| # taz.de -- Hilfsgüter in der Ukraine: Essen bekommt, wer mitgebetet hat | |
| > Auch in Kiew sind die Lebensmittelpreise gestiegen. Von dem Krieg | |
| > profitieren Einzelhandel und Kirchen, beobachtet der taz-Korrespondent. | |
| Bild: Weiß sich zu helfen: Nachbarin Nadja hat das ganze Wohnzimmer voller Leb… | |
| Kiew taz | Bis auf den letzten Platz ist der Bus von Düsseldorf nach Kiew | |
| besetzt, 55 Frauen, fünf Männer und drei ukrainische Fahrer bilden für 30 | |
| Stunden eine Gemeinschaft. Die Fahrgäste sitzen ruhig und unaufgeregt auf | |
| ihren Plätzen. Angst scheint niemand zu haben. Bei meiner [1][Flucht aus | |
| der Ukraine] Anfang März war das anders. Da war bei allen Panik das | |
| vorherrschende Gefühl. | |
| ## Das Lebensmittelproblem | |
| Meine Kiewer Nachbarin Nadja ist gut drauf. „Schon drei Tage kein | |
| Luftalarm“, begrüßt sie mich freudig. Und da sie vor kurzem 75 Jahre alt | |
| geworden ist, hat sie eine kräftige Rentenerhöhung erhalten. Nun sind es | |
| nicht mehr 1.800 Hrywnja, sondern 2.500 jeden Monat. Umgerechnet 70 Euro. | |
| Und dann traue ich meinen Augen nicht. Das ganze Wohnzimmer ist voller | |
| Lebensmittel: Nudeln, Mehl, Sonnenblumenöl, Fleischdosen, Zucker, | |
| Süßigkeiten und Salz stapeln sich dort. | |
| Ja, die Lebensmittel sind im Krieg teurer geworden, sagt Nadja. Für ein | |
| Kilo Buchweizen bezahlt man nun nicht mehr 17 Hrywnja, sondern 100. | |
| Zwiebeln haben sich von 7 Hrywnja das Kilo auf 22 Hrywnja verteuert, Rüben | |
| von 6 auf 30 Hrywnja. Zehn Eier kosten nun nicht mehr 18 Hrywnja, wie vor | |
| dem 24. Februar, als der Krieg begann, sondern 35 Hrywnja und junge | |
| Kartoffeln nicht mehr 12, sondern 35 Hrywnja das Kilo. | |
| Von der humanitären Hilfe komme bei der Bevölkerung jedoch nur wenig an. | |
| Vieles davon lande direkt in den Geschäften. | |
| „Aber wie wollen Sie erkennen, dass beispielsweise rumänische Nudeln, die | |
| im Supermarkt verkauft werden, von Hilfslieferungen kommen?“, frage ich | |
| Nadja. „Es hat in ukrainischen Lebensmittelgeschäften doch schon immer | |
| ausländische Ware gegeben.“ | |
| Auf allen Lebensmittelverpackungen, die für den ukrainischen Handel | |
| bestimmt sind, müsse ein kurzer Text in ukrainischer Sprache stehen, | |
| erklärt mir Nadja. „Und wenn man ein Produkt in die Hand nimmt, das | |
| ausschließlich in rumänischer oder deutscher Sprache beschriftet ist, dann | |
| kann man davon ausgehen, dass es von der humanitären Hilfe stammt.“ | |
| Aber sie wisse sich zu helfen. Jeden Samstag und Sonntag gehe sie in | |
| Gottesdienste. In jüngster Zeit seien viele neue Kirchengemeinden | |
| entstanden, meistens sind es Evangelikale und Pfingstgemeinden. Und da | |
| bekomme man immer eine ganze Tragetasche voller Lebensmittel – „wenn man | |
| mitgebetet hat“. Den Kirchen vertraut sie, die würden humanitäre Hilfe | |
| kostenlos verteilen. Natürlich können sie und ihre Tochter das nicht alles | |
| selber essen. Aber zum einen brauche sie einen großen Vorrat, zum anderen | |
| versorge sie auch ihre Freundinnen. | |
| Wer viel Essen hat, habe auch viele Freunde. Und überleben kann in dieser | |
| Zeit nur, wer Freunde hat, sagt Nadja. | |
| Eine von Nadjas Freundinnen hat eine Tochter, die als Krankenschwester | |
| arbeitet. Und so ist sie immer gut informiert, wo man gerade am besten | |
| Medikamente bekommt. | |
| Eine andere lebt auf dem Land und schickt ihr ab und zu ein Paket, mal mit | |
| Knoblauch, mal mit Kartoffeln. | |
| Wieder eine andere, Mascha, ist gerade bei Nadja in der Wohnung | |
| untergekommen. Sie ist vor kurzem aus Isjum geflohen, einer Stadt in Gebiet | |
| Charkiw. Die haben die Russen nun besetzt. Jetzt habe sie nicht einmal | |
| telefonischen Kontakt zu ihrer Mutter, erzählt Mascha. Die Russen hätten | |
| sofort ein eigenes Telefonnetz eingerichtet. Und sie wisse nicht, wie sie | |
| da jetzt anrufen könne. Das Internet funktioniere dort nicht, erklärt sie, | |
| alles sei dem Erdboden gleichgemacht worden. Deswegen könne man nur in | |
| Kellern leben. Auch Renten würden die Russen nicht bezahlen. | |
| ## Die Gottesdienste | |
| Für Samstag und Sonntag lädt Nadja mich in zwei Gottesdienste ein, damit | |
| ich mit eigenen Augen sehen könne, wie viele Hilfsgüter die [2][Kirchen] | |
| verteilen. Der Samstags-Gottesdienst, ausgerichtet von „Der neuen | |
| Generation“, findet im „Christlichen humanitären Zentrum“ im Kiewer | |
| Stadtteil Darniza statt. | |
| Ungefähr 300 Gläubige haben sich im Gebetssaal eingefunden. Hier sind alle | |
| Gesellschaftsschichten vertreten. Auf der Bühne spielt eine Band Rockmusik, | |
| ohrenbetäubend laut. Eine junge Frau betritt die Bühne. Sie singt viel von | |
| Jesus Christus. Gleichzeitig stampft sie im Takt der Bassgitarre und ruft | |
| „Halleluja!“. Rhythmisch geht der Saal mit, viele tanzen, heben die Hände | |
| hoch, rufen: „Jesus, erbarme dich!“ Es ist eine Mischung aus Kirche und | |
| Diskothek. | |
| Nach 30 Minuten Rockmusik tritt ein Redner ans Pult. Er spricht zuerst | |
| leise. Niemand versteht, was er sagt. Russisch ist es nicht, Ukrainisch | |
| auch nicht. Er lässt sich nicht beirren, redet beharrlich in seinem | |
| Kauderwelsch weiter. Dann wird die Band leiser und leiser, der Mann dagegen | |
| immer lauter. Nun spricht er Russisch. „Unser Thema heute ist das Opfern“, | |
| sagt der Prediger. Gleichzeitig wird an der Wand eine Kontonummer | |
| eingeblendet. Nur wer bereit sei, Opfer zu bringen, könne auf Jesus zählen. | |
| Er wird immer lauter, schreit fast ein auf die Menge, die zunehmend in | |
| Ekstase gerät. | |
| „Erst vor einigen Tagen sind ukrainische Kriegsgefangene freigekommen. | |
| Einer von ihnen war ein Mitglied unserer Gemeinde. Das beweist doch, dass | |
| unsere Gebete von Gott erhört werden, unsere Opfer nicht umsonst waren“, | |
| ruft er. | |
| „Amen.“ | |
| Der Prediger holt einen kleinen Jungen zu sich auf die Bühne. Gemeinsam | |
| blicken sie auf eine Frau, die ein Baby in den Armen hält. „Das ist das | |
| Kind, für das seine Mutter Anna immer gebetet hatte. Sie hat gebetet, Opfer | |
| gebracht und ihr Kinderwunsch ist in Erfüllung gegangen.“ | |
| „Amen.“ | |
| „Auch die Eltern der Gottesmutter Maria waren zunächst kinderlos“, sagt der | |
| Prediger. „Doch dann war Anna, die Mutter von Maria, bereit zu opfern, und | |
| hat ein Kind geboren. Anna, die Mutter von Maria, hat für ein Kind gebetet, | |
| hat genauso wie unsere Anna hier Opfer gebracht, Gott um ein Kind | |
| angefleht“, spricht er weiter. | |
| Im Hintergrund setzt beruhigende Klaviermusik ein. | |
| „Opfer lösen alle Probleme auf dieser Welt, in deinem Leben, bringe Jesus | |
| Christus dein Opfer.“ | |
| Nur einer wolle uns hindern, Opfer zu bringen: der Teufel. „Doch wir müssen | |
| an unseren Sieg glauben. Und wir werden siegen, im Kampf für Christus und | |
| an der Front gegen den Aggressor“, so sagt es der Prediger in den | |
| Gebetssaal hinein. | |
| Am Ende des zweistündigen Gottesdienstes stürmen alle aus der Kirche. Vor | |
| dieser steht ein Wagen mit Lebensmitteln. Zwei Kilo Mehl, ein Kilo Zucker, | |
| zwei Gläser Hühnerfleisch und ein Kilo Reis nimmt Nadja mit nach Hause. | |
| ## Wer betet, wird versorgt | |
| Sonntagvormittag, elf Uhr. Mehrere Busse bringen die Gläubigen aus allen | |
| Stadtteilen kostenlos zur Kirche Peremoga („Der Sieg“). Diese Kirche ist um | |
| das Zehnfache größer als die „Neue Generation“. Im Bus werden die Gläubi… | |
| von einer freundlichen Rentnerin begrüßt. Gemeinsam wird gebetet. Dann hält | |
| die Frau blaue Gutscheine in die Höhe. „Jeder von euch erhält nun einen | |
| Gutschein. Bitte bewahrt diesen gut auf. Ihr betet heute zu Jesus und Jesus | |
| sorgt auch für euer leibliches Wohl. Nach dem Gottesdienst erhaltet ihr | |
| hier im Bus eine Tragetasche mit Lebensmitteln.“ | |
| Diese Kirchengemeinde ist Besitzerin einiger Gebäude. Und in dem größten | |
| Gebäude des Areals am Stadtrand von Kiew, das unter anderem eine | |
| Bibliothek, einen Betreuungsort für Kinder und ein Café beherbergt, | |
| befindet sich ein großer Saal mit einer stattlichen Bühne. | |
| Zwei Fernsehkameras sind von einer erhöhten Plattform in der Mitte des | |
| Saals auf die Bühne gerichtet. Mehrere Tausend Menschen sind im Saal. Jeden | |
| Sonntag finden zwei Gottesdienste mit so vielen Besuchern statt. Auch hier | |
| wieder wird man mit ohrenbetäubender Rockmusik begrüßt. Und auch hier wird | |
| wieder eine Kontonummer an der Wand eingeblendet. Die Kirche möchte einen | |
| eigenen Tempel bauen. Dafür braucht man Geld, viel Geld. | |
| Besonders begrüßt werden alle, die zum ersten Mal hier sind. Sie werden auf | |
| die Bühne gebeten, erhalten als Geschenk eine Thermotasse – und werden | |
| gleichzeitig gebeten, ihre Kontaktdaten zu hinterlassen. | |
| Schließlich betritt „Pastor Henry“ die Bühne. Er ist vor knapp 30 Jahren | |
| aus Simbabwe in die Sowjetunion gekommen und lebt seitdem in der Ukraine. | |
| Er spricht akzentfrei Russisch und Ukrainisch. Er ist gut aufgelegt, macht | |
| viele Witze. Nadja hat ihn in ihr Herz geschlossen. „Pastor Henry ist sehr | |
| erfolgreich. Seine Kinder studieren in den USA“, sagt sie. | |
| Auch Pastor Henry spricht von Opfern. Nur wer bereit sei, Opfer zu bringen, | |
| könne Jesus näherkommen. Man kann ihm gut zuhören, wie er da so ungezwungen | |
| und mit freundlichem Lächeln von Christus erzählt. Dank seiner | |
| sympathischen Art vergeht die Stunde seiner Predigt fast wie im Flug. Er | |
| ist einer, mit dem man gerne befreundet wäre. | |
| Dankbar nehmen am Ende viele seine Einladung an, ebenfalls auf die Bühne zu | |
| kommen. Es sei ihm ein Anliegen, Gläubige von ihren Krankheiten und Sorgen | |
| zu befreien, sagt er. Mehrere kommen zu ihm hinauf. Lassen sich die Hände | |
| über den Kopf halten, und hoffen, dass er sie so von ihren Nöten befreit. | |
| Diabetiker könnten angeblich wieder normal essen, ein Augenkranker bald | |
| wieder sehen. Schade nur, dass die Blitzgenesung erst eintreten soll, wenn | |
| alle wieder zu Hause sind. | |
| 9 Jul 2022 | |
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| Bernhard Clasen | |
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