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# taz.de -- Tag der ukrainischen Staatlichkeit: Heute gibt es Reis mit Tränen
> In der Ukraine ist am Donnerstag Nationalfeiertag. Derweil entlässt
> Präsident Selenski noch mehr Personal in politischen Machtpositionen.
Bild: Frauen warten an einer Bushaltestelle vor zerstörten Wohnhäusern in Bor…
Kiew taz | Erst letztes Jahr hatte der ukrainische Präsident Wolodimir
Selenski den neuen Nationalfeiertag als Tag der Unabhängigkeit eingeführt.
Am Donnerstag will das Land den Tag feiern, mitten im Krieg.
In allen Bezirken Kiews werden Zeremonien zum Hissen der ukrainischen
Staatsflagge abgehalten. Kränze und Blumen sollen an Denkmälern und an den
Gräbern prominenter Persönlichkeiten des ukrainischen Staates abgelegt
werden: Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine, verstorbene Teilnehmer
der Revolte des Maidan oder solche, die im Krieg in der Ostukraine
starben.
Groß ist das Interesse in der Bevölkerung an dem neuen Feiertag indes
nicht. Vielleicht, weil die Kämpfe an der Front unterdessen unvermindert
weitergehen, mit besonders heftigen Kämpfen bei den Städten Bachmut und am
Kraftwerk Uglegorsk etwa am Dienstag.
Aber auch Selenskis jüngste Vorstöße in seiner Personalpolitik werden ohne
viel Aufsehens hingenommen, obwohl es eine ganze [1][Welle an Entlassungen]
gab. Am Montag hatte der Präsident wieder zwei hochrangige Persönlichkeiten
des Machtapparats entlassen. Generalmajor Hryhorij Halahan, Kommandeur der
Spezialeinheiten der Streitkräfte der Ukraine, wurde seines Amtes enthoben.
Zu seinem Nachfolger ernannte Selenski Brigadegeneral Viktor Chorenko.
Halahan wurde zum ersten stellvertretenden Leiter des Zentrums für
Spezialoperationen des Inlandsgeheimdienstes SBU ernannt.
## Zu große Nähe zu Russland
Am selben Tag entließ der Präsident auch Ruslan Demtschenko,
stellvertretender Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats. Aus
gesundheitlichen Gründen, hieß es im Präsidialamt. Doch immer wieder wurden
zuletzt Stimmen laut, die Demtschenko eine zu große Nähe zu Russland
vorwarfen.
Bereits vor zwei Monaten hätten die US-Amerikaner der ukrainischen Führung
eine Liste von Personen aus der Umgebung von Selenski überreicht, die eine
Verbindung zu russischen Agentennetzwerken hätten, und da muss Demtschenko
wohl dabei gewesen sein, vermutet der Politologe und Leiter des Instituts
für Weltpolitik, Viktor Schlintschak, gegenüber Espreso.tv.
Selten machte Kiew indessen einen so ruhigen und friedlichen Eindruck wie
dieser Tage. Die Sonne scheint, der Straßenverkehr ist entspannt, kein
einziges Flugzeug, das von einem der beiden Kiewer Flughäfen abhebt. Am
Fluss Dnipro liegen Männer und Frauen am Strand und sonnen sich.
Doch es könnte auch die Ruhe vor dem Sturm sein. Wer sich an den Stadtrand
begibt, sieht auf einmal, dass Orte, an denen bisher HundebesitzerInnen
über ungeteerte Wege schlenderten, gesperrt sind. Emsig heben an diesen
Stellen olivgrün gekleidete Männer Schützengräben aus. „Das sieht ja gera…
so aus, als stünde der Russe schon wieder vor der Tür“, kommentiert eine
Frau, die vor einem Kiosk auf einer Bank sitzt und ein Vanilleeis verzehrt.
Merklich haben in den vergangenen Wochen auch die Straßensperren
zugenommen.
Kaum eine Wohnung, in der Fenster nicht mit Streifen transparenter
Klebefolie überzogen sind. Im Falle einer Explosion sollen sie verhindern,
dass die Glassplitter bei einer Druckwelle durch die Wohnung fliegen.
Manche haben gar die Scheiben gegen transparente Plastikfolien
ausgetauscht.
Kiew ist vergleichsweise leer. Doch eine Bevölkerungsgruppe ist größer
geworden. Es sind die Binnenflüchtlinge aus den Orten, die in den
vergangenen Tagen und Wochen von den russischen Truppen eingenommen worden
sind. Maria und Inna kommen aus einem Ort, der vor Kurzem von den Russen
besetzt worden ist. Sie wollten nicht unter russischer Herrschaft leben.
Alles hätten die Russen niedergeschossen.
Marias 85-jährige Mutter ist bettlägerig und konnte nicht fliehen. Ihre
Tochter wiederum ist an den Rollstuhl gebunden. Maria hat sich bei der
Flucht für die Tochter entschieden und ist mit ihr nach Kiew gekommen, die
Mutter mussten sie zurücklassen.
## Telefonischer Kontakt in den Donbass unmöglich
Die Russen hätten in Windeseile ein eigenes Mobiltelefonnetz errichtet.
Jetzt haben da alle Nummern eine russische Vorwahl. Und nach Russland
telefonieren geht von der Ukraine nicht mehr. Internet gibt es dort nicht.
Über Umwege hat sie erfahren, dass ihre Mutter kurz nach ihrer Flucht
verstorben ist. Seitdem ist sie jeden Abend betrunken. Woran ihre Mutter
verstorben ist, weiß sie nicht, aber sie kann es sich denken.
Die meisten Zurückgebliebenen sterben nicht an Geschossen, sie sterben,
weil sie sich nicht alleine versorgen können, verhungern oder verdursten,
allein gelassen in ihrer Wohnung. Gerne würden beide zurück in den Donbass,
Kiew liegt ihnen nicht. Doch ihnen ist klar, dass das nicht geht, dass da
nicht so schnell Ruhe einkehren wird.
„Bisher haben die Russen uns beschossen. Und nun werden die Ukrainer uns
beschießen. Das soll ja alles [2][zurückerobert werden].“ Und außerdem
werde es im Winter im Donbass keine Heizung geben. Da könne man nicht
leben, meinen sie, wenn fast überall in den Häusern das Glas aus den
Fenstern gebrochen sei.
Beide haben einen Telegram-Kanal von Binnenflüchtlingen für
Binnenflüchtlinge in Kiew abonniert. Da kann man immer die neuesten
Informationen bekommen, wo es gerade humanitäre Hilfe, also kostenlose
Mahlzeiten gibt. „Immer nur Reis, Nudeln, Zucker, Ketchup, Sonnenblumenöl
und Dosenfleisch ist auf Dauer auch langweilig“, meint Inna und liest einen
Beitrag einer Nutzerin des Telegram-Kanals „Kiew für Binnenflüchtlinge“
vor: „Heute gibt es bei mir Reis mit Tränen und morgen Tränen mit Reis“.
Dass am Donnerstag ein staatlicher Feiertag ansteht, interessiert nur
insofern, als nicht klar ist, inwieweit da die Ausgabestellen für
humanitäre Hilfe geöffnet haben. „Was heißt schon Unabhängigkeit?“, mei…
die eine der beiden. „Für mich heißt es, dass von mir nichts abhängt.“
27 Jul 2022
## LINKS
[1] /Ex-Weggefaehrte-des-ukrainischen-Praesidenten/!5869719
[2] /Aktuelle-Lage-in-der-Ukraine/!5869860
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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Entlassungen
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