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# taz.de -- Das Jahr 2021 in Belarus: Konsolidierung oder Agonie?
> Zivilgesellschaftliche Proteste wurden erstickt, Medien zerschlagen,
> Oppositionelle festgenommen: 2021 war ein schlechtes Jahr für Belarus.
Bild: Swetlana Tichanowskaja, belarussische Oppositionspolitikerin, mit Foto ih…
Ich bin 71! Ich werde es nicht mehr erleben, ich werde meinen Sohn nicht
wiedersehen!“ Sofja Tichanowskaja ist konsterniert: Am 14. Dezember wurde
ihr 43-jähriger Sohn Sergej Tichanowski – im Ausland in erster Linie als
Blogger und Ehemann der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana
Tichanowskaja bekannt – zu 18 Jahren Haft verurteilt.
Das erschreckende Urteil, das sich auf die persönlichen Rachegefühle des
Diktators Alexander Lukaschenko zurückführen lässt, kam sogar für manche
Pessimisten überraschend, die mit 14, ja mit 15, aber nicht mit 18 Jahren
gerechnet hatten.
14 Jahre hat im Juli 2021 der Banker und Mäzen Wiktar Babaryko, 58,
bekommen, der – ähnlich wie Tichanowski – bei der Präsidentschaftswahl 20…
Lukaschenko herausfordern wollte und nicht zugelassen wurde. Heute gilt er
als beliebtester Politiker des Landes und würde eine freie und
demokratische Wahl wohl klar für sich entscheiden. Sein Sohn und
Wahlkampfleiter Eduard Babaryko, 31, ist ebenfalls in Haft. Der
Gerichtsprozess gegen ihn steht noch aus.
Zwei Tage vor dem Urteil gegen Tichanowski wurde Babarykos Brief aus dem
Gefängnis veröffentlicht, in dem der prominente Häftling trotz der
dramatischen Situation nicht seinen Optimismus verliert: „Aber vor dem Tod
findet manchmal die Agonie statt. Man soll einfach nicht in Panik verfallen
und konsequent das tun, was man tun soll.“
## Das brutale Lukaschenko-Regime
Wenn Wiktar Babaryko über Agonie und Tod schreibt, meint er das
Lukaschenko-Regime, das seiner Meinung nach vor dem Zusammenbruch stehe.
Von der scheinbaren Konsolidierung der Diktatur nach der Erschütterung
durch die Massenproteste im August und Herbst 2020 lässt sich der Politiker
nicht irritieren.
Ist aber Babarykos Einschätzung zutreffend oder handelt es sich dabei um
das Wunschdenken eines Häftlings, der – ähnlich wie seine Mitstreiterin
Maria Kalesnikava, Sergej Tichanowski und weitere prominente
Dissidenten*innen – mit einer Freilassung unter Lukaschenko kaum
rechnen darf und nunmehr seinen Anhängerinnen und Anhängern in der tristen
Wirklichkeit von Willkür und Repressionen Mut und Hoffnung schenken möchte?
Hoffnung … Gerade die Hoffnung haben viele demokratisch eingestellte
Belarussen und Belarussinnen im Jahr 2021 verloren. Für Anhänger*innen
des demokratischen Wandels war dieses Jahr eine Enttäuschung und ein
dramatischer Rückschlag. Belarus blieb zwar im Mittelpunkt der
internationalen Öffentlichkeit, da über dieses Land viel berichtet wurde.
Gleichzeitig versank es immer tiefer in der Krise.
[1][Noch im Frühjahr war es dem Regime gelungen, die Straßenproteste
endgültig zu ersticken.] Um neue Proteste zu verhindern, setzte Lukaschenko
– von der stalinistischen Praxis inspiriert – auf die planmäßige und
skrupellose [2][Zerstörung der belarussischen Zivilgesellschaft.]
## NGOs geschlossen, Journalisten in Haft
Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen wurden geschlossen, Dutzende
Journalist*innen festgenommen und Überreste unabhängiger Medien
zerschlagen [3][oder aus dem Land vertrieben]. Die Gefahr der
Corona-Pandemie wurde heruntergespielt, wodurch die Diktatur ihre
menschenverachtende Haltung bestätigte.
[4][Die Verfolgung von Andersdenkenden ging 2021 ununterbrochen weiter.] Im
Rahmen der „Säuberungen“ werden tatsächliche und vermeintliche
Regimekritiker*innen aus staatlichen Betrieben und Hochschulen
entlassen. Fast jeden Tag werden Durchsuchungen und Festnahmen gemeldet.
Misshandlungen und Folter stehen auf der Tagesordnung.
Die Anzahl politischer Häftlinge wird demnächst die horrende Marke von
1.000 überschreiten. Lukaschenkos erbitterter Kampf um die Machtsicherung
forderte neue Todesopfer. So starb der politische Häftling Witold Aschurok
im Mai in der Haft. Ende September stürmte die Staatssicherheit KGB eine
Wohnung in Minsk, wobei sowohl der Regimegegner Andrei Zeltser als auch
KGB-Leutnant Dmitri Fedosjuk bei einem Schusswechsel getötet wurden.
## Symbolische Sanktionen der EU
Obschon die EU und die USA die rasante Verschlechterung der Situation in
Belarus registrierten und sich besorgt zeigten, kamen sie im Grunde
genommen über eine scharfe verbale Verurteilung und eher symbolische
Sanktionen zunächst nicht hinaus.
Die wirtschaftliche Lage hat sich in Belarus 2021 trotz Sanktionen nicht
verschlechtert, sondern sogar etwas verbessert. Solange das von Russland
unterstützte Regime sich auf die Unterdrückung seiner eigenen Bevölkerung
beschränkte, hatte Lukaschenko vom Westen nicht viel zu befürchten.
Die verspätete westliche Reaktion und insgesamt harmlose Sanktionen wurden
von Lukaschenko als Zeichen der Schwäche und geradezu als Einladung zu
neuen dreisten Untaten wahrgenommen, die nicht lange auf sich warten
ließen. Die Zwangslandung der Ryanair-Maschine mit dem regimekritischen
Blogger Roman Protasewitsch an Bord am 23. Mai 2021 erschütterte Europa und
führte zur drastischen Verschärfung der Belarus-Sanktionen, wodurch die EU
dem unverschämten Diktator eine Lektion erteilen wollte.
Die entschlossene und nunmehr schnelle Reaktion des Westens kam für
Lukaschenko zwar eher überraschend und unerwartet. Sie wirkte auf ihn
jedoch nicht ernüchternd, sondern bestärkte ihn in seiner Bereitschaft, den
Westen weiterhin herauszufordern: Anfang August kam es zur versuchten
[5][Entführung der widerspenstigen Leichtathletin Kristina Timanowskaja]
bei den Olympischen Spielen in Tokio. Anschließend wurde der belarussische
Aktivist Witali Schischow in Kiew tot aufgefunden.
## Migrationskrise an der Grenze
Parallel dazu entwickelte sich die verheerende Migrationskrise, mit der das
belarussische Regime die EU-Mitglieder Litauen, Lettland und Polen
destabilisieren, einen Zwist innerhalb der EU provozieren und vor allem die
Lockerung oder sogar die Abschaffung der lästigen Sanktionen erreichen
wollte.
Dieses zynische Spiel auf Kosten von Menschen aus Syrien, dem Irak und
anderen Ländern ging für Lukaschenko verloren. Die EU ließ sich von der
humanitären Katastrophe nicht erschrecken und nahm die an der Grenze
gestrandeten Menschen nicht auf. Die von Minsk erhofften Verhandlungen
blieben aus und Lukaschenkos Migrationsprojekt wurde hintertrieben.
Die EU und die USA warfen dem Diktator die „hybride Kriegsführung“ vor und
bestraften Belarus mit neuen Sanktionen, welche das Regime noch stärker
isolierten und die belarussische Wirtschaft nachhaltig treffen werden.
Verliert aber Lukaschenko nach diesem turbulenten Jahr aus innenpolitischen
„Erfolgen“ und außenpolitischen „Misserfolgen“ die Lust, die EU weiter…
herauszufordern, und wird er sich zurückziehen? Höchstwahrscheinlich nicht.
## Stunde der Wahrheit
Die belarussische Führung ist ein Himmelfahrtskommando, das kaum noch etwas
zu verlieren hat und die Stunde der Wahrheit geradezu herbeisehnt.
Lukaschenko genießt den unerwarteten internationalen Ruhm, der ihm nunmehr
zukam, und sieht sich in einer Reihe mit Saddam Hussein und vor allem
[6][Muammar al-Gaddafi], der bis zum bitteren Ende um seine Macht kämpfte.
Von seiner eigenen Bevölkerung virulent gehasst, [7][verachtet Lukaschenko
den Westen]; seine Abhängigkeit von Russland ist gravierend. Würden der
Diktator und seine Mitstreiter*innen ihre Macht verlieren, drohen ihnen
entweder lange Haftstrafen oder bestenfalls ein Leben im Exil. Und gerade
diese Vorstellung des letzten Kampfes, in dem es nicht nur um die Macht,
sondern viel mehr um die Existenz geht, wirkt auf das Regime enthemmend und
macht es zur einem der großen Unsicherheitsfaktoren in Europa.
Der Blick in die Zukunft verspricht Lukaschenko nichts Gutes. Das nächste
Jahr, für das er eine Volksabstimmung über die neue Verfassung geplant hat,
die das Herrschaftssystem neu ordnen und das Regime dauerhaft stabilisieren
soll, wird zu einer entscheidenden Bewährungsprobe für die Diktatur.
Wird sich ein Schurkenstaat im Europa des 21. Jahrhunderts etablieren
können oder geht Wiktar Babarykos Prognose in Erfüllung und Lukaschenko
wird in seinem Versuch des Stalinismus 2.0.scheitern? Das Jahr 2022 wird
möglicherweise eine Antwort auf diese Frage geben. Es kann jedenfalls das
Jahr der Hoffnung werden.
28 Dec 2021
## LINKS
[1] /Historiker-ueber-Protestbewegung/!5777397
[2] /Buch-ueber-Freiheitsbewegung-in-Belarus/!5793518
[3] /Jahrestag-der-Proteste-in-Belarus/!5792169
[4] /Homophobe-Politik-in-Osteuropa/!5763321
[5] /Belarus-und-Olympia/!5786679
[6] /Zwischen-Libyen-und-Suedafrika/!5818630
[7] /Staatspropaganda-in-Belarus/!5750027
## AUTOREN
Alexander Friedman
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