# taz.de -- Hafttagebuch von Oleg Senzow: Rammstein in voller Lautstärke | |
> Das Buch „Haft. Notizen und Geschichten“ ist ein Dokument des russischen | |
> Lagervollzugs. Aber es zeigt auch die ambivalenten Seiten des Autors. | |
Bild: Oleg Senzow, 2015 in Haft | |
Der Alltag hinter den Mauern der Strafkolonie IK-8 ist für [1][Oleg Senzow] | |
monoton und grau. In Labytnangi am Polarkreis verbringt der ukrainische | |
Regisseur, der 2014 auf der Krim wegen Terrorverdachts von den Russen | |
festgenommen wurde, den Großteil seiner Haftzeit. Aus Protest gegen das | |
über ihn verhängte Urteil – 20 Jahre Haft – tritt er im Mai 2018 in einen | |
145-tägigen Hungerstreik. Infusionen mit Aminosäuren und anderen | |
Substanzen halten ihn am Leben. | |
Sein Dahinvegetieren dokumentierte Senzow in einem Tagebuch. Er schreibt: | |
„Es passiert nichts, selbst die abendliche Übelkeit stellt sich immer um | |
dieselbe Zeit ein. […] Die Eintönigkeit der derzeitigen Lage setzt mir | |
irgendwie am meisten zu. Ob mein Tagebuch irgendwann diese Mauern verlässt | |
und Verlegern in die Hände fällt? Und wenn ja, pressen sie dann vielleicht, | |
nachdem sie es gelesen haben, die Lippen aufeinander, lassen die Arme | |
sinken und sagen: ‚Ja, schon irgendwie interessant, aber diesen ganzen | |
monotonen Mist können wir doch nicht so abdrucken.‘ “ | |
Es ist gut, dass es anders kam und nun auch die deutschen Verleger von | |
Voland & Quist Senzows Notizen unter dem Titel „Haft“ nur wenig gekürzt | |
gedruckt haben. Im September 2019 war der auf der Krim aufgewachsene Senzow | |
freigekommen, dabei ist es ihm gelungen, seine Notizen mitzunehmen. | |
## Porträts seiner Mitgefangenen | |
Senzows Wunsch war es, die Aufzeichnungen, die unter Extrembedingungen | |
entstanden sind, größtenteils im Originalzustand zu lassen. Neben dem | |
Tagebuch enthält „Haft“ auch lesenswerte Porträts seiner Mitgefangenen und | |
eine Geschichte, die vom Stolypin-Waggon erzählt. Stolypin-Waggons, schon | |
für den Transport von Häftlingen in den Gulag genutzt, werden bis heute zum | |
Gefangenentransport eingesetzt. | |
Als Chronik eines Hungerstreiks, als Dokument des russischen Lagervollzugs | |
ist „Haft“ ein wichtiges Buch. Man lernt Senzow kennen als Vater, dem seine | |
Kinder über alles gehen und der sich aus der Haft heraus vehement für deren | |
Wohl einsetzt. | |
An den besseren Tagen fühlt es sich trotz des Hungerstreiks für ihn wie | |
Knastalltag an, an den schlechteren Tagen ist er hingegen dem Zusammenbruch | |
nah. Senzow schreibt über seine Lektüre (Haruki Murakami, John Steinbeck, | |
Vladimir Nabokov, Erich Maria Remarque, die Nowaja Gaseta), er will die | |
einzige, im Überfluss vorhandene Ressource Zeit sinnvoll nutzen. Er | |
verfolgt die Spiele der Fußball-WM, die im von ihm verhassten Russland | |
stattfindet, er schreibt über das wechselhafte Wetter vor den Fenstern | |
seiner Zelle. | |
Menschenrechtsbeauftragte aus dem Ausland besuchen ihn oder sprechen via | |
Videochat mit ihm, auch sogenannte „Menschenrechtsbeauftragte“ aus Russland | |
kommen zu ihm. Ein sehr enges Verhältnis, eine Freundschaft gar baut er | |
ausgerechnet zu seinem Gefängnisarzt auf, der „auf Putin steht“ und meint, | |
die Ukraine solle „in den mütterlichen Schoß“ Russlands zurückkehren. In | |
persönlichen Dingen aber sind sie sich sehr ähnlich. | |
## Soldatisches Männerbild | |
Aber der Band erzählt auch etwas über Senzows fragwürdige Seiten. | |
Gelegentlich stößt man auf problematische Denkmuster. Allen voran das | |
soldatische Männerbild. Es zeigt sich etwa in Passagen, wo Senzow allzu oft | |
von „Ehre“ spricht und darüber, dass es im Knast keinen juckt, wenn einer | |
ein Mörder ist („Schließlich sind wir Männer“). Das Bild von Männlichke… | |
ist ein archaisches. Auch sein stereotypes Denken über „Zigeuner“, das er | |
in einer Passage äußert, schreckt ab. | |
Politisch ist Senzow schwer einzuschätzen. Kürzlich war bekannt geworden, | |
dass [2][Serhii Filimonow, der Hauptdarsteller seines Films „Rhino“, in der | |
rechtsextremen Szene Kiews verankert ist]. Auch wenn Senzow sich von ihm | |
als Person distanziert, bleibt dies eine hochproblematische Besetzung. | |
Senzow ist ein komplexer, ambivalenter Charakter, genauso lernt man ihn | |
hier auch kennen. | |
Jenseits dessen ist in „Haft“ des Öfteren unklar, wie viel Senzow | |
preisgeben kann. Es besteht immer die Gefahr, dass seine Notizen von den | |
Aufsehern einkassiert werden, insofern schreibt er wohl nicht über alle | |
Begebenheiten, die sich dort zutragen. Als ein Gefängniswärter einmal | |
fragt, was das für Notizen seien, sagt er, er arbeite an einem Drehbuch – | |
und darf sie daraufhin behalten. | |
Andeutungen, wie es anderen Häftlingen in der Strafkolonie IK-8 ergeht, die | |
vielleicht nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen, gibt es zuhauf. | |
Sein Name habe ihn geschützt, sagte Senzow kürzlich im Gespräch mit der | |
taz, er sei „nur“ am ersten Tag in Haft misshandelt worden. | |
Eine in russischen Straflagern wohl übliche Prozedur. Senzow schreibt: „Den | |
ganzen Nachmittag dröhnte im Flur Rammstein in voller Lautstärke. | |
Wahrscheinlich haben sie sich im ersten Stock mal wieder Problemfälle oder | |
Neuzugänge vorgeknöpft. Grillrunde nennen sie das hier. Die laute Musik | |
schluckt alle Töne, die bei dieser physischen und psychischen Akkordarbeit | |
anfallen.“ | |
2 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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