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# taz.de -- Schlachtfelder in der Ukraine: Leichen suchen mit „Schwarze Tulpe…
> Die Toten von den Schlachtfeldern des Donbass in der Ukraine zu bergen
> ist gefährlich – manche Körper sind vermint. Freiwillige wagen es
> trotzdem.
Bild: Die Verluste sind auf beiden Seiten massiv
Slowjansk taz | Krieg besteht nicht nur aus Schießen, Explosionen, Angst
und Horror, sondern auch aus Toten – Tausende, Zehntausende. Die Toten von
den Schlachtfeldern mitzunehmen, ist nicht immer möglich. Eine
Spezialorganisation nimmt sich ihrer an – die „Schwarze Tulpe“.
Seit 2014 ist die Arbeit der humanitären Organisation „Schwarzen Tulpe“ in
der ganzen Ukraine bekannt. Damals, mit Beginn des Kriegs zwischen der
Ukraine und prorussischen Separatisten im Donbass, war ihre Tätigkeit auf
einmal aktueller denn je – nach einer langen Zeit des Friedens mussten in
der Ukraine wieder Gefallene geborgen werden.
Zu Beginn wurde diese Arbeit von Vertretern der nicht weniger bekannten
ukrainischen Suchorganisation „Brückenkopf“ übernommen. Ihr Leiter in
Slowjansk – die Stadt liegt im Gebiet Donezk – wurde Aleksei Jukow.
Die Gruppe gab es bereits zuvor: Sie beschäftigte sich mit der Suche und
Exhumierung von Gefallenen aus der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
Ab 2014 kamen die Toten aus dem Krieg mit Russland und der folgenden
Besatzung dazu.
## „Wir mussten schon in Fuchsbauten kriechen, um Körperteile zu finden“
In Donezk und Umgebung Spezialisten auf diesem Gebiet zu finden war nicht
einfach. „Besonders, wenn Körper von wilden Tieren zerfressen und im
Gelände verteilt wurden“, erzählt ein Leichensucher. Dann werde es sehr
kompliziert, weil man so viel wie möglich von diesen Leichen finden müsse.
„Wir mussten schon in Fuchsbauten kriechen, um Körperteile zu finden, und
den Körper dann quasi aus Fragmenten zusammensetzen.“ Mit den neuen
Arbeitsbedingungen sei aus „Brückenkopf“ dann „Schwarze Tulpe“ geworde…
Die Arbeit ist eine andere als früher. Wer Soldaten des Zweiten Weltkriegs
sucht, hält Ausschau nach Knochen. Seit 2014 suchen Aleksei und sein Team
nach menschlichen Körpern.
Plötzlich liegen nicht mehr nur Knochen vor einem, bei denen aus
historischen Dokumenten rekonstruiert werden muss, um wen es sind handelt.
Nun haben sie ein Gesicht, einen Körper, Kleidung. Die Erkenntnis bricht
sich Bahn: Was da eingesammelt wird, war noch vor kurzer Zeit ein
lebendiger Mensch, mit einer Geschichte, Familie, Plänen und Träumen.
„Es ist eine gefährlichere Arbeit. An den Körpern ist noch das Fleisch, sie
haben einen sehr spezifischen Geruch. Und oft liegen explosive Gegenstände
neben den Körpern“, erzählt Aleksei.
## Die Verluste auf beiden Seiten sind heute größer
Seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine wurde die Arbeit
der „Schwarzen Tulpe“ noch wichtiger. Sie suchen die Körper der Toten,
geben sie den Angehörigen zurück, damit diese ihre Liebsten endlich
bestatten können.
Doch [1][der Krieg von 2022] unterscheidet sich von dem, der ab 2014 durch
die Ostukraine fegte. Nicht nur wird mit mehr und stärkeren Waffen
gekämpft, mit mehr Artillerie und Kampfflugzeugen – auch die Zahl der Toten
ist gestiegen. Die „Schwarzen Tulpe“ sagt: Die Verluste auf beiden Seiten
seien heute viel größer als vor acht Jahren.
Der größte Unterschied zu 2014 ist für die „Schwarze Tulpe“ aber, dass s…
damals Kontakte zur Gegenseite hatten, sich mit ihnen absprechen konnten,
wann sie die Leichen bergen. Zwar wurden auch während des auf den Donbass
beschränkten Krieges ukrainische Leichensucher von prorussischen Kämpfern
gefangen genommen, gefoltert, eingeschüchtert und bedroht. Doch die Gruppe
konnte weiterhin in die betroffenen Gebiete vordringen. Diese Möglichkeit
besteht nun nicht mehr.
Einmal fuhr einer der Suchtrupps in ein bereits von Russland besetztes
Gebiet – unwissentlich. Die russische Armee beschoss das Auto, auch mit
Granatwerfern. Dabei hatte das Fahrzeug alle benötigten Kennzeichnungen,
die es als zugehörig zu einer humanitären Aktion auszeichneten. Bei diesem
Einsatz konnten lediglich sechs Leichen geborgen werden.
## „Schwarze Tulpe“ kooperiert mit Polizei und Militär
Alekseis Telefon ist der heiße Draht der Slowjansker „Schwarzen Tulpe“.
Immer wieder rufen ihn Bekannte oder Verwandte von Verstorbenen an. Er
sammelt die mitgeteilten Informationen und gibt sie an den Hauptsitz der
Organisation weiter.
Dort werden die Anfragen bearbeitet, Tabellen mit Ortschaften und
Verwaltungsbezirken angelegt, in welche dann die Anzahl der dort zu
Bergenden eingetragen wird. Die Sucher haben Kenntnisse von allen Gebieten,
wissen, wo Schlachten stattgefunden haben, und wo die Arbeit der
Organisation am meisten benötigt wird.
Oft wissen die Leichensucher auch so, wohin sie fahren müssen. Sie arbeiten
in den Bezirken Donezk, Luhansk und Charkiw, kooperieren mit den
Spezialisten des staatlichen Dienstes der Ukraine für Notfallsituationen
(DSNS) sowie mit der Polizei und der Armee.
Wenn sie einen Ort erreichen, sprechen sie meist zunächst mit den dortigen
Soldaten oder zivilen Bewohnern. Dann untersucht der DSNS das Gebiet auf
Explosionsgefahren. Die „Schwarze Tulpe“ durchkämmt schließlich den Berei…
und birgt die Leichen. Dann bringen sie die Toten in eine Leichenhalle oder
zum Ort der Bestattung.
## Sie bergen auch Zivilisten und russische Soldaten
Die humanitäre Organisation sucht nicht nur ukrainische Soldaten – sie
bergen auch Zivilisten und russische Kämpfer. Wer die Toten sind, spielt
für sie keine Rolle.
Wenn es Ukrainer sind, helfen sie den Familien auch dabei, ihre Angehörigen
zu begraben. Wenn es Russen sind, übergeben sie die Leichen im Austausch
für ukrainische Tote, die in den besetzten Gebieten gefunden wurden, an
Russlands Armee.
Die fehlende Kommunikation von russischer Seit birgt große Risiken: Oft
werden die toten ukrainischen Soldaten vermint. Einigen Körpern können sich
die Sucher deswegen nicht nähern, zu anderen müssen sie durch ein
[2][Minenfeld hinkriechen].
„Wir versuchen die Leichen so schnell wie möglich zu bergen. Denn wilde
Tiere und Witterungsbedingungen tun das ihrige. Doch manchmal können wir
nur noch zuschauen, wie die Natur die Körper unserer Soldaten verschlingt“,
erklärt Aleksei.
## Die schwierigste Arbeit: Die Angehörigen informieren
Eine der emotional schwersten Seite ihrer Arbeit ist es, die Familien über
den Tod eines Angehörigen zu informieren. Alle Mitglieder der „Schwarzen
Tulpe“ wurden vom Internationalen Roten Kreuz psychologisch geschult. Sie
haben gelernt, wie man mit den Angehörigen spricht, wie man die
Todesnachricht überbringt, wie man sich verhält, sie unterstützten kann.
Solange die Soldaten als vermisst gelten, haben die Angehörigen noch
Hoffnung. Wenn sie vom Tod erfahren, erlischt auch das letzte Fünkchen.
Aleksei erzählt: Manchmal stehe er mit Angehörigen telefonisch in Kontakt –
von dem Moment an, in dem sie die Leiche finden, bis zum Augenblick des
Abschieds auf dem Friedhof. Oft hält er noch Kontakt über die Beerdigung
hinaus.
„Besonders dann, wenn wir sie anrufen und die Angehörigen keine Möglichkeit
haben, den Leichnam abzuholen“, bräuchten die Menschen Unterstützung.
Manchmal telefoniere die Gruppe tagelang mit ihnen. Fast mit allen, die
eine Suchanfrage gestellt haben, halte man Kontakt – 100 bis 200 Telefonate
sind es pro Tag. „Die Menschen sind gestresst und wissen nicht, wie sie
damit umgehen sollen. Wir helfen ihnen dabei“, so Aleksei.
Weil sie oft in [3][gefährlichen Gegenden des Donbass] unterwegs sind,
haben Aleksei und sein Team schon mehrfach in Ortschaften, wo die Kämpfe
noch anhalten, humanitäre Hilfe in Form von Lebensmitteln und Medikamenten
gebracht.
## Soldaten spenden Benzin, Zivile Geld
Die „Schwarze Tulpe“ arbeitet eng mit anderen offiziellen Stellen zusammen,
die nach den Toten suchen, zum Beispiel mit dem humanitären Programm der
Ukrainischen Streitkräfte – „Grus 200“. Die Arbeit der „Schwarzen Tulp…
ist eine humanitäre Mission auf freiwilliger Basis, bezahlt wird sie nicht.
Auch ganz gewöhnliche Menschen, sind bereit zu helfen. Soldaten
unterstützen die Organisation oft mit Benzinspenden. Manchmal wird in den
sozialen Netzwerken Geld für die Reparatur ihres Fahrzeugs gesammelt.
Es ist bereits einige Male kaputt gegangen, erfüllt aber noch immer seine
Pflicht. Wegen seiner besonderen Aufgaben haben die Mitglieder der Gruppe
das Auto „Walküre“ getauft.
Alekseis Team besteht aus drei Menschen: Sie sind jung, männlich,
Einheimische, Kampfsportler, und ehemalige Sucher von „Brückenkopf“. Jeder
im Team hat eine besondere Spezialisierung: Einer von ihnen spricht
Englisch, übernimmt deshalb die Kommunikation mit ausländischen Stiftungen
und Journalisten.
## Die „Schwarze Tulpe“ wird nach dem Krieg noch Jahre weiterarbeiten
Für sie alle ist die Arbeit zu einer Verpflichtung geworden – „gegenüber,
denjenigen, die ihr Leben für uns gegeben haben. Sie haben ihre Aufgabe
erfüllt. Sie haben uns verteidigt, so gut sie konnten. Wenn sie sterben,
ist es unsere Aufgabe, ihnen dabei zu helfen, nach Hause zu kommen. Leider
nur als Tote, aber nach Hause müssen sie trotzdem“, erklärt Aleksei.
Solange nicht der Letzte begraben wurde, ist der Krieg nicht vorbei. Gerade
deshalb wird die „Schwarze Tulpe“ nicht nur bis zum Ende der
Kampfhandlungen arbeiten, sondern – so zeigt es die Praxis – noch viele,
viele Jahre danach.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
6 Jul 2022
## LINKS
[1] /Politologe-zu-Putins-Kriegszielen/!5860659
[2] https://www.politico.eu/article/bodies-land-mines-destruction-ukraine-regio…
[3] /Moskaus-Offensive-im-Donbass/!5865154
## AUTOREN
Lidia Chaustowa
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