# taz.de -- Nawalny-Sprecherin über Dissidenz: „Wahrheit tut den Machthabern… | |
> Sie war selbst in Haft und hat einen Gefängnisroman geschrieben. Ein | |
> Gespräch mit Kira Jarmysch, MItarbeiterin des russischen Oppositionellen | |
> Nawalny. | |
Bild: Kira Jarmysch ist die Pressesprecherin des russischen Oppositionellen Ale… | |
taz am wochenende: Kira Jarmysch, als Erstes würde ich mit Ihnen gern über | |
die Situation des Kreml-Kritikers Alexei Nawalny reden, dessen | |
Pressesprecherin Sie sind. Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu ihm und wie | |
geht es ihm aktuell? | |
Kira Jarmysch: Ich kommuniziere regelmäßig mit ihm über seine | |
Rechtsanwälte. Ich kann ihm eine kurze Notiz übermitteln, und ich bekomme | |
eine ebenso kurze Antwort. Den direkten Kontakt ersetzt das natürlich | |
nicht. Es geht ihm gesundheitlich inzwischen viel besser als vor einigen | |
Monaten. Was seine geistige Widerstandskraft und seinen Mut betrifft, so | |
hat beides nie nachgelassen. | |
Nawalnys Organisationen wurden im Sommer [1][für extremistisch erklärt] und | |
verboten, der Stabschef und Vertraute Leonid Wolkow ist nach Litauen | |
geflohen und [2][gibt von dort aus Interviews.] Arbeiten Sie inzwischen | |
auch im Exil? | |
Ja, ich bin ebenfalls ins Ausland gegangen – wie die meisten Mitarbeiter | |
Nawalnys. Das ist aber nur eine Ortsveränderung, wir arbeiten genauso | |
weiter wie vorher. Aus Sicherheitsgründen kann ich nicht sagen, wo ich mich | |
aufhalte. Ich habe aber nicht die Absicht, nach Moskau zurückzukehren. | |
Fürchten Sie eine längere Haftstrafe? | |
Wahrscheinlich würde mir eine längere Gefängnisstrafe drohen. Ich habe aber | |
keine Angst vor der Haft, sondern davor, nicht mehr als Sprecherin Nawalnys | |
arbeiten zu können. Von Januar bis August stand ich unter Hausarrest, schon | |
während dieser Zeit konnte ich meine Arbeit nicht machen. | |
Die [3][Protagonistin Ihres Romans,] Anja, wird inhaftiert, weil sie zu | |
einer Demonstration gegen die Regierung aufgerufen hat. Auch Sie waren | |
schon im Gefängnis. Wie wurden Sie dort behandelt? | |
Ich war in einer Moskauer Arrestanstalt. In Moskau wird man vergleichsweise | |
anständig behandelt. Aber auch dort ist es natürlich nicht angenehm – man | |
darf zum Beispiel nur einmal in der Woche duschen. Was ich in meinem Buch | |
beschreibe, lehnt sich eng an meine eigenen Erlebnisse an. Ich saß schon | |
vier Mal im Arrest, insgesamt 50 Tage. | |
Warum die fiktionalisierte Form und kein Hafttagebuch? | |
Ich mag belletristische Literatur lieber als dokumentarische Texte. Der | |
literarische Zugang hat es mir zudem ermöglicht, einige mystische und | |
unerklärliche Dinge – die Halluzinationen und Wahrnehmungsverschiebungen | |
der Hauptfigur Anja – in diesen real beschriebenen Gefängnisalltag | |
einzuflechten. Das fand ich reizvoll, ich bin ein Fan des magischen | |
Realismus. | |
Ihre Protagonistin ist in einem Frauentrakt inhaftiert. Sie trifft dort auf | |
wenige emanzipierte Frauen, sie selbst hingegen definiert sich als | |
Feministin. Ist das der Spiegel dessen, was Sie erlebt haben? | |
Die Frauenfiguren würden sich zwar nicht als Feministinnen bezeichnen, aber | |
es sind meines Erachtens sehr mutige Frauen. Was sie machen und wie sie | |
leben, kann man vielleicht schon als feministisch bezeichnen. Die Figuren | |
leben in dem Widerspruch, dass sie einerseits entscheidungs- und | |
handlungsstark sind, andererseits aber ständig den Männern gefallen und | |
sich unterordnen müssen. Pars pro toto dafür steht die Figur Maja, die in | |
„Brust- und Po-Tuning investiert, um reichen Männern zu gefallen“, wie es | |
im Roman heißt. Den Widerspruch müssen sie aushalten. | |
Wie die Hauptfigur haben auch Sie am Staatlichen Institut für | |
Internationale Beziehungen studiert. Haben Sie – wie die Protagonistin – | |
auch ein Praktikum im Außenministerium gemacht? | |
Ja. Ich habe an dem Institut studiert, ich habe im Studentenheim gelebt, | |
ich habe ein Praktikum im Außenministerium absolviert. Aber ich werde nicht | |
verraten, bis zu welchem Punkt all das autobiografisch ist, ich will ja | |
nichts spoilern. | |
Haben Sie im Außenministerium Dinge gelernt und gesehen, die Sie heute als | |
Oppositionelle einsetzen können? | |
Im Außenministerium habe ich gar nichts gelernt. Was mich am meisten | |
gebildet hat, war das tägliche Leben im Studentenheim. | |
Sie erwähnen alte russische Rockstars wie Boris Grebenschtschikow (von der | |
Band Aquarium) und Juri Schewtschuk (von DDT). Welche Rolle spielen diese | |
Musiker heute noch in der Opposition? | |
Die russische Rockmusik hat man schon immer mit Widerstand und Veränderung | |
assoziiert. Viele Lieder sind ins kollektive russische Gedächtnis | |
eingegangen. Musik sieht man als Medium der Veränderung. | |
Wenn Sie das Leben im Studentenheim so geprägt hat, würde man vielleicht | |
vermuten, dass zum Beispiel jüngere Rap-Musiker:innnen aus Ihrer Generation | |
vorkämen. Eignen die sich nicht zur Identifikation? | |
Es gäbe sicher auch neuere Musik, die man hätte erwähnen können. Aber zum | |
einen liegt der Zeitraum, den ich im Roman beschreibe, auch schon wieder | |
ein bisschen zurück – die Handlung spielt in den späten nuller und frühen | |
zehner Jahren. Und ein russisches Studentenwohnheim dürfen Sie sich wie | |
eine Zeitkapsel vorstellen: Da ist sehr viel aus der Sowjetzeit geblieben. | |
Die Architektur ist sowjetisch, es gibt einen Holzfußboden und | |
Etagenbetten. Die Studenten spielen im Zimmer Gitarre und trinken im Flur | |
Alkohol. Das ist die alte Welt. | |
In „Dafuq“ tritt ein Polizist auf, der sagt, er wolle zur Opposition | |
überlaufen. Er wird zunächst als sympathische Figur eingeführt, ehe sich | |
herausstellt, dass er Stalin verehrt. Wie typisch ist eine solche Figur für | |
die russische Opposition? | |
Natürlich gibt es Menschen, die etwas verändern wollen, aber gar nicht | |
wissen, wie sie ihren Veränderungswillen artikulieren können. Also greifen | |
sie zum Beispiel zur Stalinverehrung. Das ist das Problem eines | |
autokratischen Staates. Wenn die unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen | |
werden wie bei den jüngsten Wahlen, machen die Menschen gar nicht die | |
Erfahrung, dass es auch Alternativen gäbe – und welche. | |
Ist das die einzige Erklärung? | |
Nein. Es geht auch um den Lebensstandard der Menschen in Russland. Sie | |
wollen besser leben, und sie bilden sich ein, in der Sowjetunion sei alles | |
viel besser geregelt und ein Menschenleben sei mehr wert gewesen. Das ist | |
natürlich eine Illusion. Aber diese Illusion existiert. | |
Wie ist Ihr Roman in Russland aufgenommen worden? | |
Beim Publikum kommt er gut an, er ist in der dritten Auflage, etwa 14.000 | |
Exemplare sind verkauft. Die staatlichen Behörden aber versuchen den | |
Verkauf und die Vermarktung zu behindern. Zum einen durfte ich im März | |
nicht an der Moskauer Buchmesse „non/fiction“ teilnehmen, zum anderen prüft | |
die russische Justiz die Inhalte des Romans gerade. „Propaganda für Drogen, | |
Selbstmord und nichttraditionelle sexuelle Verhaltensweisen“ stehen als | |
Vorwürfe im Raum. | |
Homosexuelles Begehren spielt eine Rolle, verschiedene Modelle von Liebe | |
und Lust kommen vor: Wollten Sie mit dem Roman in Ihrer Heimat denn | |
provozieren? | |
Überhaupt nicht. Ich wollte keinen politischen Roman schreiben. Aber den | |
heutigen Machthabern in Russland tut alles weh, was wahr ist. Deshalb | |
versuchen sie jetzt wohl auch, den Roman zu verbieten. Ich denke, die | |
Gesellschaft ist gar nicht so repressiv, aber die Machthaber sind es. Der | |
Altersdurchschnitt in der Regierungsfraktion liegt wohl so zwischen 60 und | |
70, offen für neue Entwicklungen sind die wenigsten. Und weil es nie einen | |
Machtwechsel gibt, kann Russland sich nicht verändern. | |
Kommen wir noch mal zu Alexei Nawalny. Er ist eine Figur, [4][die vielen | |
europäischen Linken als widersprüchlich gilt]. Seine früheren | |
fremdenfeindlichen Äußerungen stoßen auf viel Unverständnis, zur Krim sagte | |
er 2014, er würde sie nicht zurückgeben, wenn er Präsident wäre. Wie stehen | |
Sie dazu? | |
Da muss ich widersprechen, Nawalny hat nie dezidiert xenophobe Äußerungen | |
getan. Eine Zeitlang hat er mit den russischen Nationalisten paktiert, | |
damals war er wohl auch ein Nationalist. Was die Causa Krim betrifft, so | |
spielte er darauf an, dass die Krim ein historisch gewachsenes | |
russisch-ukrainisches Problem ist. Er wollte zu bedenken geben, dass man | |
die Krim nicht mal eben mit einem Fingerschnippen zurückgeben könne, | |
sondern dass es vieler neuer Vereinbarungen und Überlegungen bedürfe, um | |
dieses Problem zu lösen. Nawalny versteht sich in erster Linie als Kämpfer | |
gegen Korruption – dem Hauptproblem Russlands. Er steht zudem für | |
Demokratie, unabhängige Gerichte und eine freie Presse. In diesem Weltbild | |
sehe ich keine Widersprüche. | |
In früheren Interviews aber hat er aber doch Einwanderer [5][des Öfteren | |
mit Tieren] und Eindringlingen verglichen, [6][er hat Kaukasier, | |
Zentralasiaten und Georgier herabgewürdigt.] | |
Im persönlichen Gespräch habe ich so etwas von ihm nie gehört. Ich könnte | |
auch nie mit einem Menschen arbeiten, der nationalistische oder | |
fremdenfeindliche Ansichten hat. Zwei Anmerkungen zu seinen früheren | |
Äußerungen: Zum einen gibt es im Internet eine Masse an Fake-Äußerungen, | |
die er nie getätigt hat. Zum anderen sind da jene Dinge, die er | |
zweifelsohne gesagt hat. Aber auch er ist ein Mensch, der sich entwickelt. | |
In den nuller Jahren hat er sich anders über Flüchtlinge geäußert als | |
heute. Man muss ihm schon zugestehen, dass er als Politiker und Mensch | |
dazulernt. | |
30 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Urteil-gegen-Nawalnys-Organisationen/!5778266 | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/russischer-oppositionspolitiker-klagt-a… | |
[3] /Roman-ueber-Frauenknast/!5805538 | |
[4] https://www.dekoder.org/de/gnose/alexej-nawalny | |
[5] /Amnesty-Internationals-Herabstufung/!5750618 | |
[6] /Kritik-an-Alexei-Nawalny/!5743337 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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