# taz.de -- Dokumentarfilm über Alexei Nawalny: Geschichte einer Vergiftung | |
> Der FSB-Anschlag auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny gibt | |
> dem Dokufilmer Daniel Roher Stoff für einen spannenden | |
> Recherche-Thriller. | |
Bild: Vom Kreml gefürchtet: Alexei Nawalny | |
„Scheiße, wie blöd ist das denn?“ soll Alexej Nawalny plötzlich gesagt | |
haben, als sein Stabschef Leonid Wolkow neben seinem Bett im Krankenhaus | |
saß und dem vermeintlich Bewusstlosen erzählte, man habe herausgefunden, | |
dass er mit Nowitschok vergiftet worden sei. So berichtet Wolkow es in | |
einer Filmszene. Und die Frage ist wirklich. | |
Warum haben sie Nawalny nicht einfach erschossen, so wie Boris Nemzow, den | |
einstigen großen Hoffnungsträger der russischen Opposition, der im Februar | |
2015 ganz in der Nähe des Kreml an mehreren Kugeln starb? Vielleicht ja | |
gerade deshalb. Vielleicht um eben diese Analogie zu Nemzow auszuschließen, | |
sollte Alexej Nawalny durch ein später nicht mehr nachweisbares Nervengift | |
umkommen. Wie ein Tod aus natürlichen Ursachen hätte es aussehen können, | |
wenn er am 20.8.2020 auf dem Flug von Nowosibirsk nach Moskau gestorben | |
wäre. Doch der Pilot des Linienflugzeugs machte dieses Szenario zunichte, | |
indem er in Tomsk zwischenlandete. | |
Die Geschichte vom Mordversuch an [1][Alexei Nawalny], seiner Rückkehr nach | |
Russland und dazwischen der Aufklärung des Falles durch Christo Grozev und | |
Bellingcat ist von der Art, die man nicht glauben würde, wäre sie Fiktion. | |
Welch ein Glück, dass Daniel Roher, ein kanadischer Dokumentarfilmer, sich | |
des Themas annahm und Nawalny kontaktierte, während der sich zur | |
Rekonvaleszenz in Berlin aufhielt. | |
## Für Ziele brennen | |
Rohers Film erzählt nicht nur den ganzen Krimi um den Giftanschlag in neuen | |
und ausführlichen Details, sondern zeigt auch den Oppositionspolitiker als | |
Privatperson, als Mann, der für seine Ziele brennt und dabei ein | |
hingebungsvoller Familienmensch geblieben ist. | |
Auch Leute aus seinem Umfeld kommen zu Wort: Das „Team Nawalny“ wird | |
lebendig. Seine Frau Julia sei auch in der politischen Arbeit seine engste | |
Vertraute, wie er betont, und zudem ist eine kleine Gruppe Eingeweihter – | |
Rechercheurin Maria Pewtschich, Pressesprecherin Kira Jarmysch, und | |
Stabschef Wolkow auch im Film meist um ihn. Hinzu kommt als wichtigster | |
Nebendarsteller Christo Grozev vom Recherchenetzwerk Bellingcat. Grozevs | |
Spezialität ist die Aufklärung russischer Geheimdienst-Giftmorde. | |
Über Twitter habe er Nawalny kontaktiert, sagt Grozev, und ihm seine | |
Dienste angeboten. Über manche Recherchemethoden von Bellingcat spricht er | |
offen. Da zum Beispiel eine Person, die in Russland in einem Reisebüro | |
arbeite, nur etwa 25 Dollar am Tag verdiene, so Grozev, sei es gar kein | |
Problem, an alle Daten zu kommen, die man brauche. Passagierlisten, | |
Kundendaten, you name it. Auf diese Weise und durch Querabgleich der Daten | |
bekam er nach und nach heraus, welche Geheimdienstler im selben Zeitraum | |
nach Nowosibirsk geflogen waren wie Alexei Nawalny, und konnte schließlich | |
die Täter identifizieren. | |
## Wo ist meine Polizei? | |
Nawalny selbst erzählt im Nachhinein von seiner Verblüffung darüber, wie | |
wenig er während des gesamten Aufenthalts in Nowosibirsk von den Behörden | |
drangsaliert worden war. Das habe er fast als Beleidigung empfunden, grinst | |
er. „Wo ist meine Polizei?“, habe er rufen wollen. Herzstück von Daniel | |
Rohers Film ist jenes sagenhafte Video, das bereits Ende 2020 auf Youtube | |
veröffentlicht wurde und in dem es Alexei Nawalny gelingt, ein Telefonat | |
mit einem seiner Beinahe-Mörder zu führen und ihm die Geschichte seiner | |
Vergiftung zu entlocken. | |
Spannend ist das [2][Drumherum], wird doch im filmischen Kontext klar, wie | |
sehr dieser geniale Coup ein verrückter Glücksfall war. Denn der Chemiker | |
namens Kudrjawzew (der seit Veröffentlichung des Videos als verschollen | |
gilt, wie man am Schluss erfährt) ist bereits der vierte der Täter, den | |
Nawalny anruft. Bei den anderen dreien meldet er sich mit Namen und | |
erklärt, er wolle sich darüber unterhalten, warum sie ihn hätten umbringen | |
wollen. Erst nachdem diese Personen, nicht sehr überraschend, alle sofort | |
das Gespräch abgebrochen haben, beschließt das Team, den Vierten besser | |
unter falschem Namen anzurufen. | |
Daniel Roher unternimmt nicht den Versuch, ein umfassendes Porträt des | |
Politikers Nawalny zu liefern, sondern beschränkt seinen Film auf die | |
Geschichte der Vergiftung, Genesung, Rückkehr und Verhaftung. Das ist eine | |
Geschichte, die wir alle zu kennen glauben, die er aber mit Bildern | |
ergänzt, die den meisten neu sein dürften. Viele Handyvideos sind darunter. | |
## Szenen aus dem Flugzeug | |
Sie zeigen Szenen aus dem Flugzeug, in dem Nawalny saß, als er | |
zusammenbrach, andere, auf denen eine energische Julia Nawalnaja zu erleben | |
ist, die im Tomsker Krankenhaus eindringlich darauf besteht, zu ihrem Mann | |
gelassen zu werden, und Aufnahmen aus Moskau, wo Menschen vergeblich am | |
Flughafen auf den berühmten Rückkehrer warten (das Flugzeug wurde zu einem | |
anderen Flughafen umgeleitet) und viele verhaftet werden. | |
Nawalnys 19-jährige Tochter Dascha spricht vor dem Rückflug der Familie | |
nach Russland darüber, dass sie, seit sie 13 war, ständig daran denkt, dass | |
ihr Vater ermordet werden könnte. Zwischen alldem sind immer wieder | |
Ausschnitte aus Sendungen des russischen Fernsehens montiert, in denen | |
jegliche Verstrickung des Staates geleugnet wird. | |
Zwei zentrale Punkte zu Nawalnys Vergangenheit bringt Roher in den | |
Interviews, die er mit dem Porträtierten führt, zur Sprache: zum einen die | |
vor allem im Westen oft geäußerte Kritik daran, dass Nawalny früher die | |
Nähe zur politischen Rechten gesucht habe. Und dann noch etwas, das bisher | |
weniger bekannt war: Befragt, woher seine politische Motivation rühre, | |
erzählt Nawalny, dass seine Familie väterlicherseits aus der Nähe von | |
Tschernobyl stamme. | |
Die sowjetischen Behörden hätten die Bevölkerung 1986 systematisch über die | |
Atomkatastrophe belogen und im Unklaren gelassen, hätten Bauern sogar | |
massenweise auf die Felder getrieben, um Kartoffeln zu setzen. Diese | |
Erfahrung habe ihn fürs Leben geprägt. Und so schließt sich, in fast | |
tragischer Konsequenz, sogar noch der Kreis zur Ukraine. | |
5 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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