# taz.de -- Günter Wallraff über Julian Assange: „Ein Tod auf Raten“ | |
> Günter Wallraff sieht starke Parallelen zwischen dem | |
> Wikileaks-Journalisten Julian Assange und dem russischen Dissidenten | |
> Alexei Nawalny. | |
Bild: Günter Wallraff setzt sich seit Jahren für die Freilassung von Assange … | |
taz Panter Stiftung: Herr Wallraff, warum setzen Sie sich seit Jahren | |
[1][für Julian Assange] ein? | |
Günter Wallraff: Zum einen, weil Assange es mit WikLeaks wie kein anderer | |
geschafft hat, den Enthüllungsjournalismus in der digitalen Welt zu | |
etablieren. Zum anderen, weil WikiLeaks und er sich in die Zentren der | |
Macht vorgewagt und Kriegsverbrechen der USA öffentlich gemacht haben, die | |
wir uns in Ausmaß und Detailliertheit so nicht hätten vorstellen können. | |
Endgültig mobilisiert hat mich die gnadenlose Verfolgung, die Assange seit | |
zwölf Jahren erdulden muss. | |
Ich fühle mich immer den Menschen verbunden, die auf einmal als Inbegriff | |
des Bösen und Verwerflichen hingestellt werden und an denen Rufmord im | |
wortwörtlichen Sinne begangen wird. Dann betreibt die CIA als mächtigster | |
Geheimdienst der Welt noch gezielte Desinformation und erpresst einen | |
Straftäter als Kronzeugen zu Falschaussagen. | |
Assanges Fall ist wie aus einem Lehrbuch für Geheimdienste. [2][Das | |
Verfahren gegen ihn] wegen eines vermeintlichen Fehlverhaltens ist längst | |
eingestellt – doch die öffentliche Meinung wurde weiter manipuliert. So | |
wurde er zum Aussätzigen, zum egozentrischen Dämon, zum Monster fabriziert. | |
Das hat auch Menschen abgeschreckt, die WikiLeaks mit Sympathie | |
gegenüberstanden. | |
Sie auch? | |
Ja, das irritiert erst mal. Doch ich hatte Kontakt zu seinem Vater, John | |
Shipton, und zu Nils Melzer, dem UN-Sonderbeauftragten für Folter. Er hatte | |
Assange zuvor aufgesucht und bei ihm Symptome festgestellt, die auf | |
Psychofolter insbesondere durch Isolation deuteten. Melzer stufte Assanges | |
Gesundheitszustand als lebensbedrohlich ein. | |
Sie haben dann Prominente aus Kultur und Politik dazu gebracht, sich im | |
Februar 2020 für die Freilassung von Assange auszusprechen? | |
Ende 2019 kontaktierte ich Gerhart Baum, von 1978 bis 1982 | |
Bundesinnenminister, der sich seit jeher vorbildlich für Menschenrechte | |
einsetzt, und Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. Beide konnte ich von | |
einem Engagement für Assange überzeugen. Im Rahmen der | |
Bundespressekonferenz haben wir Assanges Schicksal wieder ins öffentliche | |
Bewusstsein gerückt und gleichzeitig eine ganzseitige Anzeige in einer | |
großen deutschen Zeitung geschaltet. | |
Den Appell haben weit über hundert Personen des öffentlichen Lebens | |
unterzeichnet, etwa Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die | |
heutigen Bundesminister Robert Habeck, Cem Özdemir und Karl Lauterbach, | |
aber auch acht Ex-Bundesminister und -ministerinnen, drei von ihnen | |
Justizministerinnen. | |
Im Sommer 2021 haben Sie einen Brief an die damalige Bundeskanzlerin Angela | |
Merkel initiiert und sie anlässlich ihres Besuchs bei US-Präsident Biden | |
aufgefordert, den Fall Assange zur Sprache zu bringen. | |
Dieser Aufforderung haben sich 120 prominente Unterstützer angeschlossen. | |
Das hat nicht gereicht. Inzwischen sitzt Assange seit über drei Jahren im | |
Belmarsh-Hochsicherheitsgefängnis Ihrer Majestät … | |
… wo ansonsten Terroristen und gemeingefährliche Mörder einsitzen. Außerdem | |
war er zuvor schon sieben Jahre in Ecuadors Botschaft seiner Freiheit | |
beraubt, wo die Gespräche mit seinen Anwälten und Ärzten abgehört und die | |
Mitschnitte an die CIA gegeben wurden. Seit zehn Jahren ist er zunehmend | |
isoliert. Er steht dem Willen gegenüber, ihn psychisch zu vernichten. Ich | |
habe das Gefühl, man spielt auf Zeit. Er soll einen Tod auf Raten sterben. | |
Weil er den Tod anderer durch US-Soldaten dokumentiert hat? | |
Assange war es, der 2010 die Kriegsverbrechen von US-Seite im Irak und in | |
Afghanistan offenlegte: tausendfache Folter und schon damals 15.000 mehr | |
von der US-Armee getötete Zivilisten als offiziell bekannt war. | |
Assange offenbarte mit dem sogenannten Collateral-murder-Video das | |
mordlüsterne, makabre Handeln des US-Militärs: US-Soldaten massakrieren aus | |
einem Hubschrauber heraus in Bagdad mehr als ein Dutzend Menschen, darunter | |
zwei Reuters-Journalisten. Als ein Minibus neben den Verletzten hält, um | |
sie zu retten, wird auch der Retter gezielt erschossen. Seine zwei Kinder | |
überleben schwer verletzt. Die Soldaten feuern sich gegenseitig an, als | |
wäre es ein Videospiel. | |
Die Mörder wurden nie vor Gericht gestellt, vielmehr ist Assange wegen | |
Spionage angeklagt. Ihm droht eine Höchststrafe von 175 Jahren Haft. | |
Warum wollen Ihrer Meinung nach die US-Geheimdienste und nicht nur der | |
frühere US-Präsident Donald Trump, sondern auch Joe Biden Assange lebend im | |
Gefängnis begraben? | |
Hier soll ein Exempel statuiert werden: Wer öffentlich macht, was | |
US-Regierung, US-Militär und ihre Geheimdienste an | |
Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen für geheim erklärt haben, | |
kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Whistleblower und | |
Journalisten sollen abgeschreckt werden. Dies gilt auch für die Verfolgung | |
des Ex-CIA-Mannes Edward Snowden, der in Moskau im Exil festsitzt, nachdem | |
er die weltweite Massenüberwachung im Internet durch US-Geheimdienste | |
öffentlich gemacht hat. | |
Sie selbst haben jahrelang ausbeuterische Arbeitsverhältnisse enthüllt wie | |
auch den Zynismus in der Bild-Redaktion. Wie sehen Sie Ihre journalistische | |
Praxis im Vergleich zu der von WikiLeaks? | |
In einem Aspekt steht mir Assange sehr nahe. Es geht darum, Dinge | |
aufzudecken, die mächtige Interessen verheimlichen. Wobei er in die | |
politischen Machtzentren eindringt, zum Beispiel ins Hauptquartier der CIA, | |
und ich mich nach unten Situationen aussetze, die verborgen bleiben sollen. | |
Assange macht es im Großen, ich im Kleinen. | |
Hat er deshalb wesentlich schärfere Konsequenzen zu ertragen als Sie? | |
Auf jeden Fall. Ich kann mich nicht beklagen. Ich wurde in Deutschland zwar | |
von Geheimdiensten überwacht, musste aber für meine Aktionen nie ins | |
Gefängnis. Das passierte in anderen Ländern, etwa in Griechenland zur Zeit | |
der Militärdiktatur. Hier leben wir in einem Rechtsstaat: So hat der | |
Bundesgerichtshof meine Recherchemethoden auch gegen einen übermächtigen | |
Gegner wie den Springer-Verlag in der sogenannten Lex Wallraff mit der | |
Begründung bestätigt: Geht es um gravierende Missstände, hat die | |
Gesellschaft ein Recht, darüber informiert zu werden, auch wenn diese | |
Informationen durch Täuschung erlangt wurden. | |
Als Bundestagsabgeordnete hat Annalena Baerbock im letzten September die | |
„sofortige Freilassung“ von Julian Assange gefordert, als | |
Bundesaußenministerin schwieg sie wochenlang beharrlich, dann erklärte sie: | |
„Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an der Rechtsstaatlichkeit des | |
Verfahrens und des Vorgehens der britischen Justiz zu zweifeln.“ | |
Traurig. Wenn es um die Pressefreiheit und Menschenrechte geht, sollten | |
Politiker in Regierungsverantwortung zu ihrer eigenen Meinung stehen. | |
Als Alexei Nawalny in Russland verhaftet wurde, ging hierzulande ein | |
Aufschrei durch Politik und Medien. Warum gilt Nawalny hier als Held im | |
Kampf um Meinungsfreiheit und Assange als dubioser Spion? | |
Für mich sind Menschenrechte unteilbar. Da folge ich Heinrich Böll, der mit | |
seinem Engagement für Menschenrechte ein Vorbild ist. Im letzten Jahr habe | |
ich vorgeschlagen, Navalny und Assange gemeinsam den Friedensnobelpreis zu | |
verleihen. | |
Ich halte sie für zentrale Pole in ihrem jeweiligen System, an denen sich | |
zeigt, wie diktatorische Regime, aber auch formale Demokratien wie die USA | |
zurückschlagen, wenn unangenehme Wahrheiten offengelegt werden. Das wäre | |
ein wirkmächtiges politisches Signal. Denn wenn die beiden den wohl | |
wichtigsten politischen Preis überhaupt erhielten, wäre es für das | |
westliche wie das östliche Lager viel schwerer, der jeweils anderen Seite | |
demokratisches Fehlverhalten vorzuwerfen und sich zugleich selbst als | |
Vollstrecker von Recht und Ordnung zu inszenieren. | |
Assange wie Nawalny müssten in der Folge allein nach rechtsstaatlichen | |
Kriterien beurteilt werden. Was natürlich hieße: Beide müssten frei kommen | |
und ihre wichtige Arbeit wieder aufnehmen. Beide stehen seitenverkehrt für | |
die gleiche Sache: Sie kämpfen für Transparenz und Demokratie und gegen | |
Korruption, Willkür und Machtmissbrauch. | |
Kann man etwas dafür tun, damit Julian Assange freikommt? | |
An Verantwortliche schreiben, auch ihm schreiben, damit er sieht, dass er | |
nicht allein ist. Man muss etwas tun, auch wenn mit dem Ukrainekrieg alles | |
infrage gestellt wird und Verletzungen der Pressefreiheit wie bei Assange | |
in den Hintergrund gedrängt werden. Mutige Journalisten wie Assange werden | |
in Zeiten des Krieges besonders gebraucht. | |
Dieser Text ist Teil einer Beilage der taz Panter Stiftung und von Reporter | |
ohne Grenzen in der taz vom 3. Mai 2022, dem Internationalen Tag der | |
Pressefreiheit. | |
2 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Michael Sontheimer | |
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