| # taz.de -- Musiker Igor Bancer über Belarus: „Es geht nicht um mich“ | |
| > Überraschend aus belarussischer Haft entlassen: Der Musiker Igor Bancer | |
| > über seinen neuen Alltag und die Proteste in Kasachstan. | |
| Bild: Aus der Haft entlassen, aber nicht zurück in einem irgendwie normalen Le… | |
| taz: Igor Bancer, wie sah Ihr Jahreswechsel aus? | |
| Igor Bancer: Jahreswechsel, Neujahr? Seit meiner [1][Haftentlassung, mit | |
| der nicht zu rechnen war], muss ich mich mit der belarussischen Realität | |
| herumschlagen und bin immer noch nicht in das normale Leben zurückgekehrt. | |
| Wenige Tage vor unserem Gespräch (12. Januar 2022, taz), habe ich erfahren, | |
| dass zwei Leute verhaftet worden sind, weil sie die Entsendung | |
| belarussischer Soldaten nach Kasachstan im Internet kritisch kommentiert | |
| haben. [2][So sieht es bei uns aus.] Ich habe Diskussionen mit meinen | |
| Eltern, mit meiner Frau. Es ist nicht leicht, jemanden in der Familie zu | |
| haben, der wegen seiner politischen Aktivitäten als Krimineller gilt. | |
| Freunde von mir sitzen für lange Zeit im Gefängnis, andere haben das Land | |
| verlassen. Da fällt es schwer, froh zu sein, auch wenn Weihnachten oder | |
| Neujahr ist. | |
| Über Ihre Haftzeit haben Sie dem [3][Internetmagazin „Reform.by“] ein | |
| ausführliches Interview gegeben. „Unter meinen Bekannten gibt es keine | |
| Optimisten mehr“, sagen Sie da. | |
| Von Belarus aus kommen Sie nicht auf diese Seite. | |
| Sie können Ihr eigenes Interview nicht lesen? | |
| Ja, da ist eine Art große chinesische Firewall davor. Seiten wie diese | |
| gelten der belarussischen Justiz als „extremistische Propaganda“. | |
| Wo und wie informieren Sie sich? | |
| Gute Frage. Was ich zum Jahreswechsel getan habe, war, Telegram von meinen | |
| Geräten zu entfernen. Für den Fall, dass sich die Polizei oder der KGB | |
| meiner wieder annehmen, möchte ich nicht, dass sich auf meinem Telefon oder | |
| Laptop „extremistische Inhalte“ finden, die vorher dort nicht waren. Um | |
| über die Situation in Belarus auf dem Laufenden zu bleiben, verfolge ich | |
| unabhängige russische Nachrichten. Und, es wird Sie vielleicht verblüffen, | |
| ich lese offizielle belarussische Zeitungen und versuche, zwischen den | |
| Zeilen die Informationen herauszufiltern. Es ist etwa so wie bei George | |
| Orwells „1984“. Mit etwas Reflexion lässt sich schon dahinterkommen. | |
| Konnten Sie das auch in der Haft? | |
| Nein, sicher nicht. Im Gefängnis sind Sie aus der Welt. Am Anfang meiner | |
| Haft konnte ich noch auf das Handy zurückgreifen und gelegentlich Zeitung | |
| lesen, aber im Grunde war ich ein halbes Jahr von dem, was in Belarus | |
| geschah, abgeschnitten. Jetzt versuche ich, mich Schritt für Schritt da | |
| wieder hineinzufinden. | |
| Sie kommen aus Grodno und leben auch dort. Ist dort etwas von der Lage der | |
| Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze bekannt? Grodno liegt ja | |
| ziemlich nahe. | |
| 17 Kilometer sind es von Grodno zur Grenze. Den Flüchtlingen geht es | |
| fürchterlich und das muss aufhören. Interessant, auch wenn das nicht das | |
| passende Wort ist, ist einmal die offizielle polnische Seite, die keine | |
| unabhängigen Medien dort haben will, auf der anderen Seite die | |
| belarussischen Behörden, die niemanden den Zugang erlauben. Beide wollen, | |
| dass am besten nichts nach außen dringt. Dazwischen ist ein Vakuum | |
| entstanden. Über die Situation der Flüchtlinge etwas in Erfahrung zu | |
| bringen, ist sehr schwer. Von unabhängigen polnischen Organisationen, zu | |
| ihnen habe ich Kontakt, kommen Nachrichten, in Belarus haben wir nur die | |
| staatlichen Medien, die die Flüchtlinge in Lukaschenkos Sinne | |
| instrumentalisieren. Es ist übrigens gefährlich, sich der unmittelbaren | |
| Grenzregion zu nähern. Keiner meiner Freunde würde das tun, aus Angst, | |
| verhaftet zu werden. Ich habe, das können Sie ruhig veröffentlichen, | |
| zweimal vorgehabt, dorthin zu gehen, und es dann besser doch nicht getan. | |
| Sie haben es bereits erwähnt: Ab dem 2. Januar kam es in Kasachstan zu | |
| gewaltsamen Protesten, in deren Folge die Regierung zurücktrat und Truppen | |
| des OVKS, eines von Russland geleiteten Militärbündnisses ehemaliger | |
| Sowjetrepubliken, darunter Belarus, nach Kasachstan geschickt wurden. Was | |
| denken Sie darüber? | |
| Für mich sieht das nach einem Kampf zwischen verschiedenen Oligarchenclans | |
| aus, und die normalen Menschen, die, die auf die Straße gegangen, getötet | |
| und verhaftet worden sind, müssen ihn ausbaden und leiden darunter wie | |
| üblich. [4][Wladimir Putin gibt die Kasachstan-Krise eine Möglichkeit zur | |
| Machtdemonstration], zu weiterer Repression. Und er und Lukaschenko werden | |
| sich Kasachstan genau anschauen: den Machtwechsel vor drei Jahren (von | |
| Nursultan Nasarbajew zu Qassym-Schomart Toqajew, taz) als Modell und als | |
| Beispiel dafür, wie es nicht funktioniert. | |
| Sie sind Musiker. Sind Sie der Fragen nach politischen Themen eigentlich | |
| irgendwann müde? | |
| Um ehrlich zu sein, geht es nicht um mich, sondern um die ganze | |
| Gesellschaft. Ob in Putins Russland, in Kasachstan und gleichermaßen in | |
| Belarus: Sie können natürlich behaupten, dass Politik Sie nichts schert, | |
| aber sie ist überall, ob in den offiziellen oder unabhängigen Medien, ob im | |
| Internet, im Fernsehen oder in den Zeitungen. Es geht nicht darum, ihrer | |
| müde zu sein oder nicht, sondern sie zu ignorieren oder nicht. Seien Sie | |
| sich sicher, ich möchte die Politik ignorieren, kann es aber nicht. | |
| Nennen Sie uns ein Beispiel? | |
| Wohin diese Ignoranz führen kann, zeigt der russische Rapper Morgenshtern. | |
| Er ist einer, der mit vordergründig provokativen Youtube-Videos austestet, | |
| wie weit er gehen kann, es damit zum Klick-Millionär gebracht hat und sagt, | |
| Politik interessiere ihn nicht. 2021 nun haben die Behörden behauptet, | |
| Morgenshtern würde nicht nur Drogenkonsum propagieren, sondern er sei | |
| selbst Drogenhändler. Danach musste er außer Landes. Ob Sie nun ein großer | |
| Name wie Morgenshtern oder ein kleiner Undergroundmusiker sind, mit | |
| Vogel-Strauß-Taktik kommen Sie in der ehemaligen Sowjetunion nicht weit. | |
| Beziehungsweise, Sie können versuchen, die Politik auszusperren, aber dann | |
| klopft sie an Ihre Tür. Für mich ist das nicht langweilig, sondern die | |
| Realität, der ich mich stellen muss. Da gibt es keine Wahl. Eine | |
| Möglichkeit zumindest wäre, das Land zu verlassen, aber das kommt für mich | |
| nicht in Frage. | |
| Sie sind bekennender Linker. Wie geht es Ihnen damit in einem Staat, in | |
| dem, zumindest ist das der westeuropäische Eindruck, sowjetische Symboliken | |
| und Traditionen gepflegt und auch genutzt werden? | |
| Alexander Lukaschenko hat in den neunziger Jahren versucht, die | |
| Sowjetmentalität zu erneuern, die belarussischen Behörden haben versucht, | |
| der sowjetischen Propaganda ein Facelifting zu verpassen. Aber wie sieht es | |
| jetzt aus? Die Leute sind auf Tiktok, auf Instagram, die staatliche | |
| Rhetorik lässt sie kalt; bei den jungen Leuten verfängt die Propaganda | |
| nicht mehr. Auch die Produzenten glauben nicht mehr daran. Als ich ins | |
| Gefängnis ging, waren selbst die Polizisten, die Offiziere an ihren | |
| Smartphones und in den sozialen Medien. Und die sind jünger gewesen als | |
| ich. Deshalb musste ich etwas lachen bei Ihrer Frage. Wenn Sie durch Grodno | |
| laufen, werden Sie Hipster wie in Berlin und Warschau sehen, eine Tiktok- | |
| und Instagram-Welt. Billie-Eilish-Style nenne ich das. Bars, Coffeeshops, | |
| in denen die Leute sich als europäische Nation fühlen können. Ich weiß | |
| nicht, was das heißt, aber auf keinen Fall wollen sie der ehemaligen | |
| Sowjetunion zugeschlagen werden. Dafür sind sie auf die Straße. | |
| In einem früheren [5][taz-Interview haben Sie sich auf Karl Marx bezogen]. | |
| Ich beziehe mich auf ihn, wenn es um die Ökonomie geht. Im sozialen | |
| Spektrum bin ich Ultrahumanist. Ich mag dieses Modewort Transhumanismus | |
| nicht, ich kapiere nicht, was das sein soll. Ich lebe ultra, Ultra-Style. | |
| Und in meiner Gefängniszeit kam es oft zu Diskussionen mit den | |
| Angestellten, die mich fragten: „Okay, du bist ein moderner, europäischer | |
| Linker. Dann bist du für LGBTQ+, Gender, Feminismus, all diesen Kram.“ Das | |
| ist interessant, denn es zeigt, wer so redet, ist einerseits von der | |
| staatlichen Propaganda beeinflusst, weiß andererseits aber schon, dass die | |
| Sowjetunion das eine, moderne linke Politik das andere ist. Sich im | |
| Gefängnis dazu zu bekennen, verlangt einiges ab. Sobald Sie einmal hinter | |
| dem Gefängnistor sind, haben Sie es mit der kriminellen Subkultur zu tun, | |
| und die ist misogyn und homophob. | |
| Dann gibt es noch etwas: Als ich ins Gefängnis ging, da waren in den | |
| staatlichen Medien die Leute, die auf den Straßen mit weiß-roten Fahnen | |
| demonstrierten, Faschisten und Nationalisten. Jetzt ist der Vorwurf, sie | |
| seien allesamt Feministen, LGBTQ+ und Transgender-Aktivisten. Das ist ein | |
| Beispiel für die Flexibilität und Elastizität der Propaganda und des | |
| Regimes; sie nutzen jede Möglichkeit des Machterhalts. Es ist schwer, in | |
| Belarus zu bleiben und Linker zu sein. | |
| 18 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Mießner | |
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