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# taz.de -- Amazon-Serie über Skripal-Anschlag: Gift im Parfümflakon
> Eine Miniserie erzählt die Geschichte von Menschen in Salisbury nach dem
> Giftanschlag auf Ex-Agent Skripal. Die Spannung ist teils fast
> unerträglich.
Bild: Anne-Marie Duff in der Rolle von Tracy Daszkiewicz, Leiterin der Gesundhe…
Zur Erinnerung an eine wahre Geschichte: Am 4. März 2018 wurden der
[1][ehemalige russische Spion Sergei Skripal und seine Tochter Julia]
bewusstlos auf einer Parkbank im englischen Salisbury gefunden. Skripal,
der in den 90ern vom MI6 angeworben worden war, hatte in Russland jahrelang
wegen Verrats im Gefängnis gesessen und sich nach seiner Begnadigung durch
Dmitri Medwedjew in Großbritannien niedergelassen. Bald war klar, dass die
Skripals vergiftet worden sein mussten; als Substanz wurde ein Nervengift
aus der Nowitschok-Gruppe festgestellt.
Es dauerte eine Weile, bis als wahrscheinliche Quelle des Gifts der Griff
der Eingangstür von Skripals Haus identifiziert werden konnte. Auch der
Polizist Nick Bailey, der das Haus als Erster untersucht hatte, erlitt eine
schwere Vergiftung, die er, genau wie die beiden Skripals, dank neuer
Behandlungsmethoden überlebte. Monate später aber starb eine gänzlich
Unbeteiligte, die 44-jährige Dawn Sturgess. Ihr Freund hatte eine
Parfümflasche im Müll gefunden, die Nowitschok enthielt.
In ungefähr diesen groben Zügen wurden jene unfassbaren Begebenheiten
damals, vor drei Jahren, auch von deutschen Medien wiedergegeben. Was man
aus der Ferne nicht wirklich mitbekam, war der allumfassende Alarmzustand,
in den die ganze Stadt Salisbury wegen des Giftattentats geriet. Schon
[2][geringe Spuren von Nowitschok] können den Tod einer Person bewirken;
der Inhalt eines kleinen Parfümfläschchens kann Tausende töten. Solange
nicht klar war, woher das Gift kam und wo die kontaminierten Personen
unwissentlich Spuren davon hinterlassen hatten, war es eine potenzielle
Todesfalle für sämtliche Einwohner der Stadt.
Diese dramatische Rückseite der Mediengeschichte erzählt die Miniserie „Der
Giftanschlag von Salisbury“, die jetzt für alle, die keine Lust auf die bei
Arte gestreamte Synchronfassung haben, auch im Original erhältlich ist.
Nicht die fieberhaften Ermittlungen der Polizei werden thematisiert,
sondern die Konsequenzen, die der Anschlag für das Leben so vieler „ganz
normaler“ Menschen hatte. Das Drehbuch entstand auf Basis von
Zeugenaussagen und Interviews, die mit Betroffenen geführt wurden.
Der Ernst der Lage
Drei Personen stehen im Fokus der Erzählung: Nick Bailey und Dawn Sturgess,
die beiden britischen Nowitschok-Opfer, sowie die Leiterin der
Gesundheitsbehörde von Salisbury, Tracy Daszkiewicz. Letztere wird in der
Nowitschok-Krise gezwungen, über sich und ihr Amt quasi hinauszuwachsen und
sich auch gegen politischen Druck aus London zu stemmen, von wo aus man den
Ernst der Lage eher nachlässig beurteilt und die Sicherheitsmaßnahmen, die
Tracy verhängen lässt, schädlich für die allgemeine Stimmung findet.
Anne-Marie Duff spielt diese Frau, die unversehens eine Hauptrolle in einem
politischen Drama internationalen Maßstabs übernehmen muss, als
bescheidene, klar denkende und auch vor sich selbst ehrliche Person, die
angesichts der Größe der Verantwortung, die ihr auferlegt ist, manchmal
verzweifelt. Der Polizist Nick Bailey (Rafe Spall), zu Beginn gezeigt als
vor selbstbewusster Virilität strotzendes Mannsbild, durchläuft durch seine
Vergiftung ein langes Martyrium, das ihn aller Gewissheiten über sich
selbst beraubt.
Gleichsam umrahmt wird die Serie mit der Geschichte von Dawn Sturgess
(MyAnna Buring), die Drogen- und Alkoholprobleme hat, in einer betreuten
Einrichtung wohnt, ihre kleine Tochter innig liebt und ständig versucht,
sich zu bessern, damit das Kind irgendwann wieder bei ihr leben darf. Am
Ende wird alles vergebens gewesen sein.
## Die „echten“ Personen hinter den Serienfiguren
Und weil die Serie sich so intensiv auf die Perspektive der handelnden
Figuren einlässt, entsteht eine Spannung, die mitunter fast unerträglich
ist, obwohl – oder weil? – man als Zuschauerin ja eigentlich weiß, was
„passiert“. Auf die Perspektive der Betroffenen gebracht, weiß man es auf
einmal aber irgendwie nicht mehr, sondern bangt, hofft und leidet mit
ihnen. Wie brutal und unverschuldet Menschen aus ihrem alltäglichen Leben
gerissen werden können, wird auf einmal spürbar. Das hier ist keine
eskapistische Thrillerserie. Es ist die Wirklichkeit.
Am Schluss werden ganz kurz die „echten“ Personen hinter den Serienfiguren
gezeigt. Dass sie sich ausnahmslos alle vor die Kamera stellen, ist ein
deutlicher Ausdruck dafür, wie sehr sie sich mit der Serie identifizieren
können. Womöglich ist auch die kleine Rede authentisch, die Dawns Tochter
Gracie in einer Szene auf der Trauerfeier ihrer Mutter hält: Darin erzählt
das Mädchen, wie sie und die Mutter gern gemeinsam getanzt und sich dabei
gefilmt haben. Mit genau einem solchen kleinen Handyvideo, auf dem die
echte Dawn Sturgess zu sehen ist, endet die letzte Folge.
Im Hintergrund, oder als Bestandteil, vieler Szenen laufen übrigens
Fernsehbilder der Nachrichten jener dramatischen Zeit. Auch das groteske
Interview, das die beiden mutmaßlichen Attentäter dem russischen Fernsehen
gaben und in dem sie sich in unglaublich plumper Weise als harmlose
Touristen darstellten, ist kurz zu sehen. Aber es bleibt ohne Ton. Denn
dies ist nicht ihre Geschichte. Es ist die Geschichte von Dawn, Nick, Tracy
und ihren Familien.
29 Jun 2021
## LINKS
[1] /Giftanschlag-auf-Agenten-Sergei-Skripal/!5709416
[2] /Kreml-Kritiker-Alexej-Nawalny/!5712149
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
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