# taz.de -- Swetlana Tichanowskaja über Belarus: „Die Menschen sind müde“ | |
> Eigentlich wollte sie nie Politikerin werden, doch jetzt vertritt | |
> Swetlana Tichanowskaja die Sache vieler Belaruss*innen. Ein Interview. | |
Bild: Minsk im Dezember 2020, die Demonstranten fordern weiterhin den Rücktrit… | |
taz: Frau Tichanowskaja, an diesem Mittwoch nehmen Sie stellvertretend für | |
die belarussische Opposition den diesjährigen Sacharow-Preis für | |
Menschenrechte des Europäischen Parlaments entgegen. Was bedeutet diese | |
Auszeichnung für Sie persönlich? | |
Swetlana Tichanowskaja: Dieser Preis geht ja nicht an mich persönlich, | |
sondern er würdigt den Sieg aller Belaruss*innen. Für mich ist diese | |
Auszeichnung eine Anerkennung unserer Bewegung und des Strebens aller | |
Belaruss*innen nach Freiheit und der Verteidigung ihrer Rechte. | |
Als Sie im Sommer bei der Präsidentenwahl als Kandidatin für Ihren Mann | |
eingesprungen sind, war Ihnen klar, welche Konsequenzen das für Sie haben | |
könnte? | |
Als ich meine Dokumente eingereicht habe, war ich hundert Prozent davon | |
überzeugt, dass ich nicht registriert werden würde. Doch dann kam es anders | |
und das Ziel war klar: mich lächerlich zu machen. Wer ist schon diese Frau, | |
die keiner kennt. Die Staatsmacht hat nicht vorhergesehen, wie sich alles | |
entwickeln würde. | |
Sie haben öfter gesagt, dass Sie ganz zufällig in die Politik geraten | |
seien. Das ist jetzt mehr als vier Monate her. Hat diese Zeit Sie | |
verändert? | |
Als Mensch habe ich mich nicht verändert. Meine Kollegen sagen mir immer, | |
ich sei doch jetzt ein Leader und dürfe mich nicht mehr so freundschaftlich | |
allen gegenüber verhalten. Gleichzeitig habe ich aber auch sehr viel | |
gelernt, viele Nuancen. Wie man verhandeln und mit Leuten reden muss. | |
Welche Strukturen es in der Europäischen Union gibt. Ich habe lange | |
gebraucht, um da durchzublicken. Besonders schwierig war es, sich die | |
ganzen Namen zu merken. Dann musste ich auch lernen, Entscheidungen zu | |
treffen, die ganz Belarus betreffen. Plötzlich begreifst du, dass du die | |
Menschen aufrufst, auf die Straße zu gehen und sie schon abends im | |
Gefängnis sitzen könnten und dort gefoltert werden. Das ist sehr | |
schmerzhaft. | |
Ihr Mann Sergej ist immer noch in Haft. Haben Sie mit ihm Kontakt? | |
Ich darf ihm nur schreiben. Sein Anwalt darf ihn zweimal in der Woche | |
besuchen. Seit vier Monaten sitzt er in Einzelhaft, das ist auch psychisch | |
sehr belastend. | |
Wie wird er in der Haft behandelt? | |
Als er noch in Minsk einsaß, war es schlimm. Mehrmals musste er in den | |
Karzer. Als Platz für neue Gefangene geschaffen werden musste, wurde er | |
nach Schodina, in eine andere Stadt, verlegt. Dort ist es etwas besser. | |
Sie leben derzeit mit Ihren beiden Kindern im Exil, in der litauischen | |
Hauptstadt Vilnius. Wie organisieren Sie das, wenn Sie unterwegs sind? | |
Ich lebe mit einem Ehepaar zusammen, das auch zwei Kinder hat. Wenn ich | |
nicht da bin, kümmern sich die beiden auch um meine Kinder. | |
Wie kommen Ihre Kinder mit dieser Situation zurecht? | |
Mein 10-jähriger Sohn weiß, wo sein Vater ist. Er sieht sich auch immer die | |
Protestaktionen an. Aber wir sprechen wenig darüber, denn ich möchte ihm | |
seine Kindheit nicht nehmen. Meine fünfjährige Tochter denkt, dass ihr Papa | |
auf Dienstreise sei. Manchmal malt sie Bilder für ihn. | |
Sie haben eine Art Schattenkabinett in Vilnius gegründet. Wie müssen wir | |
uns Ihre Arbeit vorstellen? | |
Wir denken, dass es in dieser Übergangsperiode so etwas wie Stabilität | |
geben muss. Wir müssen uns jetzt darüber Gedanken machen, wie wir diesen | |
Staat verändern können. Die Mitglieder des Schattenkabinetts wurden | |
berufen, um ein Bild des zukünftigen Belarus zu entwerfen und sich über die | |
Art zu verständigen, wie wir dort hinkommen. Olga Shparaga, die für Bildung | |
zuständig ist, kümmert sich zum Beispiel um Studierende, die Belarus | |
verlassen mussten. Wir sind ständig in Kontakt, das ist ein lebendiger | |
Organismus. | |
Alexander Lukaschenko hat eine Verfassungsreform vorgeschlagen. Ist das | |
ernst zu nehmen? | |
Natürlich nicht. Was er macht, versteht niemand mehr. Er ist kein legitimer | |
Präsident. Jetzt tut er so, als wolle er die Verfassung ändern. Entweder | |
hat ihm Russland diese Bedingung gestellt oder er will Europa irgendwie | |
beeindrucken. Da sage ich: Wer bist du eigentlich, dass du denkst, du | |
könntest noch die Verfassung ändern? Er kauft sich Zeit. | |
Glauben Sie, dass er vielleicht doch noch zurücktritt? | |
Das kann er nicht. Er ist sehr egoistisch, steht immer noch unter Schock | |
und begreift nicht, was vor sich geht. Für ihn als Diktator ist es sehr | |
wichtig, sein Gesicht zu wahren. Er kann nicht akzeptieren, unter Druck | |
abtreten zu müssen. Deshalb muss er den Prozess so gestalten – so, als ob | |
er selbst entscheiden würde abzutreten. Klar verfügt er über gewaltsame | |
Mittel, wie die Omon-Truppen. Er ist ein Terrorist und für diese ganze | |
Folter verantwortlich. Doch mit Gewalt wird er die Menschen nicht dazu | |
bringen, ihn zu lieben. Sie werden ihn nur noch mehr hassen. | |
Im Oktober haben Sie gesagt, die Proteste würden weitergehen. Glauben Sie | |
das auch weiterhin? | |
Ja, denn Proteste sind ja nicht nur Demonstrationen. Ich finde es immer | |
sehr schade, dass offensichtlich auch Europa diese Bilder von den Protesten | |
braucht, um unserer Bitte nach Unterstützung nachzukommen Natürlich kommen | |
jetzt weniger Leute. Die Menschen sind müde, viele sitzen im Gefängnis und | |
es ist kalt. Wir müssen die bevorstehenden Wintermonate dazu nutzen, | |
bestimmte Strukturen innerhalb von Belarus zu festigen. Initiativen in den | |
Hinterhöfen, Streiks, unabhängige Gewerkschaften, das alles hatten wir doch | |
nie. Und genau das entwickelt sich jetzt Schritt für Schritt. Wir nennen | |
das so eine Art Partisanenkampf. Du unternimmst etwas und das Regime | |
verwendet viel Energie darauf, um dagegen vorzugehen. Neulich gab es Bilder | |
von einem zugefrorenen Flüsschen. Einige hatten die Eisschicht in | |
weiß-rot-weißen Farben angemalt. | |
Sie treffen sich regelmäßig mit führenden Politiker*innen in Europa. | |
Fühlen Sie sich ernst genommen? | |
Bei einer Reihe von Politiker*innen habe ich in der Tat den Eindruck, | |
dass ihre Treffen mit mir eher so etwas wie eine Geste der Höflichkeit | |
sind. Doch diese Höflichkeit bedeutet sehr viel. Denn jedes Treffen auf | |
solch einer Ebene bedeutet doch, dass diese führende Persönlichkeit das | |
belarussische Volk empfangen und damit Partei für diese Seite ergriffen | |
hat. Das ist eine Legitimation unserer Bewegung. Aber es ist auch klar, wer | |
wirklich in der Materie steckt: Angela Merkel etwa ist mit allen | |
Einzelheiten vertraut. Was sie uns versprochen hat, hat sie gehalten. Das | |
war ein ganz konkretes Gespräch darüber, was geht und was nicht. | |
Ist die Unterstützung von europäischer Seite ausreichend? | |
Erst einmal sind wir für alles dankbar. Dankbar dafür, dass nicht | |
Lukaschenko, sondern das belarussische Volk Unterstützung erfahren hat. Das | |
war ein ungeheuer starkes Signal, dass praktisch die ganze Welt mit uns | |
ist. Uns sind förmlich Flügel gewachsen. Wir dachten: Oh, so eine | |
machtvolle Maschine, die uns jetzt unterstützen wird. Dann kamen erste | |
EU-Sanktionen (Reiseverbote, Einfrieren von Konten etc., Anm. d. Red.), | |
dann die nächsten, alles ging ganz, ganz langsam. Da waren viele | |
Belaruss*innen enttäuscht. Die OSZE hat ja den Versuch unternommen, bei | |
den Verhandlungen zu helfen. Doch das hätte lauter, härter und | |
entschiedener passieren müssen. Deshalb haben wir unsere Rhetorik jetzt | |
auch etwas geändert. Früher haben wir um etwas gebeten, jetzt fordern wir | |
etwas. Und zwar, dass Europa in seinen Aktionen mutiger sein muss – jetzt, | |
da vor der Haustür blanker Terror herrscht. | |
Ist Ihnen das leichtgefallen? | |
Gar nicht. Ich bin so erzogen worden, dass man für alles dankbar sein muss. | |
Ich bin immer noch dankbar, aber jetzt fordere ich auch etwas. Einige | |
Ausländer haben uns vorgeworfen, so unentschlossen zu sein. Aber wir haben | |
uns daran gewöhnt, auf einen Natschalnik zu hören und vorsichtig zu sein. | |
In einer Demokratie wissen die Politiker, das ihr Amt von den Menschen | |
abhängt. Für uns ist das etwas Neues. | |
Bislang ist von Ihnen immer wieder zu hören, dass Sie diesen Übergang zwar | |
mitgestalten, sich danach aber aus der Politik zurückziehen wollen. Nehmen | |
wir einmal an, es gebe freie und faire Wahlen… | |
(unterbricht) Das nehmen wir nicht nur an, irgendwann wird es sie geben. | |
Doch die Frage bleibt: Steht diese Entscheidung immer noch? Wären die | |
Belaruss*innen, die Sie jetzt unterstützen, nicht enttäuscht? | |
Das kann schon sein, doch ich habe etwas versprochen. Und dieses | |
Versprechen muss ich halten. Und dann müssen wir noch etwas sehen: Es wird | |
eine tiefe Krise geben, wirtschaftlich und politisch. Um unser Land da | |
herauszuholen, brauchen wir jemanden an der Spitze, der sich in diesen | |
Belangen auskennt. Ich für meinen Teil lerne aber noch. Man kann seinem | |
Land auch nützen, ohne Präsidentin zu sein. Ich habe mir schon viel Wissen | |
angeeignet und jetzt den Wunsch, noch einmal zu studieren. Das Thema | |
Menschenrechte interessiert mich. | |
Das Jahr 2020 ist fast zu Ende. Was war das wichtigste Ereignis für Sie? | |
Die Heldentat, die die Belaruss*innen vollbracht haben. In unseren | |
Köpfen hat eine Revolution stattgefunden. Die Erkenntnis, dass wir | |
gemeinsam etwas bewegen können. | |
Ihr Wunsch für das neue Jahr? | |
Dass Lukaschenko geht. Dass die politischen Gefangenen freigelassen werden. | |
Dass diejenigen vor Gericht gestellt werden, die unsere Leute gefoltert | |
haben. Dass wir siegen und dann ein neues Belarus aufbauen werden. | |
15 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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