# taz.de -- Staatspropaganda in Belarus: Antisemiten für Lukaschenko | |
> Antiwestlich und verschwörungsideologisch: Die Propaganda in Belarus | |
> benutzt tiefsitzende Ressentiments. Gehetzt wird vor allem auch gegen | |
> Juden. | |
Bild: Auch Swetlana Tichanowskaja wird in Fak-news als Jüdin dargestellt um An… | |
In Belarus hat sich ein gewöhnlicher Faschismus etabliert, der unbedingt | |
zerstört werden muss“, betont der aus Minsk stammende Israeli Alexander | |
Fruman und spielt dabei auf seine Erfahrungen aus dem August 2020 an. Der | |
Datenwissenschaftler kam damals als Tourist nach Belarus, um über seine im | |
Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten ermordeten Vorfahren zu | |
recherchieren. Vor Ort erlebte er am 9. August die Präsidentschaftswahl, | |
die der seit 1994 amtierende Präsident Alexander Lukaschenko erneut | |
manipulierte. | |
Aber diesmal wollten zahlreiche Belarussen*innen die offenkundige | |
Wahlfälschung nicht hinnehmen und [1][gingen auf die Straßen]. Der | |
skrupellose Diktator ließ die Proteste brutal auflösen. So begann die | |
Geschichte der belarussischen Revolution, die Frumans Leben veränderte. | |
Obschon der Israeli an Protestaktionen nicht teilgenommen hatte, wurde er | |
am 10. August im Zentrum von Minsk willkürlich festgenommen. In der Haft | |
von der Polizei misshandelt, antisemitisch beleidigt und der | |
Spionagetätigkeit verdächtigt, kam er drei Tage später frei und durfte | |
Belarus verlassen. | |
Auch sein Landsmann, der Künstler Artem Pronin geriet unmittelbar nach der | |
Wahl in die Fänge der belarussischen Polizei und wurde gefoltert. Die | |
israelische Staatsbürgerschaft war für Pronin und Fruman der Rettungsanker | |
im belarussischen Ozean der Willkür, Gewalt und Gesetzlosigkeit. | |
Rückblickend bemerkt Pronin, dass er und Fruman Glück im Unglück gehabt | |
hätten: Ein schwerverletzter oder gar ein toter Israeli wäre sogar für die | |
belarussische Diktatur „zu viel des Guten“ gewesen. | |
Von Schreckensszenen und dramatischen Augenzeugenberichten aus Belarus war | |
im August 2020 [2][die ganze Welt erschrocken]. Der belarussische Dirigent | |
Michail Finberg hingegen will diesen Gewaltausbruch nicht mitbekommen | |
haben. Folter? Misshandelte Ausländer? Getötete Belarussen? Fehlanzeige. | |
Finberg, der sich nach dem Beginn der Proteste öffentlich von seiner | |
jüdischen Herkunft distanzierte, steht weiterhin zu „seinem Präsidenten“ | |
Lukaschenko und hält die Protestierenden für Banditen, die Belarus | |
zerstören wollen. Der Dirigent scheint den Propagandadiskurs der Diktatur | |
verinnerlicht zu haben, die ihre Gegner*innen als „Verräter“, | |
„Kriminelle“ und „Staatsfeinde“ verunglimpft und die Errichtung von Lag… | |
für diese „überflüssigen Menschen“ plant. | |
## Erinnerungen an den Faschismus | |
So werden die Erinnerungen an den Faschismus und weitere dunkle Kapitel der | |
europäischen Geschichte wahr, denn bei den grassierenden Repressionen wird | |
in Belarus inzwischen weder auf Herkunft, Alter oder Geschlecht noch auf | |
Kritik aus dem Ausland Rücksicht genommen: Mitte Dezember 2020 wurde die | |
87-jährige Holocaust-Überlebende Elizaveta Bursava zu einer Geldstrafe | |
verurteilt. | |
Ihre Schuld? Als Lukaschenkos Gegnerin hat die Rentnerin die von der | |
Protestbewegung verwendete nationale, vom Regime als „Nazi-Banner“ | |
diffamierte weiß-rot-weiße Fahne auf ihrem Balkon aufgestellt. | |
Antisemitische Beleidigungen in der Haft, ein regimetreuer Künstler, der | |
seine jüdische Herkunft sicherheitshalber leugnet, ein peinlicher | |
Gerichtsprozess gegen eine Holocaust-Überlebende … Setzt Lukaschenko um der | |
Machtsicherung willen nunmehr auf eine antisemitische Karte? | |
## Juden als Fremde | |
Offiziell leben aktuell rund 14.000 Juden in Belarus. Die meisten | |
belarussischen Juden kamen im Holocaust ums Leben. In der Nachkriegszeit | |
verließen Holocaust-Überlebende und ihre Nachkommen nach und nach das Land. | |
Im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Republik Belarus | |
sind jüdische Menschen kaum präsent. Für die meisten Nichtjuden sind sie | |
längst „Fremde“ und „Unbekannte“ geworden, die in Belarus früher gele… | |
haben und nun fast spurlos verschwunden sind. | |
Unter Lukaschenko, der seinen antisemitischen Ressentiments sporadisch | |
freien Lauf lässt, zeigt der Staat kein Interesse für die Wiederbelebung | |
des jüdischen Lebens. Die seit Jahren registrierte rasante Verbreitung | |
antisemitischer Vorstellungen in der belarussischen Gesellschaft wird | |
geflissentlich ignoriert. Auch in den stark sowjetisch geprägten | |
Führungskreisen sind latente antisemitische Stereotype und Vorurteile tief | |
verwurzelt. | |
Diese Besonderheiten gepaart mit dem sich abzeichnenden Bruch zwischen | |
Belarus und dem Westen erklären die Doppelstrategie, für die sich das | |
Regime nach der Präsidentschaftswahl entschied: International weitestgehend | |
isoliert und von der EU und den USA scharf verurteilt, hat Lukaschenko den | |
Staat Israel für sich entdeckt, profiliert sich nach außen als | |
israelfreundlicher Staatsmann, der am Ausbau der bilateralen Beziehungen | |
interessiert ist, und will dadurch seinen ramponierten Ruf aufpolieren. | |
## Feindbild Soros | |
Nach innen wird eine radikale antiwestliche, durch tradierte antisemitische | |
Parolen und abstruse Verschwörungstheorien ergänzte Propaganda | |
vorangetrieben, deren Ansätze an die berüchtigten antisemitischen Kampagnen | |
in Polen und in der Tschechoslowakei von 1968 erinnern. | |
In staatlich kontrollierten Medien tauchen Personen auf, die sich ungeniert | |
der Hetzsprache bedienen und die Proteste zu einem westlichen | |
„antibelarussischen Komplott“ stilisieren, dessen wahre Hintermänner „die | |
Juden“, der US-Philanthrop George Soros und der französische Intellektuelle | |
Bernard-Henri Lévy seien. Lévy, der die Lukaschenko-Rivalin Swetlana | |
Tichanowskaja offen unterstützt, wird als „Goebbels moderner Zeiten“ | |
verunglimpft. | |
In sozialen Netzwerken verbreiten sich diverse Fake News über eine | |
vermeintlich jüdische Herkunft (alternativ israelische Staatsbürgerschaft) | |
von Tichanowskaja und von weiteren Oppositionspolitikern. In bekannter | |
altsowjetischer Manier werden Regimekritiker mit jüdisch anmutenden Namen | |
beschimpft und sogar mit dem biblischen Judas verglichen. | |
## Erinnerungen instrumentalisiert | |
Man spottet über „Protestaktivisten mit abartigen semitischen | |
Gesichtszügen“. Die vom Präsidialamt herausgegebene Zeitung vermutet | |
Mossad-Agenten unter Lukaschenkos Gegnern und legt den mit der Situation in | |
Belarus unzufriedenen und mit der Protestbewegung sympathisierenden | |
belarussischen Juden die Auswanderung nach Israel nah. | |
Der Holocaust, der in der belarussischen Erinnerungskultur bisher eine | |
marginale Rolle spielte, wird instrumentalisiert: Der von Lukaschenko | |
sanktionierte Gewaltausbruch traumatisierte die belarussische Gesellschaft | |
und sensibilisierte zahlreiche Nichtjuden für die jüdische Tragödie. | |
Überzogene historische Vergleiche mit der düsteren nationalsozialistischen | |
Epoche machten unter Regierungskritiker*innen die Runde. | |
Auf den Nationalsozialismus gehen auch Lukaschenkos Propagandisten ein, die | |
ihre Gegner und Kritiker als geistige Nachfolger belarussischer | |
Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg charakterisieren, welche aktiv beim | |
Judenmord mitgewirkt hatten. Während die Polizei | |
Holocaust-Gedenkveranstaltungen auflöst, werden mit erhobenem Zeigefinger | |
Juden in Belarus und im Ausland kritisiert, die die Proteste unterstützen | |
und sich somit mit den „modernen Faschisten“ verbrüdern würden. | |
## Perfide Doppelstrategie | |
Geht Lukaschenkos perfide Doppelstrategie auf? Bei manchen, nicht selten | |
ohnehin judenfeindlich eingestellten Anhänger*innen des Diktators kommt | |
das antisemitische Narrativ gut an. Von Regimegegnern hingegen, welche die | |
Staatspropaganda inzwischen meist ohnehin ignorieren, wird es nicht einmal | |
registriert. | |
Zwar reagierte die israelische Regierung auf die Umarmungsversuche aus | |
Minsk eher zurückhaltend, sieht jedoch aus realpolitischen Gründen von | |
einer deutlichen öffentlichen Kritik der antisemitischen Tendenzen in | |
Belarus ab. Und Juden in und aus Belarus? | |
Die antisemitische Welle und die aktuelle Krise verunsichern belarussische | |
Juden, unter denen es sowohl Anhänger als auch Gegner Lukaschenkos gibt. | |
Zahlreiche aus Belarus stammende Juden im Ausland nehmen an | |
Solidaritätskundgebungen teil, engagieren sich für Belarus und entdecken | |
ihre Heimat neu. | |
Die aus Minsk stammende israelische Aktivistin Irene Gurevich bringt | |
dieses Phänomen auf den Punkt: „Im Zuge der Revolution ist unsere | |
Verbindung mit Belarus stärker geworden.“ | |
21 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Friedman | |
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