst werden kann. Hält aber der Kreml seinem Wachhund
Lukaschenko die Treue?
Noch ja. Ohne die russische Unterstützung wäre Lukaschenko vermutlich schon
längst belarussische Vergangenheit. Das Regime in Minsk bekommt vor allem
propagandistische Unterstützung und Wirtschaftshilfe, letztere jedoch in
einem eingeschränkten Umfang: genug, um den rapiden Zusammenbruch der
Diktatur abzuwenden, zu wenig, um die Flügel auszubreiten.
Und der belarussische Diktator? Obwohl Lukaschenko nach außen
Selbstsicherheit demonstriert, die Bedeutung der Sanktionen
herunterzuspielen versucht und ständig die enge Verbindung mit dem Kreml
hervorhebt, scheinen die Nerven in den Führungskreisen blank zu liegen:
Während hochrangige Staatsfunktionäre Durchhalteparolen verbreiten,
vergleicht die Staatspropaganda die westlichen Sanktionen mit dem deutschen
Überfall auf die UdSSR 1941 und droht Regimegegner*innen offen mit der
Neuauflage der [7][stalinistischen Säuberungen] wie im Jahre 1937.
Das belarussische Drama geht weiter. Anna und Maxim werden es von Kiew aus
weiterverfolgen. Die Hoffnung, bald in die Heimat zurückkehren zu können,
haben sie nicht aufgegeben. „Bereust du, dass ihr euch der Protestbewegung
angeschlossen habt?“, frage ich Anna zum Schluss. „Nein, definitiv nicht“,
antwortet sie. „Sogar, wenn wir verlieren sollten, haben wir zumindest
gekämpft“.
*Namen geändert
22 Jun 2021
## LINKS
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[5] /Praesidentschaftswahl-in-Belarus/!5705051
[6] /Belarussischer-Oppositioneller/!5774025
[7] /Geschichtsaufarbeitung-in-Russland/!5363876
## AUTOREN
Alexander Friedman
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