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# taz.de -- Skasänger aus Kiew über russische Kultur: „Was hat Puschkin fü…
> Auf den Straßen Kiews spricht man Ukrainisch: Mad-Heads-Sänger Vadim
> Krasnookiy über schlechtes Gewissen auf Konzerten und putinhörige
> Kollegen.
Bild: Mad-Heads-Sänger Vadim Krasnookiy
taz: Herr Krasnookiy, wie ist die Lage in Kiew?
Vadim Krasnookiy: Ich wohne in einem Bezirk, der bisher nicht von Bomben
getroffen wurde, aber auch wenn es momentan ruhig ist, gab es immer wieder
Fliegeralarm. Eine große Zahl von Raketen wurde auf andere Region und
Städte abgefeuert. Die Lage im Land bleibt angespannt.
Hatten Sie überhaupt Muße, um Musik zu machen?
Für mich selbst ja. Mit der Band viel weniger, vor Kurzem spielten wir ein
Benefizkonzert für die ukrainische Armee in Rivne. Mit einigen anderen
Bands. Das ist der einzige Auftritt, den wir seit Beginn des Krieges
hatten. Aber wir planen weitere Veranstaltungen dieser Art.
Kamen viele Menschen zum Konzert in Rivne?
Nein, es war enttäuschend. Die Organisation hatte nicht viel Werbung dafür
gemacht. Wir stellen fest, dass die Leute sich erneut für Musik begeistern
können. In den ersten Monaten des Krieges bestand hingegen kein Interesse.
Unterhaltung wurde als unangemessen empfunden. Inzwischen sind alle
wirklich müde von allem. Die Menschen müssen neue Energie tanken. Es ist
unmöglich, immer nur die schrecklichen Nachrichten zu verfolgen. Das
Problem ist natürlich, dass die Menschen ein schlechtes Gewissen haben,
wenn sie sich unter den gegenwärtigen Bedingungen vergnügen. Die
Kombination aus gutem Zweck und Konzerten ist daher ideal. Es ist auch eine
Art von Therapie.
Ihr letztes Album ist bereits 2015 veröffentlicht worden. Blieb keine Zeit
für Neues?
Ab 2016 war ich viel in Kanada unterwegs. Dort habe ich an
englischsprachigem Material gearbeitet. Dann kam die Pandemie, für die in
Kanada strenge Regeln eingeführt wurden. Das Kulturleben kam zum Erliegen.
2020 ging ich zurück in die Ukraine. Das Coronavirus hat mich dazu
gebracht, mein Leben zu überdenken. Seit meiner Rückkehr habe ich viele
neue Lieder auf Ukrainisch hier getextet, aber wir sind noch nicht dazu
gekommen, sie aufzunehmen.
Ich arbeite nebenbei als Schauspieler und habe in einer Komödie mitgewirkt,
die leider noch nicht ganz fertig ist. Das ist etwas für die
Nachkriegszeit, es hat ein komödiantisches Szenario, aber es ist viel zu
unbeschwert für die Kriegszeit. Jetzt brauchen wir andere Filme.
In Moskau ist die Ska- und Psychobillyszene sehr rechtslastig. Wie ist sie
in Kiew?
Die Psychobillyszene in Kiew hat ihren Ursprung bei unserer Band. Wir haben
nichts mit rechten Ideologien zu tun. Bei den Bands, die nach uns kamen,
ist mir so etwas auch nicht aufgefallen. Das Gleiche gilt für Ska. Es gab
natürlich schon andere Bands vor uns, aber die waren sehr Underground. Wir
fingen an, auf Ukrainisch zu singen und verwendeten viel Folklore.
Deshalb ist es auch kein reiner Ska, sondern eine Mischung aus Reggae, Ska,
Rockabilly und Punk. Wir haben der Musik unseren eigenen Stempel
aufgedrückt und sind damit zu einer der beliebtesten Rockbands im Land
geworden. In Russland hatten wir viele Bekannte in der Szene. Die in Moskau
waren tatsächlich sehr rechtslastig. Auf den ersten Blick waren es nette
Jungs, bis sie anfingen, über Politik zu reden.
Haben Sie noch Kontakt zu russischen Musikern?
Wir hatten viele Kontakte in St. Petersburg, der Wiege des Rock ’n’ Roll im
Osten. Als Russland 2014 die Krim annektierte und der Krieg im Osten
begann, war es plötzlich unmöglich, normal mit ihnen zu reden. Ich
versuchte zunächst zu erklären, was ich selbst gesehen hatte. Aber obwohl
ich an der Front war, in Städten, die gerade „befreit“ worden waren, und
dort mit den Bewohnern gesprochen hatte, wollten mir die Russen nicht
glauben. Ich weiß, wer gegen wen kämpft und warum. Aber diese Freunde in
St. Petersburg hörten nur auf Putins Propaganda, nicht auf mich.
Gibt es viele prorussische Einwohner in Kiew?
Natürlich gibt es verschiedene Meinungen. Es gibt zweifelsohne
Provokateure. All diese Geldsummen aus dem Kreml sind irgendwohin in die
Ukraine geflossen. An prorussische Parteien etwa. Ich selbst bin
russischsprachig aufgewachsen und bin erst später im Leben aus
prinzipiellen Gründen zum Ukrainischen gewechselt. In Mariupol und Charkiw
war die Zahl der Russischsprachigen sehr hoch. Viele Menschen dort standen
der sogenannten russischen Welt offen gegenüber, zum Teil aufgrund der
Propaganda und ihrer sowjetischen Erziehung.
Ein Bekannter aus Mariupol erzählte mir von seinen Eltern, die trotz des
drohenden Krieges in der Stadt bleiben wollten. Sie sagten zu ihrem Sohn:
Was könne ihnen schon passieren, sie seien doch russischsprachig. [1][Die
glaubten, die Russen würden nur in der Westukraine zuschlagen] und
werden die „Banderovtsy“ (russische Bezeichnung für ukrainische
Nationalisten in Anlehnung an den ukrainischen Nationalistenführer Stepan
Bandera, die Red.) attackieren. Schrecklich, was in Mariupol geschehen ist.
Nach allem, was die Russen dort getan haben, ist das Bewusstsein der
Menschen völlig auf den Kopf gestellt. Viele Menschen sprechen jetzt aus
Prinzip Ukrainisch. Manche sind allergisch gegen alles Russische, gegen
Musik, Fernsehen, gegen alles.
Darf man in den Straßen von Kiew noch Russisch sprechen?
Im Prinzip ja, es gibt viele Flüchtlinge aus den russischsprachigen
Städten. Natürlich ist es für jemanden, der noch nie Ukrainisch gesprochen
hat, ziemlich schwierig, die Sprache an einem Tag zu lernen, selbst wenn er
oder sie die Sprache gut versteht. Aber alle Ausdrucksformen der russischen
Kultur werden als sehr feindselig empfunden. Warum gibt es in Kiew eine
Puschkinstraße? Was hat Puschkin für die Ukraine getan?
Gegenfrage, was hat Puschkin Schlimmes der Ukraine getan?
Stimmt, er hat nichts getan. Straßen werden nach Menschen benannt, die
etwas für eine Stadt oder ein Land bedeuten. Früher hatten wir Leninstraßen
und andere Relikte der Sowjetära, sie wurden umbenannt. Jetzt sind wir bei
allem angelangt, was in irgendeiner Weise mit der sogenannten russischen
Welt zu tun hat. Das ist eine Tragödie, denn bis 2014 gab es in der Ukraine
eine große Sympathie für alles Russische. Es gab nur sehr wenige Menschen,
die wirklich radikal gegen Russland waren.
Die Annexion der Krim 2014 basierte aber auf Verrat und Hinterhältigkeit.
Das Putin-Regime hat gezeigt, dass es aus kriminellen Elementen besteht.
Dann kam die Erkenntnis, dass wir 300 Jahre eine Kolonie Russlands gewesen
waren. Das Bewusstsein, dass sie hierher kommen und uns alle töten, wenn
wir nicht auf sie hören. Es stellt sich die Frage: Welchen Wert hat die
russische Kultur, wenn Menschen, die mit ihr aufgewachsen sind, Soldaten
schicken, um ihre Nachbarn zu töten? Wenn diese Haltung das Ergebnis der
russischen Kultur und der entsprechenden Erziehung ist, dann stimmt mit
dieser Kultur etwas ganz und gar nicht. Sogar mit Puschkin ist dann etwas
nicht in Ordnung.
Ihr Song „Dubki“, der auf einem Volkslied basiert, ist super fröhlich.
Russische Volkslieder sind meist traurig. Spiegelt dies auch den
Mentalitätsunterschied wider?
Wir haben ein Album mit ukrainischen Volksliedern gemacht, das
„Oekraienska“ heißt, abgeleitet von der Musikrichtung Ska, das zudem ‚et…
Ukrainisches‘ in unserer Sprache bedeutet. Ich habe dafür Lieder
ausgewählt, die an sich schon sehr fröhlich sind. Damit haben wir einen
Trend gesetzt. [2][Aber die ukrainische Folklore bietet mehr als
Fröhlichkeit.] Wir haben Lieder für Partys, Hochzeiten und Feste
ausgesucht, aber natürlich gibt es auch melancholische Lieder, über den
Krieg, über den Kampf, über den Tod und unerwiderte Liebe. Es ist wie im
richtigen Leben. Der aktuelle ukrainische Rock ist dagegen fast immer
traurig. Mad Heads sind in dieser Hinsicht Außenseiter. Eigentlich sind
unsere Songs zu lustig für die Gegenwart.
Wird der Satz „Die Ukraine ist vereint“ aus Ihrem Lied „Oekraina tse my“
(„Wir sind die Ukraine“) von 2014 wie eine Bestätigung klingen?
Ich habe das Lied vor der russischen Annexion der Krim und dem Krieg im
Donbass geschrieben, als wir tatsächlich noch ein vereintes Land waren.
Damals war es ein Versuch, meinen Landsleuten in einem Lied zu sagen, was
uns eint. Jetzt gibt der Song Kraft und Unterstützung. Die Idee dahinter
war, dass das Schicksal unseres Landes in unseren eigenen Händen liegt.
Aber letztlich ist es der Krieg, der die Ukrainer zu einer Einheit gemacht
hat, die wir vorher nicht kannten. Eine Einheit, die uns die Kraft gibt,
unsere Unabhängigkeit gemeinsam zu verteidigen. Alle sind darin vereint,
von den Soldaten an der Front bis hin zu den Zivilisten, die im Hintergrund
helfen. Natürlich gibt es auch Verräter und Menschen, die zu ihrem Vorteil
den Krieg nutzen. Aber das haben wir 2014 schon gesehen. Jetzt sind es
sogar ein bisschen weniger, weil die Situation noch dramatischer ist. Ich
denke, wir können unsere verlorenen Gebiete tatsächlich zurückgewinnen.
Hat dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit auch mit Wolodimir Selenski zu
tun?
Jeder Präsident wird hier mit großer Begeisterung begrüßt, dann aber ebenso
schnell für Fehler verurteilt. Die Menschen sind oft enttäuscht worden. Das
war bisher bei allen Politikern der Fall. Ohne den Krieg wäre es Selenski
wahrscheinlich genauso ergangen. Es gab nicht unbegründete Kritik an seinen
Leistungen, aber die Art und Weise, wie er sich während des Krieges
entwickelte, hat das Blatt gewendet. Das Beste, was wir im Moment tun
können, ist, ihn zu unterstützen. Er macht nicht alles allein. Es gibt
einen sehr hohen Grad an Selbstorganisation innerhalb unserer Gesellschaft.
Jeder tut das, was er am besten kann.
25 Jul 2022
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## AUTOREN
Ardy Beld
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