# taz.de -- Autor Sergej Lebedew über Giftmorde: „Sie glauben an Macht und A… | |
> Sergej Lebedew erzählt in seinem neuen Roman von Giftanschlägen gegen | |
> russische Oppositionelle. Der Fall Nawalny und Belarus hänge zusammen, | |
> sagt er. | |
Bild: Autor Sergej Lebedew: „Es werden auch Schriftsteller verfolgt“ | |
taz: Herr Lebedew, Sie beschäftigen sich in Ihrem neuen Roman mit den | |
Giftmorden an russischen Oppositionellen und „Staatsfeinden“. An sich mutet | |
der Giftmord anachronistisch an, er gilt auch nicht als besonders | |
„männliche“ Art des Tötens. Warum nutzt das Putin-Regime mutmaßlich diese | |
Methode? | |
Sergej Lebedew: Wenn wir uns die Geschichte politischer Morde im Russland | |
der jüngeren Zeit ansehen, so fanden die Tötungen in den Neunzigern – | |
nennen wir es Phase eins – noch auf traditionelle Art und Weise statt. Mit | |
einer Waffe, einer Kugel. Es gibt allerdings Berichte darüber, dass | |
chemische Waffen eingesetzt wurden, um tschetschenische Rebellen zu töten. | |
Das kann man nicht sicher verifizieren. Aber seit Beginn des neuen | |
Jahrhunderts, seit Putin an der Macht ist, ist die zweite Phase | |
eingetreten, und es kommt vermehrt zu Giftmorden. Einer der ersten war 2003 | |
Juri Schtschekotschichin (investigativer Journalist, der zu den | |
Sprengstoffanschlägen auf die Wohnhäuser in Moskau 1999 recherchiert hat, | |
Duma-Abgeordneter; d. Red.), der wahrscheinlich auch [1][mit Polonium | |
vergiftet wurde, wie später der übergelaufene Geheimdienstler Alexander | |
Litwinenko]. Für die, die auf die Tötungen spezialisiert sind, ist ein | |
Auftragsmord wie ein Kunstwerk, eine „Dark Art“. Die Techniken, die die | |
Stasi in der DDR verwendet hat – ein Angstklima erzeugen, das | |
Implementieren eines eigenen moralischen Systems, die „Komposition“ der | |
Gesellschaft –, all das wird als Vorbild gesehen. | |
Aus der Perspektive der Täter gesehen: Welchen Vorteil hat ein Giftmord? | |
Erst einmal gibt es keinen eindeutigen Mörder, und der Hergang ist schwer | |
zu untersuchen. Eine Vergiftung lässt Raum für Gerüchte: War der | |
Geschädigte betrunken? War er krank? Oder in schlechtem gesundheitlichem | |
Zustand? Auf der anderen Seite bestreiten die Offiziellen jegliche | |
Verwicklung in den Todesfall, obwohl ihre Körpersprache sagt: Doch, doch, | |
wir waren es. Es geht immer um Angst. Putin und seine Leute haben einen | |
KGB-Background, sie haben gelernt, dass Angst das beste Mittel ist, um | |
Menschen einzuschüchtern. Sie glauben nicht an Vertrauen, Dialog oder | |
Zusammenarbeit. Sie glauben an Macht und Angst. Mit Nowitschok lässt sich | |
gut Angst verbreiten. | |
Chemische Waffen wurden bereits zu Sowjetzeiten entwickelt, noch heute | |
werden sie verwendet. | |
Ja. In der Zeit des Großen Terrors hatten die sowjetischen Geheimdienste | |
bereits Labore, in denen sie die chemischen Waffen entwickelten. Aber es | |
gab eigentlich keine Verwendung für sie. Denn die brutale Repression jener | |
Zeit war einfacher gestrickt. Es gab einen Befehl, eine Waffe, ein | |
Geständnis. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, als die baltischen Staaten | |
und die Ukraine dem Sowjetreich angehörten, entstand eine neue operative | |
Umgebung, wie sie es nennen. Es war nicht mehr so einfach, bestimmte | |
politische Figuren zu entfernen. Jetzt begannen sie wohl schon damit, Gift | |
als Waffe einzusetzen. Damals war Geheimhaltung noch viel einfacher | |
möglich. Es gab keine Presseberichte, keine TV-Shows, keine Handykameras, | |
keine Überwachung wie heute. | |
Wie viel ist über Vergiftungen zu Sowjetzeiten bekannt? | |
Vieles ist noch ungewiss, aber es gab verschiedene merkwürdige Vorfälle, | |
etwa bei dem dissidentischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der | |
wohl [2][mit Rizin vergiftet] wurde, und auch Wladimir Woinowitsch wurde | |
vergiftet. Ob Nowitschok damals schon eingesetzt wurde, lässt sich kaum mit | |
Sicherheit sagen. | |
In Ihrem Roman gibt es Labore auf einer geheimen Insel. War die Geheimstadt | |
Schichany-2 ein reales Vorbild für diese Insel? | |
Es ist keine direkte Referenz. Schichany liegt nahe der Wolga, ist aber | |
keine Wolgainsel. Die Insel soll eher für das ganze System der Geheimstädte | |
stehen, die für die staatliche Wissenschaft die Basis bildeten oder immer | |
noch bilden. Der Aufbau ist ähnlich einer Matroschkapuppe: Es dauert, bis | |
man in den inneren geheimen Kern vordringt. | |
Für Ihren vorherigen Roman, „Kronos' Kinder“, haben Sie auch schon zu | |
Schichany recherchiert, oder? | |
Ja. Aber Schichany ist gar nicht sonderlich gut erforscht. Der Chemiker Wil | |
Mirsajanow, der an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt war und 1991 | |
zum Whistleblower wurde, hat ein Buch geschrieben, das einen Einblick in | |
die Welt der Labore gibt. Als ich „Kronos' Kinder“ schrieb, wollte ich | |
etwas über meine deutsch-russische Familie und deren Vergangenheit | |
herausfinden. Dabei stieß ich auf die militärische Kollaboration des | |
Deutschen Reichs zu Weimarzeiten mit der Sowjetunion. Es gab eine | |
gemeinsame Militärschule in Kasan, und es gab zwischen 1928 und 1933 ein | |
gemeinsames Labor für chemische Waffen – in Schichany. Zwei Feinde haben in | |
einer merkwürdigen Freundschaft zusammengearbeitet. Als die Nachrichten zum | |
[3][Fall Skripal in Salisbury] kamen, sagten sie, dass das Nowitschok | |
vermutlich in Schichany produziert wurde. Zugleich wurde klar, dass die | |
englischen Ermittler im Fall Skripal aus Porton Down kamen, jenem | |
militärischen Labor, das die Briten im Jahr 1916 als Reaktion auf den | |
Einsatz chemischer Waffen durch die Deutschen im Ersten Weltkrieg gegründet | |
hatten. Eine mehr als hundert Jahre alte Geschichte kulminierte in dem Fall | |
Skripal. Als [4][Nawalny nach seiner Vergiftung auch noch in Berlin | |
untersucht] wurde, dachte ich: Damit verkehrt sich die Geschichte komplett | |
ins Gegenteil. | |
Ist das heutige Russland ein Angstregime? | |
In erster Linie ging es Putin schon immer darum, Menschen von der Politik | |
fernzuhalten. Natürlich will das Regime nicht alle Bewohner Russlands in | |
Angst und Schrecken versetzen – aber wenn du dich politisch einbringst, | |
sollst du diese Angst spüren. Eine ähnliche Entwicklung ist die | |
Verschärfung des Versammlungsrechts nach den Protesten von 2011 (gegen | |
mutmaßlich gefälschte Parlamentswahlen; d. Red.). Daraufhin hat sich die | |
ganze Bewegung aufgelöst. Der Fall Nawalny hat dagegen mit Belarus zu tun: | |
[5][Putin hat eine Entwicklung wie in Belarus gefürchtet]. Belarus schien | |
eigentlich immer stabil, weit weniger komplex als Russland und einfacher zu | |
händeln. Und plötzlich erodiert das alles. Nawalny war der Einzige, dem sie | |
zugetraut haben, diese Energie auf Russland zu übertragen. | |
Es gibt im Buch eine Passage an prominenter Stelle, da landen die | |
Auftragsmörder ungewollt in einer KZ-Gedenkstätte. Warum dieses Setting? | |
Das soll Terezín sein – die beiden Auftragsmörder fahren von Prag aus zur | |
deutsch-tschechischen Grenze. Ich habe ihre Stationen deshalb nicht konkret | |
benannt, weil die Killer überall auf der Welt sein können. | |
Aber warum die KZ-Gedenkstätte? | |
In erster Linie will ich zeigen, dass Lager eben nicht überall der | |
Vergangenheit angehören. In einigen Regionen sind sie Gedenkstätten und | |
Museen, ja. In den Neunzigern in Tschetschenien, wo es die sogenannten | |
Filtrationslager gab, waren sie es nicht. Und es gibt immer noch Lager, ob | |
in China, Nordkorea oder sonst wo. Mir war auch wichtig zu zeigen, dass die | |
beiden Auftragskiller nicht als Mörder geboren wurden. Sie haben zuvor den | |
Krieg in Tschetschenien erlebt, der die Moral der russischen Armee und der | |
Geheimdienste tiefgreifend verändert hat. | |
Was den KGB und den heutigen FSB betrifft, gewinnt man in „Das perfekte | |
Gift“ den Eindruck, der Name habe sich geändert, sonst nichts. | |
Ich würde sogar sagen, dass die heutigen staatlichen Sicherheitsdienste – | |
ich nenne sie „Unsicherheitsdienste“ – gefährlicher sind. Der KGB war | |
gewissermaßen noch durch die Ideologie beschränkt. Durch den Wegfall der | |
Ideologie sind die Sicherheitsdienste flexibler geworden. Außerdem haben | |
wir heute eine veränderte Medienwelt. Zu KGB-Zeiten konnte man sich nicht | |
vorstellen, dass Verdächtige ein TV-Interview geben würden, wie es die | |
beiden Russen taten, die in Salisbury waren, als Skripal ermordet wurde. | |
Sie sagten, sie hätten bloß Urlaub gemacht! Sie können sich öffentlich als | |
unschuldig gerieren. All das untergräbt die öffentliche Moral. | |
Ähnlich wie die Pressekonferenz Putins, der zum Fall Nawalny gesagt hat: | |
„Wenn wir das gewollt hätten, hätten wir’ s wahrscheinlich auch zu Ende | |
gebracht.“? | |
Es begann mit dem [6][Tod von Anna Politkowskaja] an Putins Geburtstag | |
2006. Als er zu ihrem Tod befragt wurde, sagte Putin, ihr Einfluss sei doch | |
lächerlich gering gewesen. Diese Auftritte sagen uns: Es ist legal und | |
legitim, so zu handeln und zu sein. Und sie erzeugen ein Gefühl von | |
Hilflosigkeit, denn man sieht, dass man nichts dagegen machen kann. | |
Die Figur Kalitin ist in Ihrem Buch einer der Wissenschaftler, die | |
Nowitschok einst mitentwickelt haben. Er ist ein Perfektionist, ein Homo | |
Faber, fast gewissenlos. Wofür steht er? | |
Einer der Wege, in der Sowjetunion gut leben und nicht bloß überleben zu | |
können, war es, gut und wertvoll für das System zu sein. Dann wurdest du | |
wegen deiner Fähigkeiten geschützt. Kalitin geht vollends in seinen | |
Experimenten auf, und die Wissenschaft ist für ihn einzig und allein dazu | |
da, Probleme zu lösen. Eine ethische Komponente gibt es dabei gar nicht. | |
Ihr Buch ist auch in Russland erschienen. Beweisen Sie und die Verleger Mut | |
mit der Veröffentlichung? | |
Die Veröffentlichung wurde im Verlag diskutiert, mehr aber auch nicht. Das | |
Buch ist nun in den Läden, es wird verkauft, es wird rezensiert. Mein Buch | |
ist vielleicht nicht so präsent, wie es sein sollte, wenn man bedenkt, wie | |
aktuell der Inhalt ist. Und klar, es werden auch Schriftsteller verfolgt. | |
Es gab den Fall von Dmitri Bykow, der 2019 vergiftet wurde. Laut Bellingcat | |
(Recherche-Netzwerk; d. Red) gibt es Parallelen zwischen seinem Fall und | |
dem Nawalnys. Bykow ist aber Satiriker, er greift Herrn Putin sehr direkt | |
an. | |
Haben Sie dennoch manchmal ein mulmiges Gefühl? | |
Als Autor habe ich Angst, keine Bücher mehr veröffentlichen zu können. Wenn | |
man sich die literarische Landschaft in Russland anschaut, fühlt man eher | |
eine professionelle Scham. Die Autoren schreiben alles Mögliche, aber nicht | |
darüber, was gerade vor sich geht. So will ich nicht sein. Ich will die | |
Fälle verfolgen und literarisch verarbeiten. Als ich im Fall Skripal über | |
die Bezüge zum Labor in Schichany gelesen habe, wusste ich: Das ist meine | |
Geschichte. | |
2 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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