# taz.de -- Osteuropa-Experte zum Ukrainekrieg: „Sanktionen können Armee st�… | |
> Für Alexander Libman können weder Verhandlungen noch ein militärischer | |
> Sieg der Ukraine langfristig für Frieden sorgen. Ein Gespräch über den | |
> Krieg. | |
Bild: Bewusste Inszenierung: Präsident Putin beim Wirtschaftsforum in Sankt Pe… | |
taz: Herr Libman, Sie sind Experte für Osteuropa und beschäftigen sich seit | |
vielen Jahren mit autoritären Regimen. Waren die Ereignisse vom 24. Februar | |
ein Schock für Sie? | |
Alexander Libman: Sie kamen für mich völlig unerwartet, das will ich gar | |
nicht leugnen. Schon Monate davor war mir klar, dass alle Versuche, eine | |
umfassende und harmonische Lösung zu finden, sehr wahrscheinlich zu nichts | |
führen würden. Aber dass man von drei Richtungen aus, also auch aus | |
Belarus, Kiew angreifen würde – das hätte ich mir nicht vorstellen können. | |
Was denken Sie, warum hat Wladimir Putin erst jetzt mit dieser großen | |
Invasion begonnen? Warum nicht gleich nach der Annexion der Krim, als der | |
Zustand der ukrainischen Armee noch sehr viel schlechter war? | |
Es gibt dafür zwei Thesen. Eine hat mit der Innenpolitik zu tun. Durch die | |
Coronapandemie hat Putin an Beliebtheit verloren. Das wollte er mit einem | |
kurzen siegreichen Krieg wieder ändern. Gegen diese These spricht meiner | |
Meinung nach die Tatsache, dass die russische Gesellschaft nicht auf den | |
Krieg vorbereitet war. Die zweite These hängt mit der Außenpolitik | |
zusammen. Ich denke, Putin hat 2014 keinen Krieg begonnen, weil er damals | |
noch dachte, er könne seine Ziele auch ohne einen solchen Krieg erreichen. | |
So wie ich das verstehe, glaubt Putin nicht daran, dass Menschen | |
irgendwelche Entscheidungen selbstständig treffen können und hinter allem | |
Manipulationen anderer stehen. Als es zum Beispiel 2014 in der Ukraine zur | |
Revolution der Würde kam, war das für Putin nicht etwas, was die Menschen | |
selbst organisiert hatten, sondern der gut umgesetzte Plan amerikanischer | |
Geheimdienste. | |
Mit welcher Absicht hat die russische Armee Gewalttaten wie solche in | |
[1][Butscha] begangen? | |
Das ist ein weiterer Schock für mich. Zu Kriegsverbrechen kommt es, wenn | |
sich die Bevölkerung, an der sie begangen werden, sehr stark von denen | |
unterscheidet, die diese Verbrechen begehen. Dann kann man einfach den | |
Begriff des „Fremden“ verwenden. Eine klare Unterscheidung zwischen „unse… | |
Leute“ und „die anderen“ hätte bei den Menschen in Butscha nicht | |
funktioniert. Ich denke, der Grund für diese Ereignisse ist folgender: Die | |
russischen Soldaten in der Ukraine verstehen nicht, was dort passiert, sie | |
sehen nicht den Sinn des Krieges. Und es ist dieses Unverständnis und diese | |
Verwirrung bewaffneter Männer, die zu dieser wahnsinnigen, unvorstellbaren | |
Brutalität führt. Berichte von Augenzeugen, die die russische Okkupation | |
überlebten, bestätigen diese Hypothese. Der Krieg, den diese Soldaten nicht | |
verstehen, hat sie zu Bestien gemacht. | |
Glauben Sie, der Kreml hat damit gerechnet, dass die Ukraine so viel | |
Unterstützung aus dem Westen erhält? | |
Ich denke, dass man im Kreml nichts von dem, was jetzt passiert, erwartet | |
hatte. Sie haben nicht erwartet, dass die ukrainische Armee solchen | |
Widerstand leisten und das ukrainische Volk so entschlossen die Okkupation | |
ablehnen würde. Auch nicht, dass der Westen so schnell so harte Sanktionen | |
beschließen würde und dass Russland durch den Krieg weltweit so an Ansehen | |
verlieren würde. Der Kreml hat vielmehr angenommen, dass die Menschen den | |
Krieg als Teil einer ganzen Reihe von Kriegen sehen würden: Syrien, | |
Bergkarabach, Irak, Afghanistan. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der | |
Krieg in der Ukraine in den USA und Europa grundsätzlich andere Reaktion | |
hervorrufen würde. | |
Sie haben den offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz mit unterzeichnet. | |
Darin wird auch gefordert, die Verhandlungen mit Russland wieder | |
aufzunehmen. | |
Das Hauptproblem der Vorgänge in der Ukraine besteht darin, dass es keine | |
gute Lösung gibt. Es gibt nur schlechte, sehr schlechte und superschlechte | |
Lösungen, und darunter muss man eine auswählen. Die Vorstellung, dass man | |
mit Putin verhandeln und Zugeständnisse machen müsse, ist eine sehr | |
schlechte Entscheidung, denn es würde bedeuten, einem Verbrecher | |
Zugeständnisse zu machen. | |
Was sind Alternativen zu diesen Verhandlungen? | |
Einige hoffen auf einen kompletten militärischen Sieg der Ukraine mit | |
umfassender westlicher Unterstützung. Für mich gibt es hier allerdings ein | |
großes Problem: Es ist nicht klar, wie wir diesen Sieg genau definieren. | |
Geht es um die Wiedereroberung aller von Russland besetzten Territorien? | |
Auch wenn so ein Vorgehen gelingen würde, würde es lediglich bedeuten, dass | |
Russland seine Armee entlang den ukrainischen Grenzen lassen würde und | |
weiter das ukrainische Territorium mit Raketen und Bomben beschießen würde. | |
Das würde die Ukraine dauerhaft destabilisieren. Um das zu vermeiden, | |
müsste dann die Ukraine auch russisches Territorium angreifen. Das wäre mit | |
einer brandgefährlichen Eskalation verbunden, möglicherweise einer | |
nuklearen Eskalation. Denn: Falls Putin in diesem Fall keine Atomwaffen | |
einsetzt, kann international der Glaube schwinden, dass Russland | |
grundsätzlich bereit ist, zum Schutz eigenen Territoriums nukleare | |
Streitkräfte einzusetzen. Das wäre in den Augen Putins ein katastrophaler | |
Machtverlust, ein hohes Sicherheitsrisiko. Solange die russische Armee | |
einsatzbereit ist, die russische Wirtschaft läuft und Putin an der Macht | |
ist – und diese Bedingungen werden aus meiner Sicht trotz Sanktionen und | |
der hohen Verluste an der Front noch sehr lange existieren – ist es schwer, | |
sich eine militärische Lösung vorzustellen, die die Sicherheit der Ukraine | |
garantieren würde. | |
Kann man mit Putin überhaupt verhandeln? | |
Das ist eine sehr schwierige Frage. Aus meiner Sicht sind solche | |
Verhandlungen grundsätzlich möglich. Für Putin sind aggressive Kriege kein | |
Kernelement seines Regimes, ohne die es ideologisch oder wirtschaftlich | |
nicht überleben kann. Putin ist schon über zwei Jahrzehnte an der Macht, | |
und ein Großteil dieser Zeit hat er sich eher als korrupter Kleptokrat denn | |
als Eroberer verhalten. Es wird oft gesagt: Man hat mit Putin bereits vor | |
dem Krieg, im Januar und Februar 2022, verhandelt und das hat zu keinem | |
Ergebnis geführt. Diese Argumente teile ich nicht. Putin hat bereits vor | |
dem Krieg seine Forderungen definiert: Ein Kernelement war, dass die Nato | |
sich verpflichtet, die Ukraine als Mitgliedsstaat nicht aufzunehmen. Gerade | |
bei dieser Forderung hat der Westen sofort klar gesagt, dass das nicht zur | |
Debatte steht. Dafür gab es sehr gute ethische und politische Gründe. Aber: | |
Das bedeutet auch, dass in den Gesprächen, die mit Putin geführt wurden, | |
das für ihn wichtigste Anliegen vom Anfang an ausgeschlossen wurde. Wenn | |
man über Verhandlungen spricht, müssen jedoch noch zwei Punkte klargemacht | |
werden. | |
Welche sind das? | |
Erstens: Wenn wir von Verhandlungen und Kompromissen sprechen, können es | |
nur eigenständige Entscheidungen der Ukraine sein, die nur sie selber | |
treffen darf und kann. Verhandlungen hinter dem Rücken der Ukraine sind | |
unzulässig. Der Westen kann sich aber darum bemühen, Bedingungen für solche | |
Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu schaffen und zu fördern. | |
Und zweitens: Diese Bedingungen zu schaffen, ist eine Aufgabe, die jetzt | |
deutlich schwieriger ist, als es noch im März der Fall war. Dass man mit | |
Putin grundsätzlich verhandeln kann, bedeutet nicht, dass er jetzt zu | |
diesen Verhandlungen bereit ist. Aber mit Verhandlungen gibt es zumindest | |
eine Hoffnung auf Frieden. Mit einer Strategie, die nur auf einen | |
militärischen Sieg der Ukraine setzt, befürchte ich, dass das nicht der | |
Fall ist. Aber, wie gesagt: Verhandlungen bleiben eine schlechte Lösung. | |
Auf wen stützt sich das autoritäre Regime in der Russischen Föderation? | |
Das Rückgrat von Putins Regime sind heute die Sicherheitsdienste, und sie | |
sind immer noch die aktivste Kraft, die den Autoritarismus in Russland | |
unterstützen. Mir kommt es auch so vor, dass sich dieser russische | |
Autoritarismus jetzt auf die Verwirrtheit der Bevölkerung stützt, die durch | |
den Kriegsausbruch in einem Schockzustand ist. Ich glaube allerdings nicht, | |
dass die russische Gesellschaft den Krieg [2][so eindeutig unterstützt], | |
eher im Gegenteil. Aber es hat sich der Konsens darüber gefunden, dass die | |
Realität des Krieges unausweichlich ist. Und ein solcher Konsens ist die | |
stärkste Unterstützung für das Regime, denn die Russen glauben nicht, dass | |
sie etwas ändern können. | |
Wie beurteilen Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage Russlands? | |
Derzeit durchlebt die russische Wirtschaft einen [3][schweren Schock], und | |
sie stabilisiert sich auf sehr niedrigem, ärmlichen Niveau, daran besteht | |
kein Zweifel. Die Sanktionen und der wirtschaftliche Abschwung in Russland | |
werden dazu führen, dass der militärisch-industrielle Komplex | |
höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein wird, sein hohes | |
technologisches Niveau zu halten. | |
Führen die Sanktionen dazu, dass Putin an Beliebtheit in der russischen | |
Bevölkerung einbüßt? | |
Daran zweifle ich sehr stark. Die Sanktionen führen vor allem zu einer | |
größeren Popularität Putins. Es gibt noch einen Aspekt, der zu wenig | |
bedacht wird. Die Sanktionen führen zu einem Anstieg der verdeckten | |
beziehungsweise der offenen Arbeitslosigkeit in Russland. Wir könnten in | |
eine Situation geraten, in der Menschen in relativ armen russischen | |
Regionen mit steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert sind und diese | |
Menschen dann in den Krieg ziehen, um Geld zu verdienen. Legt man diese | |
Hypothese zugrunde, können die Sanktionen paradoxerweise zu einer Stärkung | |
der russischen Armee führen. | |
In der Politikwissenschaft kennt man die grundlegenden Möglichkeiten, einen | |
Autokraten zu stürzen – davon ist der Staatsstreich die am weitesten | |
verbreitete. Wer könnte so einen Putsch initiieren? | |
Ich weiß es nicht, niemand weiß das. Ein erfolgreicher Militärputsch | |
besteht in seiner Unvorhersehbarkeit. Sonst könnte das Regime ihn ja | |
verhindern. | |
Gibt es andere Szenarien f ü r einen Machtwechsel? | |
Es gibt ein Szenario, in dem der pessimistische Konsens über den Krieg | |
zusammenbricht und die Menschen auf die Straße gehen. Die wichtigste | |
Bedingung dafür ist, dass die Mehrheit der Russen verstünde, dass die | |
Mehrheit der Russen nicht einverstanden mit dem Krieg sei, und sich dadurch | |
etwas ändern könnte. Aber das wird aktuell nicht passieren und man kann es | |
auch nicht voraussagen. Man muss aber sagen, ein Machtwechsel könnte einer | |
neuen politischen Führung neue Möglichkeiten eröffnen. Zumindest könnte | |
sich sowohl im Westen als auch in der Ukraine ein gewisses Maß an | |
Verhandlungsbereitschaft einstellen. Die Bereitschaft mit Putin zu reden | |
ist wesentlich geringer, weil er die persönliche Verantwortung für die | |
Ereignisse in Butscha trägt. Auch wenn er nicht den Befehl gab – er trägt | |
dafür die Verantwortung. | |
Aus dem Russischen Gaby Coldewey | |
14 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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