| # taz.de -- Alltag in der Ukraine: In Gedanken im Krieg | |
| > Das ukrainische Dorf Popiwka nahe der russischen Grenze blieb bisher vom | |
| > Krieg verschont. Trotzdem beschäftigt die Bewohner nichts anderes. | |
| Bild: Die 64-jährige Bäuerin Taissja Garadnitschewa mit ihren beiden Zicklein | |
| Popiwka taz | Die Zicklein heißen Javelina und Bayraktar, benannt nach der | |
| amerikanischen Panzerfaust und der türkischen Drohne. Waffen, die der | |
| Ukraine den Sieg gegen Russland bringen sollen. Beide sind zwei Monate | |
| alt. Vergnügt hüpfen sie im Kreis, als sie die 64-jährige Taissja | |
| Garadnitschewa sehen, die ihnen ihr Frühstück bringt. Dass sich die Ukraine | |
| in einem Krieg mit Russland befindet, spürt man auf diesem Hof in dem | |
| 6.000-Einwohner-Dorf Popiwka bei Konotop nicht. Und das, obwohl Russland | |
| gerade einmal hundert Kilometer entfernt ist. | |
| Auf Taissjas Hof schnattern die Enten, Hühner und Küken. Wenn man aus der | |
| Küche aus dem Fenster schaut, sieht man nichts als Felder, Bäume und am | |
| Horizont einen Mischwald. Öffnet man die Tür des Hofes zur ungeteerten | |
| Straße, trifft man manchmal Radfahrerinnen oder Fußgänger. Eilig hat es | |
| hier niemand. Die Sirenen, die 15 Kilometer weiter die Bevölkerung der | |
| Kleinstadt Konotop fast täglich in Angst und Schrecken versetzen, hört man | |
| hier nicht. | |
| Geweckt wird Taissja jeden Morgen von ihrem Hahn, von sechs Uhr morgens bis | |
| neun Uhr abends muss sie hart arbeiten. Draußen, bei den Tieren und auf | |
| ihren beiden Feldern. Im Sommer hat sie besonders viel zu tun. Himbeeren, | |
| Gurken, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Kirschen, Birnen und Äpfel gibt es | |
| hier zu ernten. Auf einem hundert mal zwanzig Meter großen Maisfeld finden | |
| sich auch Tabakpflanzen. Die hat ihr Schwiegersohn gepflanzt, für den | |
| Eigenbedarf. Jetzt ist gerade Zeit für die Kirschernte. | |
| Irgendwann wird sie den Mais ernten, natürlich mit der Hand. Das meiste ist | |
| für die Familie und die Verwandtschaft in Kiew. Mitunter verkauft sie auch | |
| auf einem Markt. „So viel, wie ich mit meinem Fahrrad transportieren kann.“ | |
| Krank werden kann man bei dieser Arbeit nicht, lächelt sie. Vor ein paar | |
| Wochen ist es dann aber doch passiert. Da haben dann die Enkelkinder | |
| ausgeholfen, auch beim Melken der Ziege. „Die arme Ziege“, sagt sie. | |
| Erst um halb zehn Uhr abends hat sie etwas Zeit für sich. Und kann sich | |
| endlich informieren zu dem Thema, das ihr den ganzen Tag im Magen liegt: | |
| der Krieg. Eine halbe Stunde vertieft sie sich mit ihrem Mobiltelefon in | |
| Telegram-Kanäle, Youtube und Facebook. Dass ihr verstorbener Mann Russe | |
| war, spielt für sie keine Rolle. Sie steht auf der Seite der Ukraine, hofft | |
| auf einen Sieg gegen Russland. | |
| Russische Einheiten seien auf ihrem Weg Richtung Kiew ganz nahe an Popiwka | |
| und der Kreisstadt [1][Konotop] vorbeigefahren, berichtet sie. Nur einen | |
| Tag wurde in Konotop geschossen. Dabei wurden drei Menschen getötet. Dann | |
| war es vorbei. | |
| Ganz unüblich für diesen Krieg hatten die Stadtoberen unter Leitung von | |
| Bezirkschef Dmitrij Schiwizkji mit den russischen Truppen ausgehandelt, | |
| dass diese nicht die Stadt betreten, sie vielmehr auf Landstraßen umfahren. | |
| Man habe sich mit ihnen geeinigt, sich nicht zu beschießen. Auch die | |
| ukrainische Flagge werde weiter in der Stadt wehen, hatte Schiwizkij mit | |
| den Russen vereinbart. Mit diesen Verhandlungen hat der Bezirkschef zu | |
| Kriegsbeginn landesweit für Schlagzeilen gesorgt. | |
| Nicht verschont geblieben vom russischem Beschuss sind hingegen die | |
| Nachbarstädte Sumy, Schostka und Nischyn, erzählt die Bäuerin. „Dort haben | |
| sie gewütet, die Russen“. | |
| ## Ukrainische Verluste sind hoch | |
| Ein paar Gartenzäune weiter steht ein 40-jähriger, grauhaariger Mann am Tor | |
| zum Hof und raucht Kette. Er wohnt hier nur, sein Feld wird von einem | |
| Nachbarn bestellt. Er kommt sofort auf das einzig wichtige Thema zu | |
| sprechen, den Krieg. Er arbeitet beim Katastrophenschutz. Und dort ist er | |
| zuständig für Dinge, von denen die Öffentlichkeit besser nichts wissen | |
| soll. [2][Leichenteile aufsammeln], das sei wirklich traumatisierend, meint | |
| er. | |
| Am schlimmsten sei sein Einsatz in Nischyn gewesen, als er die Knochen von | |
| Kollegen in den Händen gehalten hatte. Auch die ukrainischen Verluste seien | |
| sehr hoch, erzählt er. „Beide Seiten haben ungefähr gleich viele Verluste. | |
| Unsere Leichenhallen sind immer voll.“ Doch offiziell könne man in der | |
| Ukraine nur die Zahl der getöteten Russen erfahren. | |
| Für Taissja Garadnitschewa ist der Krieg vorbei, sie lebt wieder so wie vor | |
| dem 24. Februar. Nur Pilze sammeln geht sie nicht mehr. Denn in dem | |
| Waldstück mit ihren geliebten Pilzen haben die Russen ein paar Tage | |
| kampiert. „Und wer weiß, was die alles zurückgelassen haben“, meint sie. | |
| Von Dorfbewohnern habe sie gehört, dass da wohl noch Minen lägen. | |
| 26 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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