Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schriftsteller Artur Klinaŭ über Belarus: „Öffentlichkeit ist …
> Der Schriftsteller Artur Klinaŭ aus Belarus kritisiert, dass die Politik
> der EU sein Land in Russlands Arme treibt. Auch die Opposition mache
> Fehler.
Bild: Der Schriftsteller Artur Klinaŭ 2013 in Berlin
taz: Herr Klinaŭ , Sie halten sich nach einem Stipendium in Berlin derzeit
in Deutschland auf, wollen aber zurück nach Belarus. In Ihrem Buch „Acht
Tage Revolution“ schreiben Sie: „Jeder in Belarus ist heute Geisel des
Regimes.“ Warum gehen Sie dennoch zurück?
Artur Klinaŭ: Ich bin nie emigriert, ich war nur zu einem künstlerischen
Aufenthalt in Deutschland. Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass
man bis zum letzten Moment im Land bleiben muss. Leider haben wir aktuell
die Situation, dass jede Person, die überhaupt eine „aktive Position“
innehat, bedroht ist. Egal, ob du dich mit Politik beschäftigst oder im
kulturellen Bereich tätig bist.
Nachdem russische und belarussische Truppen in Kasachstan eingesetzt wurden
und seit die Ukraine von Putin umzingelt wird, befinden wir uns in einer
sehr dynamischen geopolitischen Situation. Was bedeutet diese Entwicklung
für Belarus?
Man muss diese Geschehnisse trennen. [1][Die Ereignisse in Kasachstan]
haben meines Erachtens deutlich gezeigt, dass auch die Revolution in
Belarus nie eine Chance hatte. Es gab zwei Möglichkeiten, wie die Aufstände
in Belarus hätten enden können. Die erste: So, wie es nun geschehen ist.
Die zweite: Es wären direkt Truppen einmarschiert. Ich habe schon die ganze
Zeit die Ansicht vertreten, dass es in Belarus derzeit keine Revolution
geben kann, denn Putin wird niemals zulassen, dass Belarus einen Weg wie
die Ukraine einschlägt.
Zur aktuellen Situation im Russland-Ukraine-Konflikt: Ich glaube, es wird
keinen Krieg geben. Ein Krieg mit der Ukraine würde für Putin den
Zusammenbruch seines Regimes bedeuten. Das, was sich gerade abspielt, ist
politisches Theater. Die Gefahr, dass die Situation außer Kontrolle gerät,
besteht natürlich trotzdem. Aber um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen:
Für Belarus sehe ich zum jetzigen Zeitpunkt zwei Auswege. Zum einen muss es
einen breiten Dialog innerhalb der belarussischen Gesellschaft geben, denn
sie ist komplett gespalten und dadurch paralysiert. Zum anderen muss der
Dialog zwischen Belarus und Europa wiederbelebt werden.
Die EU soll auf Lukaschenko zugehen?
Ich verstehe, wenn man sagt, dass im Augenblick ein Dialog mit einem
solchen Regime nicht möglich ist. Aber wir müssen wieder dahin kommen.
In einem Interview Ende 2020 sagten Sie, eine „hybride Annexion“ stelle die
größte Gefahr dar. Ist diese Gefahr nun größer als je zuvor?
Ja, sie ist natürlich gewachsen. Gerade arbeite ich an einem Buch über
Imperien am Beispiel des russischen Imperiums. Wenn man ein Imperium wieder
errichten und neu aufbauen will, braucht man ein starkes Zentrum und eine
schwache Peripherie. Das ist genau das, was wir heute beobachten. Wir haben
ein starkes Zentrum, Moskau, und eine sehr schwache Peripherie, das ist
Minsk. So, wie Europa agiert, sorgt es leider dafür, dass Belarus in die
Arme des Imperiums zurückgestoßen wird. Natürlich will Europa das nicht und
spricht sich für Reformen und für eine Demokratisierung in Belarus aus,
aber die Politik der Sanktionen und Bestrafung und des unterbrochenen
Dialogs führt dazu, dass genau dieser Effekt eintritt.
Glauben Sie, dass der [2][russisch-belarussische Unionsstaat] Wirklichkeit
wird, wie Lukaschenko und Jelzin ihn einst anstrebten?
Klar ist, dass Lukaschenko diese Vereinigung nicht will. Soweit er es kann,
wird er sich dem widersetzen. Formal würde Belarus wohl unabhängig bleiben,
aber de facto würde es von Russland aus regiert. Ich hoffe aber, dass das
Problem im Kreml gelöst wird. Ich hoffe auf einen Kollaps des russischen
Regimes, weil das dann auch einen Einfluss auf Belarus haben würde.
Sie sind ein Kritiker der neuen, jüngeren Opposition in Belarus. In Ihrem
neuen Buch schreiben Sie sinngemäß, die Revolution sei zu früh gekommen.
Wie meinen Sie das?
Ich war und bin eher der Ansicht, dass die Revolution keine Aussicht auf
Erfolg hatte, solange Putin im Kreml sitzt. Für Belarus gibt es meines
Erachtens nur einen Weg: keine Revolution, sondern Evolution. Ein langsamer
Prozess, sich von dem Bären zu lösen, um es metaphorisch zu sagen. Es gab
vor der gescheiterten Revolution eine langsame, lautlose Liberalisierung in
verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Wenn dieser Prozess 2020 nicht
unterbrochen worden wäre – und damit sind die Wahlen und die Ereignisse
danach gemeint –, hätte es einen stetigen Demokratisierungsprozess gegeben.
Ich hielt das immer für ein realistisches Szenario. Denn 2020 hatte sich
ein Machttransit eigentlich schon angedeutet.
Was kritisieren Sie konkret?
Ich bin der Meinung, dass jeder Politiker, ganz egal, ob nun aus der alten
oder neuen Opposition, die Pflicht hat, die Dinge realistisch zu betrachten
und seine Anhänger nicht in die Irre zu führen. Konkret: nicht zu
behaupten, man hätte schon gewonnen, wenn das nicht der Fall ist. Politiker
sollen nicht das Unmögliche fordern, weil Politik die Kunst des Möglichen
ist. Aktuell bedeutet das: Die Opposition sollte die Beendigung der
Repression und Freilassung aller politischen Gefangenen fordern. Das tut
sie auch, allerdings fordert sie darüber hinaus Neuwahlen. Das ist absolut
unrealistisch, darauf wird sich die politische Führung nicht einlassen. Die
EU hat dieselben Forderungen. Aber wir müssen von den Realitäten ausgehen,
da bringt uns die Forderung nach Neuwahlen nicht weiter.
Es gibt noch einen zweiten Punkt, der mir sehr wichtig ist: Politiker
müssen Verantwortung übernehmen gegenüber der Gesellschaft. Ich denke, dass
die Opposition, die 2020 auf den Plan getreten ist, unverantwortlich
gehandelt hat. Wenn du dich an die Spitze einer Bewegung stellst, musst du
dir darüber Gedanken machen, wo das hinführen kann. Die Opposition hätte
meiner Meinung nach die Konsequenzen antizipieren können, hat dies aber
nicht getan. Ich verstehe, dass das brutal klingt, vor allem, weil ein
Großteil der Leute heute im Gefängnis sitzt. Aber wir müssen die Dinge beim
Namen nennen, anders werden wir aus dieser Krise nicht herauskommen.
Sie würden der Opposition ernsthaft eine (Mit-)Schuld geben?
Nein, Schuld würde ich nicht sagen, aber man hätte die Folgen vorhersehen
können. Es ist ja klar, dass das Regime und niemand anders die Leute in den
Knast gebracht hat.
Die Opposition allerdings hat an eine friedliche Revolution geglaubt zu dem
Zeitpunkt.
Wir müssen zwei Etappen der Revolution unterscheiden. Von Mai bis zum 9.
August war der Prozess unterm Strich noch zu kontrollieren. Danach aber ist
die Kontrolle entglitten – mit dem erwartbaren Ergebnis.
Ende Februar plant Lukaschenko die Einführung einer neuen Verfassung, die
der letzte Schritt zur Stabilisierung des Regimes zu sein scheint. Wie
blicken Sie dem Referendum entgegen?
Die Verfassungsänderung wird nicht für Stabilität sorgen. Die Regierung
müsste positive Perspektiven für die Gesellschaft aufzeigen, aber außer
Repression bietet sie nichts an. Wenn wir uns anschauen, was in der neuen
Verfassung geplant ist, gibt es eine kleine Chance, dass sich dahinter auch
etwas Positives verbirgt, denn es wird eine Machtbeschränkung und
Machtüberführung angedeutet (es soll wieder eine Beschränkung des
Präsidentenamts auf zwei Amtszeiten geben, d. Red.). Es ist klar, dass sich
der Großteil der Macht weiter auf den Präsidenten konzentrieren wird,
trotzdem könnte es ein kleiner Schritt vorwärts sein. Aber es weiß
natürlich keiner, ob dieser Mechanismus dann auch tatsächlich zum Tragen
kommt.
Mehr als hundert NGOs wurden inzwischen in Belarus verboten, auch der
belarussische PEN und die Union der belarussischen Schriftsteller (UBW)
wurden aufgelöst. Ist die Kulturszene damit weitestgehend zerschlagen?
[3][Der kulturelle Prozess ist nicht tot. Er kann nicht öffentlich
stattfinden, weil jegliche Art von Öffentlichkeit derzeit gefährlich ist].
Und weil sie unsichtbar ist, kann die Kultur keinen Einfluss auf die
Prozesse in Belarus nehmen. Das ist bedauerlich. Ich habe immer die These
vertreten, dass Kultur ein sehr wichtiges Instrument ist, um Veränderungen
in der belarussischen Gesellschaft zu erreichen.
In Ihrem Buch schildern Sie auch, wie es Ihrer Tochter Marta als Teil der
neuen Opposition ergangen ist, auch sie war im Gefängnis und konnte dann
nach Kiew ins Exil gehen. Wie geht es ihr heute?
Sie ist immer noch in Kiew, aber wie für alle, die sich in der Emigration
befinden, ist auch für sie das Leben schwer. Es gibt wohl Zehntausende
Belarussinnen und Belarussen, die derzeit im Exil sind, vielleicht auch
mehr. Diese Menschen werden sicher nicht unter die Räder kommen, sondern
sich ein neues Leben aufbauen. Für Belarus aber ist es sehr traurig. Es
sind die Aktivsten, die Talentiertesten, die Begabtesten gegangen.
Gedolmetscht hat Barbara Oertel
31 Jan 2022
## LINKS
[1] /Musiker-Igor-Bancer-ueber-Belarus/!5827189
[2] /Neuer-Grosskredit-fuer-Lukaschenko/!5771555
[3] /Sasha-Filipenko-ueber-die-Lage-in-Belarus/!5746756
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Literatur
Schriftsteller
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
Belarus
Russland
Opposition
Usbekistan
Kolumne Notizen aus Belarus
Olympische Winterspiele 2022
Literatur
Belarus
Essay
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Reise durchs postsowjetische Usbekistan: Das Erbe einer Diktatur
Usbekistan zählte lange zu den repressivsten Staaten der Welt. Bei der
Öffnung des Landes spielt die Kultur eine große Rolle.
Verfassungsreferendum in Belarus: Tausende Stimmen geklaut
Die Abstimmung über die Verfassungsänderungen ist eine Farce. Janka Belarus
schreibt über den Alltag in ihrer Heimat. Folge 115.
Belarus bei den Olympischen Spielen: Das kaputte Team
Athleten aus Belarus waren beim Freesyle-Skiing stets erfolgreich. Doch in
Peking brechen sie ein. Das liegt auch am politischen Druck aus Minsk.
Hafttagebuch von Oleg Senzow: Rammstein in voller Lautstärke
Das Buch „Haft. Notizen und Geschichten“ ist ein Dokument des russischen
Lagervollzugs. Aber es zeigt auch die ambivalenten Seiten des Autors.
Musiker Igor Bancer über Belarus: „Es geht nicht um mich“
Überraschend aus belarussischer Haft entlassen: Der Musiker Igor Bancer
über seinen neuen Alltag und die Proteste in Kasachstan.
Das Jahr 2021 in Belarus: Konsolidierung oder Agonie?
Zivilgesellschaftliche Proteste wurden erstickt, Medien zerschlagen,
Oppositionelle festgenommen: 2021 war ein schlechtes Jahr für Belarus.
Sasha Filipenko über die Lage in Belarus: „Wir sind die Mehrheit“
In Belarus sind Journalisten und Künstler unter Druck. Unglaublich, dass so
etwas 2021 mitten in Europa geschehe, sagt Schriftsteller Sasha Filipenko.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.