# taz.de -- Widerstand in Belarus: Demokratie im Hinterhof | |
> Seit Monaten demonstrieren die Belaruss*innen gegen ihren Präsidenten und | |
> für einen Neuanfang im Land. Sie haben alle überrascht – auch sich | |
> selbst. | |
Bild: Belaruss*innen demonstrieren gegen die Amtseinführung von Präsident Ale… | |
BERLIN taz | Sie sind aufgestanden und haben schon jetzt Geschichte | |
geschrieben: Abertausende Belaruss*innen, die in diesem Jahr angetreten | |
sind, sich ihres Präsidenten zu entledigen. „Ich habe mich in die Menschen | |
meines Landes verliebt“, hat [1][Swetlana Alexijewitsch], belarussische | |
Literaturnobelpreisträgerin von 2015, im Sommer dazu gesagt. | |
Dieses Gefühl teilt Alexander Lukaschenko nicht. Beim Anblick seiner | |
Landsleute sieht er rot, genauer gesagt Weiß-Rot, und da liegt das Problem. | |
Diese Farben – auf der Staatsfahne der 1918 gegründeten ersten unabhängigen | |
belarussischen Volksrepublik verewigt – sind das Symbol des Widerstandes | |
gegen den Dauerherrscher schlechthin. | |
Der 9. August, Tag der diesjährigen belarussischen Präsidentenwahl, half | |
der Opposition. Die Wahl will Lukaschenko mit angeblich über 80 Prozent (!) | |
der Stimmen gewonnen haben. Doch diese dreiste Lüge ist selbst den mit | |
Wahlfälschungen bestens vertrauten Belaruss*innen zu viel: Sie ziehen auf | |
die Straßen, zeigen Flagge, und das nun schon seit über vier Monaten. | |
Und sie nehmen es mit Humor: „Präsident Donald Trump ruft vor der US-Wahl | |
bei Lukaschenko an und bittet ihn, sich Lidia Jermoschina (Vorsitzende der | |
belarussischen Zentralen Wahlkommission; Anm. d. Red.) ausleihen zu | |
dürfen. Lukaschenko stimmt zu. Einige Zeit später meldet sich Trump erneut. | |
Er weint und bittet Lukaschenko, Jermoschina wieder zurückzunehmen. Der | |
Mann aus Minsk fragt: ‚Na, haben sie dich gewählt?‘ ‚Sie haben gewählt … | |
dich!‘, lautet die Antwort.“ | |
## Brutale Misshandlungen | |
Leider ist Lukaschenko für derlei Anekdoten nicht empfänglich. Auf die | |
Proteste antwortet das Regime mit Gewalt. Das Wort awtosak (deutsch: | |
gepanzerter Mannschaftswagen der Polizei) ist zum Synonym [2][für brutale | |
Misshandlungen und Folter festgenommener Demonstrant*innen] geworden. | |
Doch die Menschen lassen sich nicht länger einschüchtern. Die | |
Oppositionsbewegung verstetigt sich, was wohl auch die Belaruss*innen | |
selbst überrascht. Angehörige vieler Berufs- und Altersgruppen sind | |
beteiligt, und das nicht nur in der Hauptstadt Minsk: Schüler*innen, | |
Studierende, Künstler*innen, Ärzt*innen, IT-Leute, Arbeiter*innen, | |
Sportler*innen und Rentner*innen. | |
Mindestens genauso vielfältig und kreativ sind die Formen des Protestes. | |
Längst braucht es nicht mehr nur die Straße, um Gesicht und Haltung zu | |
zeigen. Die Eroberung des öffentlichen Raums findet in den Innen- und | |
Hinterhöfen von realsozialistischen Plattenbauten statt. | |
Den Anfang macht der Minsker Häuserkomplex Kaskad. Dort taucht im | |
Spätsommer eine Wandmalerei mit dem Konterfeis zweier DJs auf, die den | |
Protestsong „Peremen“ (Veränderungen) aus der Zeit der Perestroika | |
öffentlich zu Gehör gebracht hatten. Hinzu kommen weiß-rote Bändchen, die | |
von Windböen erfasst wie kleine Fähnchen aussehen, sowie gleichfarbige | |
Flaggen. | |
## Unterhosen in Weiß-Rot | |
Werden die verfemten Insignien von der Staatsmacht entfernt, was | |
regelmäßig geschieht, antworten die Anwohner*innen prompt: Anstelle der | |
demontierten Fahnen flattern auf den Balkons an Wäscheleinen Handtücher | |
oder Unterhosen in Weiß-Rot. | |
So wird der „Platz der Veränderungen“, der viele Nachahmer gefunden hat, | |
immer wieder aufs Neue zu einer Bühne: um die Staatsmacht vorzuführen, aber | |
auch für Konzerte und andere Veranstaltungen. | |
Und es ist gleichzeitig ein Ort der Begegnungen entstanden – für Menschen, | |
die sich kennen lernen, vernetzen und dem Wort Nachbarschaftshilfe eine | |
ganz neue Bedeutung verleihen: nämlich dann, wenn sie Fremden, die ihren | |
Häschern zu entkommen suchen, die Türen öffnen und diese vor Misshandlung | |
oder noch Schlimmerem bewahren. Dabei eint alle nicht nur der Wunsch nach | |
Wandel, sondern auch der Slogan „My razem!“ (Wir sind zusammen), der ihnen | |
ungeahnte Stärke verleiht. | |
Übrigens: In Belarus beginne das neue Jahr nicht am 1. Januar um 0.00 Uhr, | |
sondern am 31. Dezember um 23.34 Uhr, witzeln die Belaruss*innen. 23.34 ist | |
der Paragraf eines Gesetzes, das Verstöße gegen die öffentliche Ordnung | |
oder die Durchführung von Massenaktionen sanktioniert. | |
Doch kein Witz ohne ein Körnchen Wahrheit: In Belarus ticken die Uhren seit | |
diesem Jahr wirklich anders. Das wird bleiben – egal wie das Kräftemessen | |
mit dem Regime von Alexander Lukaschenko ausgeht. Als Vorgeschmack auf das, | |
was noch kommen könnte, ließen am vergangenen Wochenende | |
Lukaschenko-Gegner*innen vielerorts weiße und rote Luftballons in den | |
Himmel aufsteigen. Ob es genau 99 waren, ist nicht überliefert. | |
Wahrscheinlich waren es eher mehr. | |
31 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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