# taz.de -- Ukrainische Stadt als Kriegsziel: Der Hass aufs Hybride | |
> Putins Zerstörungswut richtet sich in der Ukraine gegen Wohnsiedlungen | |
> und Kulturstätten. Der Urbizid vernichtet das immaterielle Kulturerbe. | |
Bild: Theater in Mariupol: Seit Kriegsbeginn wurden in der Ukraine über 370 ku… | |
Am 30. Juli 1932 wandte sich Albert Einstein in einem Brief an den betagten | |
Sigmund Freud. Anlass war die steigende Kriegsgefahr. Einstein wollte | |
wissen, ob es eine Möglichkeit gebe, „die psychische Entwicklung der | |
Menschen so zu leiten, dass sie den Psychosen des Hasses und des | |
Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden“. | |
Sigmund Freud dachte lange über die Frage nach. Im Spätsommer bekam | |
Einstein endlich eine Antwort, die ihn ziemlich ernüchtert haben musste, | |
denn Freud empfahl als Mittel gegen die entfesselten destruktiven Kräfte | |
lediglich eine breite Kulturentwicklung. Er verteidigte am Vorabend der | |
nationalsozialistischen Machtergreifung seine Kulturtheorie und empfahl | |
gegen Kriegsgelüste: „Eine Oberschicht selbständig denkender, der | |
Einschüchterung unzugänglicher, nach Wahrheit ringender Menschen.“ | |
Wenige Jahre später machte auch der Professor in der Wiener Berggasse | |
Bekanntschaft mit den SS-Schergen, die wenig auf großbürgerliche | |
Formalitäten gaben. Nachdem der 82-jährige Freud ins Londoner Exil | |
ausgewandert war, musste er feststellen, dass der lange propagandistisch | |
vorbereitete Krieg nun mit dem Einmarsch in Polen real wurde. | |
## Die Vielvölkerstadt Freuds | |
Es ist nicht bekannt, was Sigmund Freud über Bildungsstand und | |
Gewaltbereitschaft der in Polen einfallenden Wehrmachtssoldaten dachte, | |
doch von dieser Frage ließ sich jetzt die im ostsibirischen Sachalin | |
aufgewachsene Schriftstellerin Irina Rastorgujewa leiten, als sie | |
beschrieb, [1][dass Gewalt und Brutalität seit den 1990er Jahren zur | |
alltäglichen Erfahrung in den abgelegenen russischen Landesteilen geworden | |
sind.] Das hätte Freud wohl nicht überrascht, verortete er doch den | |
Ursprung der von ihm beschriebenen Kulturentwicklung im städtischen Milieu. | |
Der lange in der kakanischen Monarchie lebende Freud hatte dabei ein | |
multiethnisches, multikonfessionelles und polyglottes urbanes Milieu vor | |
Augen, das für ihn zum Muster der europäischen Stadt wurde, einem Muster, | |
das auch die westukrainischen Städte prägte. Die Vielvölkerstadt, die Freud | |
zuerst in seiner mährischen Kindheit und später in Wien erlebte, war für | |
ihn prototypisch für städtische Zivilisation. | |
## Gewalt gegen die Stadt | |
Wenn Putin gegen die westlichen Werte wettert, dann meint er diese | |
zivilisatorischen Errungenschaften. Bekämpft wurden sie vornehmlich durch | |
die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts: durch den Nationalsozialismus, der | |
die Stadt ethnisch homogen, und den Kommunismus, der sie sozial homogen | |
machte. Am Sichtbarsten im Ukrainekrieg sind die militärischen Gräueltaten, | |
dennoch liegt ihm ein ideologischer Kulturkampf zugrunde, der sich gegen | |
jede Form von Differenzierung und Komplexität richtet. Philipp Oswalt, | |
Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Uni Kassel, verdächtigt | |
den Kreml-Herrscher, die Ukraine „kulturell auslöschen zu wollen“ und dabei | |
einen Urbizid, übersetzt „Gewalt gegen die Stadt“, anzuwenden, der darauf | |
abzielt, „die Stadt als kulturelles Zentrum, als Ort von Vielfalt zu | |
vernichten“. | |
Allein in den ersten acht Wochen seit Kriegsbeginn seien 1.800 ukrainische | |
Bildungseinrichtungen zerstört worden, darunter das Literaturmuseum, das | |
dem von Russen und Ukrainern verehrten Dichter Grigori Skoworoda in | |
Skovorodinovka bei Charkiw gewidmet ist. Auch das Museum für moderne Kunst | |
in Charkiw wurde zerstört. Nicht zu vergessen die Werke der Künstlerin | |
Marija Prymatschenko, die beim Angriff auf Iwankiw verbrannt sind. Die | |
Liste lässt sich fortsetzen: So sind seit Beginn des russischen | |
Angriffskriegs in der Ukraine nach Angaben des ukrainischen Kulturministers | |
Tkatschenko mehr als 370 kulturelle Stätten zerstört worden. | |
## Dialekte und Erinnerungen sterben aus | |
Der Lemberger Psychoanalytiker und Übersetzer Jurko Prochasko sieht den | |
russischen Urbizid nicht allein durch die Zerstörung ganzer Wohnblocks und | |
ziviler Infrastrukturen bestätigt, er verweist zudem darauf, dass es die | |
Besatzer darauf abgesehen haben, Theater, Schulen und Bibliotheken dem | |
Erdboden gleichzumachen. „Nicht nur der materielle Bestand wird vernichtet, | |
auch das immaterielle, geistige Erbe. Nachbarschaften können nie mehr so | |
werden, wie sie einst waren, städtische Atmosphären werden zerstört, ebenso | |
die kulturellen Eigenheiten von Stadtvierteln, Dialekte und Erinnerungen | |
von Menschen sterben aus. Das alles gehört zum Urbizid.“ | |
Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung an der | |
Leibniz-Universität Hannover, erinnert daran, dass wir vor 30 Jahren mitten | |
in Europa Ähnliches erlebt haben: „Sarajevo war bis zum Bosnienkrieg eine | |
große multiethnische Stadt, wo osmanische und westeuropäische Werte | |
gleichermaßen lebendig waren und wo christliche und muslimische | |
Bevölkerungsgruppen zusammenlebten. Während der Belagerung Sarajevos wurden | |
das Orientalische Institut und die Nationalbibliothek gezielt zerstört. Der | |
Hass der nationalistischen Bewegung richtete sich ganz klar gegen das | |
multiethnische und pluralistische Prinzip einer Großstadt.“ | |
Nicht zufällig wurde die Brücke von Mostar, die laut Unesco als „Symbol für | |
das Zusammenleben von verschiedenen religiösen, kulturellen und ethnischen | |
Gemeinden“ galt, bewusst von Nationalisten zerstört. | |
Damals verfolgte der serbische Nationalismus eine ethnisch-homogene | |
Gleichschaltung der Bevölkerung, während heute die russische Armee die | |
letzten postsowjetischen Überreste der einstigen kakanischen | |
Vielvölkerstädte wie Lemberg und Czernowitz am liebsten völlig beseitigen | |
will, um an ihre Stelle das imperiale Stadtmodell mit den | |
Repräsentationsformen der russischen Macht zu setzen. | |
## Putins imperiale Gelüste | |
Jurko Prochasko fügt hinzu, dass dieses Stadtmodell nicht von ungefähr | |
kommt: „Wladimir Putin, einst Repräsentant eines korrupten, räuberischen | |
und kriminellen Kapitalismus in St. Petersburg, hat das Imperiale des | |
großrussischen Reichs nie aus den Augen verloren. Er hat sich gemessen mit | |
den Gestalten der großrussischen, imperialen Geschichte, [2][angefangen mit | |
Iwan dem Schrecklichen, dem Begründer des Moskauer Zarenreichs.] Gemäß den | |
Vorstellungen des großrussischen Reichs will Putin seine imperiale Stadt | |
errichten.“ Für Putin spielen zwar die kommunistischen Ideale keine Rolle | |
mehr, aber fasziniert ist er von der bolschewistischen Strategie, das | |
Imperium in den Kommunismus hinüberzuretten: „Das sowjetische war auch ein | |
großrussisches Imperium.“ | |
Der russische Urbizid ist eine Steigerungsform des serbischen. Während der | |
serbische Urbizid in Städten wie Sarajevo eine ethnische Reinigung | |
anstrebte, will der russische zunächst „alles kaputt machen“, sagt | |
Prochasko. Der Hass auf das Ukrainische entlädt sich als Hass aufs Hybride. | |
Doch der Feind, der einem selbst so sehr gleicht, bereitet Schwindel und | |
Angst. Um dieser Gefahr vorzubeugen, erzeugt die Staatspropaganda klar | |
unterscheidbare Feindbilder. | |
Plötzlich wimmelt es in der ganzen Ukraine von Nazis, Juden und Schwulen, | |
und überall droht der Feminismus. Ist das Bedrohungsszenario erst einmal | |
aktiviert, werden aus den ukrainischen Brüdern und Schwestern plötzlich | |
Extremisten, die bekämpft und vernichtet werden müssen. | |
## Sie bringen Lenin in die Ukraine | |
Jurko Prochasko erinnert daran, worauf die Tabula-rasa-Strategie der | |
russischen Armee in der Ost- und Südost-Ukraine abzielt. „Das erinnert an | |
die Auslöschung der Stadt Königsberg, die heute Kaliningrad heißt. Die | |
ganze Stadt wurde verändert, angefangen bei den städtischen Strukturen bis | |
hin zu den Namen. Selbst altrussische Städte bekamen plötzlich den Namen | |
eines Generalsekretärs oder eines Generals der Sowjetarmee verliehen. Diese | |
Praxis ist bis heute in Russland weit verbreitet und zeugt von der | |
imperialen Ideologie.“ | |
Die russischen Generäle kennen sich bestens aus mit der Strategie der | |
verbrannten Erde: „Nachdem sie alles in der Ostukraine kaputt gemacht | |
haben, kamen sie her und errichteten nicht ein Putin-Denkmal, sondern eine | |
Lenin-Statue, die sie eigens mitgeschleppt hatten. Das bezeugt ihre | |
archaischen Vorstellungen und es manifestiert die imperiale Nostalgie, die | |
an jene Zeit erinnert, in der man in den entlegensten Orten der Sowjetunion | |
Lenin-Denkmäler errichtete.“ | |
## Russlands Nostalgie | |
Prochasko kommentiert die Landnahme so: „Die Sieger verkünden den | |
Ostukrainern: ‚Wir bringen euch das zurück, wonach ihr euch wirklich | |
gesehnt habt. Wir bringen euch die sowjetische Vergangenheit zurück.‘ “ Die | |
Nostalgie verbindet sich mit einem archaisch anmutenden Mythos, der durch | |
die „Russifizierung“ der Eroberer gewaltsam implantiert wird. | |
Durch die Errichtung der Lenin-Denkmäler sieht Jurko Prochasko eine | |
phantasmatische Kontinuität am Werk, die das wiederherstellen will, was | |
längst vergangen und überwunden ist. Im Grunde schalten die Russen den Zug | |
in den Rückwärtsgang und bemerken nicht, dass die Ukrainer schon lange in | |
eine andere Richtung aufgebrochen sind: „Das ist der schwerste Fehler, denn | |
hier sehnt sich überhaupt niemand zurück in die Vergangenheit. Wir wollen | |
in die Zukunft.“ | |
13 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Englert | |
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