| # taz.de -- Putinkritische Band Shortparis: Immerhin eine gute Nachricht | |
| > Die Popband Shortparis aus Sankt Petersburg ist auch außerhalb Russlands | |
| > bekannt. Seit Kriegsbeginn hat sie sich gegen das Putin-Regime gestellt. | |
| Bild: Das bisschen freie Kultur verteidigen, das noch möglich ist: die russisc… | |
| Der Angriffskrieg Russlands lief gerade zwei Wochen, da wurde bei Youtube | |
| ein beeindruckendes Musikvideo hochgeladen. Darin zu sehen war eine Band | |
| und ein Männerchor im Schneetreiben auf einem Feld, mit einem glatzköpfigen | |
| Sänger, der ein Klagelied zu Pianoklängen intoniert, das Stimmtimbre voller | |
| Pathos und Schmerz. | |
| „Oh, mein Kummer / Wo ist die Grenze, wo der Rand? / Wer hat es gesehen? / | |
| Und wohin gehörst du jetzt?“, singt der bitterernst dreinschauende Sänger | |
| der Band auf Russisch, später im Song heißt es: „Fisch sucht nach Netz / | |
| Körper sucht nach Ereignissen / Geschoss wird intelligenter / Im Verlauf | |
| des Blutvergießens … Wohin schlängelt die Schlange?“ | |
| Der Clip zum Song „Yablonnyy sad“ („Apfelgarten“) stammt von der Band | |
| Shortparis. Das Quintett aus Sankt Petersburg gehört zu den führenden | |
| Avantgardebands des Landes. Die Musiker um Sänger Nikolai Komyagin sind | |
| mit experimentellem elektronischem Pop und theatralischen Performances | |
| bekannt geworden. Das Russland der Gegenwart zeichnete die Band oft mit den | |
| Mitteln einer totalitären Ästhetik nach und desavouierte auf diese Weise | |
| das Putin-Regime. | |
| Etwa im Video „Goworit Moskwa“ („Moskau spricht“, 2021), in dem sie den | |
| Faschismus postsowjetischer Prägung abbildet: Uniformierte marschieren im | |
| Gleichschritt, die Bildsprache erzählt von einem chauvinistischen Soldaten- | |
| und Führerkult. Dem Kreml kann eine solche Ästhetik eigentlich kaum | |
| gefallen, so ist es kein Zufall, dass Nikolai Komyagin schon Ende Februar | |
| bei einer Antikriegsdemonstration verhaftet wurde. Er kam kurz darauf | |
| wieder frei. | |
| ## Zum Bleiben entschieden | |
| Nach Kriegsbeginn am 24. Februar wurde auch für Shortparis alles anders, | |
| wie die Band im Gespräch mit der taz erzählt. „Wir haben zunächst überleg… | |
| ob wir als Band emigrieren sollen, haben uns aber entschieden zu bleiben, | |
| solange dies möglich ist“, sagt Komyagin. Schlagzeuger Danila Kholodkov | |
| ergänzt: „Solange wir in Russland die Kunst machen können, die wir machen | |
| wollen, werden wir das Land nicht verlassen.“ Inwieweit die Repressionen | |
| gegen die Künstler zunehmen werden, ist schwer zu sagen – Sänger Komyagin | |
| berichtet, die russische Justiz sei derzeit dabei, Texte und Videos zu | |
| prüfen. | |
| Auch ästhetisch hat sich der Krieg auf die Musik der Band ausgewirkt. Zuvor | |
| hatten ihre Songs und Videos oft eine gewalttätige und militaristische | |
| Ästhetik, in „Strashno“ („Gruselig“, 2019) wird etwa ein brutaler Übe… | |
| auf zentralasiatische Arbeiter in einer Turnhalle nachgestellt (und dann | |
| konterkariert). | |
| Doch in Zeiten des Kriegs funktioniert diese Sprache für die Band nicht | |
| mehr: „Im Moment ist es meines Erachtens unangemessen, die Sprache der | |
| Gewalt und der Aggression in der Kunst zu verwenden. Die Ästhetik von | |
| Trauer und Klage ist geeigneter, um die Botschaft zu vermitteln, die wir | |
| vermitteln wollen“, sagt Komyagin. So ist der Song „Yablonnyy sad“ | |
| ursprünglich auch als elektronischer Popsong 2021 entstanden, vor Kurzem | |
| nahmen Shortparis eine neue, tiefmelancholische Version auf. | |
| ## Ästhetik nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine | |
| Wenn man über eine Ästhetik im Zusammenhang mit Musik nach dem russischen | |
| Einmarsch in die Ukraine rede, so Komyagin, gelange man schnell zu Adornos | |
| philosophischer Frage, inwieweit Gedichte nach Auschwitz möglich seien. | |
| Lyrik nach dem Holocaust ist auch das Stichwort für das Titelstück ihrer im | |
| Juni erschienenen neuen EP „Зов Озера“ („Ruf des Sees“). Die se… | |
| darauf haben sie für das Theaterstück „Passt auf eure Gesichter auf“ (nach | |
| Andrei Wosnessenski) komponiert, das im inzwischen von den Behörden | |
| geschlossenen [1][Gogol Center in Moskau] aufgeführt wurde. | |
| Der russische Dichter Wosnessenski schrieb das Gedicht „Ruf des Sees“ 1965 | |
| als Mahnung zum Gedenken an die jüdischen und russischen Opfer der Nazis. | |
| Anfangs werden in dem Gedicht Namen und Todesdaten aufgezählt: Personen, | |
| die bei einer Massenerschießung ermordet wurden. „Wir ziehen damit eine | |
| Parallele zur gegenwärtigen weltpolitischen Situation“, so Komyagin, „und | |
| wir wissen, dass Täter und Opfer austauschbar sein können. Das einstige | |
| Opfer kann zum Aggressor werden und umgekehrt.“ | |
| Komyagin, kurz rasierte Haare, dunkles Hemd, beantwortet die meisten Fragen | |
| beim Interview, fragt jedoch die anderen Bandmitglieder immer wieder, ob | |
| sie übereinstimmen oder etwas hinzufügen wollen. „Ein zarter Versuch von | |
| Demokratie in Russland“, sagt er und lacht. | |
| ## Auch im Westen bekannt | |
| Zwar zählt seine Gruppe nicht zu den ganz großen jüngeren Acts des Landes, | |
| russische Rapper wie Oxxxymiron und [2][Morgenshtern] erreichen ein weitaus | |
| größeres Publikum, dafür sind sie auch im Westen bekannt und treten auch | |
| regelmäßig auf. Bei Instagram folgen Shortparis rund 56.000 Menschen. Den | |
| Clip zu „Yablonnyy sad“ sahen bisher knapp 1,9 Millionen Menschen. | |
| Vier Alben hat die St. Petersburger Band vor der EP bereits veröffentlicht, | |
| neben Komyagin und Kholodkov besteht die Band aus Alexander Ionin (Gitarre, | |
| Bass, Akkordeon), Pavel Lesnikov (Schlagzeug und Sampling) und Alexander | |
| Galyanov (Gitarre, Keyboards). | |
| Der eingangs erwähnte Song „Yablonnyy sad“ darf als eines der stärksten | |
| künstlerischen Statements aus Russland seit Kriegsbeginn gelten. „Wir | |
| hatten das dringende Bedürfnis, etwas sozial Bedeutendes zu kreieren und | |
| unserem Publikum zu Hause eine Botschaft zu vermitteln“, erklärt Komyagin. | |
| Die Arbeiten zum Video waren höchst kompliziert, sowohl der Tontechniker | |
| als auch der Kameramann des Clips sind kurz vor Drehbeginn emigriert. Dafür | |
| habe es eine überwältigende Solidarität und Hilfsbereitschaft im | |
| Freundeskreis gegeben, sodass die Filmaufnahme realisiert werden konnte. | |
| Bemerkenswert auch die Kooperation mit dem Veteranenchor F. M. Kozlova: | |
| Deren Mitglieder kämpften im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis. Heute, | |
| berichtet die Band, seien einige Sänger des Chors „nicht im Einklang mit | |
| unseren Vorstellungen und mit dem Text des Liedes“ gewesen – aus dem Grunde | |
| hätten sie nicht teilgenommen. Ein besonderer Dank gelte deshalb jenen, die | |
| beim Dreh dabei waren. | |
| ## Fans des deutschen NDW-Duos DAF | |
| Wegen der [3][totalitären Ästhetik, die Shortparis bislang oft verwendeten, | |
| können einem Bands wie Laibach] als Referenz in den Sinn kommen. Sie seien | |
| tatsächlich [4][Fans des deutschen NDW-Duos DAF], das sie geprägt habe – | |
| wie diese seien auch sie von den historischen Avantgarden wie dem | |
| Futurismus und dem Surrealismus beeinflusst. | |
| Schlagzeuger Kholodkov erzählt vom Einfluss von Punk und Protopunk: „Ich | |
| habe Anfang der zehner Jahre – eine vergleichsweise freie und gute Zeit in | |
| Russland – das Buch ‚Please Kill Me‘ über den US-Punk gelesen. Die Haltu… | |
| der Künstler:Innen hat mir imponiert. Das Gefühl der inneren Freiheit | |
| von Bands wie Velvet Underground ist für mich sehr inspirierend.“ | |
| Auf die Frage, ob sie sich sicher fühlten und keine Angst vor Repressionen | |
| hätten, reagieren sie fast zynisch. „Ich bin bestimmt sicherer hier in | |
| meinem Zimmer in St. Petersburg als die Menschen in der Ukraine“, sagt | |
| Kholodkov. Sein Bandkollege Pavel Lesnikov antwortet: „Vielleicht wird Sie | |
| das wundern, aber ich habe mich mein ganzes Leben lang unsicher gefühlt in | |
| Russland. Immerhin genießen wir als Künstler das Privileg, unsere Ängste | |
| und Gedanken auf künstlerische Weise ausdrücken zu können.“ | |
| Mit ihren russischen Fans suchen sie gerade in diesen Zeiten den Austausch: | |
| das bisschen freie Kultur verteidigen, das in Russland noch möglich ist. | |
| Sie möchten die „Philosophie der Trauer“ weiter verfolgen und auf diese | |
| Weise künstlerische Statements setzen, wie Nikolai Komyagin sagt. Dies wäre | |
| immerhin eine gute Nachricht aus Russland. | |
| 23 Aug 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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