# taz.de -- Buch über Proteste in Belarus: Die weibliche Massenbewegung | |
> In „Die Frauen von Belarus“ erzählt Journalistin Alice Bota von den | |
> Protagonistinnen der Proteste. Doch sie stellt auch unbekannte Frauen ins | |
> Zentrum. | |
Bild: Minsk im Juli 2020: Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Ko… | |
Kurz bevor am 9. August 2020 die Präsidentschaftswahlen in Belarus von | |
Machthaber [1][Alexander Lukaschenko] gefälscht werden, erscheint eine | |
Kolumne in der Zeit. „Achten Sie auf diese Frauen“ lautet der Titel. Alice | |
Bota, Osteuropa-Korrespondentin der Zeit, schreibt darin über Swetlana | |
Tichanowskaja, eine Hausfrau, die anstelle ihres Mannes gegen Lukaschenko | |
zur Wahl antritt, weil dieser nicht zugelassen und eingesperrt worden ist. | |
Und über deren Mitstreiterinnen Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa, die | |
ebenfalls die Plätze von Männern einnehmen, die nicht gegen Lukaschenko | |
kandidieren durften. | |
Gemeinsam tourte das Frauentrio durch Belarus. Sie sprachen erst vor | |
Hunderten, bald Tausenden Menschen im ganzen Land. Tichanowskaja, Zepkalo | |
und Kolesnikowa wurden zum Versprechen einer politische Alternative in | |
Belarus. | |
Warum das interessieren sollte?, fragte Bota in ihrer Kolumne damals. „Weil | |
nur 1.100 Kilometer Berlin von der belarussischen Hauptstadt Minsk | |
trennen.“ Und weil das, was in dem kleinen Land mitten in Europa passiere, | |
„Einfluss auf die gesamte Nachbarschaft, auf Polen und Litauen, auf das | |
Verhältnis von Belarus zu Russland – und damit auf die deutsche Politik“ | |
habe. | |
Seit den gefälschten Wahlen ist nun ein Jahr vergangen. In dieser Zeit kam | |
es zu Protesten und Demonstrationen, an denen Zehntausende | |
Belarus:innen teilnahmen. Tausende Menschen wurden auf den Straßen von | |
vermummten, in Schwarz gekleideten Schlägern der staatlichen Sondereinheit | |
Omon in Autos gezerrt und eingesperrt. Unzählige wurden verletzt, in | |
Gefängnissen misshandelt und gefoltert. Mindestens vier Menschen starben in | |
Zusammenhang mit den Protesten. | |
## Stützen des Systems | |
Dass Lukaschenko in Frauen nur Objekte sieht, sie nicht ernst nimmt, ihnen | |
niemals politische Macht zutrauen würde, wurde ihm später zum Verhängnis. | |
Die Frauen des Trios, Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa nannte er | |
immer nur abwertend „Mädchen“. Sein größter Fehler war es, Swetlana | |
Tichanowskaja zur Wahl zuzulassen, sagt Bota. | |
Und so konnten Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria | |
Kolesnikowa innerhalb eines Jahres zu den bedeutendsten Frauen von Belarus | |
werden. Alice Bota hat also recht behalten. Ihnen und all den anderen | |
Frauen dieses Aufstands hat Bota nun ein Buch gewidmet. „Die Frauen von | |
Belarus“ heißt es und erzählt die Geschichte der drei Politikerinnen, die | |
eigentlich nie welche werden wollten. Eine Geschichte, die mehr „wie der | |
Plot einer Netflixserie“ anmutet, wie eine „ausgedachte Politserie“. | |
Der Aufstand in Belarus war auch weiblich geprägt. Bilder von Frauen in | |
weißen Kleidern, die Blumen in den Händen halten und schwarz gekleidete | |
Sicherheitskräfte umarmen, gingen um die Welt. Die Frauen, so schreibt es | |
Bota, erlangten in diesem Protest erstmals Sichtbarkeit. | |
Dabei engagierten sich Frauen schon immer. Sie sind die Stütze des Systems: | |
arbeiten im Gesundheitswesen, als Krankenschwestern oder Ärztinnen, sind | |
Programmiererinnen und Maschinenbauerinnen und kümmern sich am Abend um | |
Haushalt und Familie. Sie müssen zupackend sein, robust und gleichzeitig | |
fürsorglich, weich. Ein sehr sowjetisches Verständnis von Weiblichkeit, das | |
sich bis heute in Belarus hält. | |
## Wie feministisch ist die Bewegung? | |
Botas Buch erzählt nicht nur von den drei maßgeblichen Protagonistinnen | |
Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa. Sie stellt | |
auch die unbekannten Frauen ins Zentrum der Erzählung: „Ärztinnen, | |
Programmiererinnen, Mütter, Lehrerinnen, PR-Managerinnen, Hausfrauen, | |
Feministinnen, die in Belarus oder im Exil leben“. | |
Rund hundert Interviews hat sie dafür in den vergangenen Monaten geführt, | |
online oder im Ausland, da die Einreise nach Belarus für die Journalistin | |
unmöglich war. Da ist zum Beispiel die junge Ärztin und Mutter Irina, die | |
eigentlich anders heißt, wie alle Interviewpartner:innen in Botas | |
Buch, doch zum Schutz vor dem Regime einen anderen Namen trägt. Irina | |
arbeitet tagsüber in einem Minsker Krankenhaus. Nach Feierabend spricht sie | |
mit Menschen, die in Polizeibussen und Gefängnissen Folter, Erniedrigung, | |
Vergewaltigung oder psychische Gewalt erfahren haben. Zunächst dachte | |
Irina, sie könne aushalten, was ihr erzählt werde. Nun ist sie selbst in | |
psychologischer Behandlung. 27 Gespräche mit Frauen und Männern hat die | |
Ärztin bereits geführt, schreibt Bota. Unzählige Fälle sind noch immer | |
nicht dokumentiert. Aber es reiche, um alles zu verstehen, erzählt die | |
Minsker Ärztin. | |
Spannend ist auch die Aktivistin Irina Solomatina. Solomatina zeigt sich | |
frustriert darüber, dass Medien die Rolle der Frauen in den Protesten | |
überhöhten. Solomatina kämpft seit Jahren für Gleichberechtigung in ihrem | |
Land, will jedoch in dem jetzigen Aufstand nichts Feministisches erkennen – | |
selbst wenn Frauen wie nie zuvor aktiv und sichtbar für Demokratie | |
eintreten. | |
Solomatinas Argumenten stellt Bota im Verlauf zahlreiche „Aber“ entgegen. | |
Die Protestbewegung möge noch nicht feministisch sein, aber: Dass Frauen | |
erstmals eine denkbare politische Alternative im Land seien, sich als | |
politische Subjekte verstünden, ihre Macht als weibliches Kollektiv | |
begriffen, all das sei doch der Ausgangspunkt einer jeden feministischen | |
Bewegung, schreibt Bota. | |
## Haft für die Kandidatinnen | |
Bota hat in ihrer Zeit als Korrespondentin schon viele Proteste und | |
Transformationsprozesse postsowjetischer Staaten begleitet. Sie folgte den | |
Demonstrationen in Moskau, zu denen auch Alexei Nawalny aufgerufen hatte, | |
der derzeit im russischen Straflager sitzt. Sie war dabei, als bei der | |
Samtenen Revolution in Armenien ein friedlicher Machtwechsel gelang. Als | |
der erste Demonstrant bei den Maidan-Protesten in der Ukraine getötet | |
wurde, folgte sie seinem Sarg, schreibt sie. Keine Protestbewegung aber | |
habe sie um den Schlaf gebracht, bis auf Belarus. | |
Was Bota beeindruckte, war, dass der Aufstand in Belarus eine | |
Massenbewegung war, die alle erfasste, sagt sie. Frauen, Rentner, | |
Studierende, Invaliden, Ärzte und Ärztinnen, Arbeiter, Historiker. Das sei | |
etwas gewesen, das sie so noch nicht erlebt hätte. | |
Eine Gesellschaft, die 26 Jahre in Apathie gelebt hatte, erwachte. Sie | |
wurde lebendig. Die Menschen traten aus der Vereinzelung heraus und in | |
Kontakt mit den anderen, sagt Bota. „Sie entdeckten sich tatsächlich als | |
Bürger und Bürgerinnen.“ Aus den anonymen Hochhäusern, noch in der | |
Sowjetunion entstanden, wurden plötzlich Nachbarschaften. Auf einmal | |
lernten sich Nachbarn kennen, stellten sich einander vor, organisierten | |
Feste, Konzerte. | |
Von den drei Frauen, die wider Willen zu Politikerinnen wurden, ist nur | |
noch eine in Belarus: Maria Kolesnikowa. Sie sitzt seit fast einem Jahr in | |
Untersuchungshaft. [2][Swetlana Tichanowskaja] und Veronika Zepkalo leben | |
beide im Exil. Gegen Kolesnikowa und ihren Anwalt Maxim Zank begann | |
vergangene Woche der Prozess in Minsk – unter Ausschluss der | |
Öffentlichkeit. Beiden drohen bis zu 12 Jahre Haft. | |
## Keine leichte, aber eine notwendige Lektüre | |
In einem Video, das kurz vor dem Prozess im Gerichtssaal aufgenommen wurde, | |
sieht man Kolesnikowa tanzen. Sie wirkt fröhlich, voller Zuversicht. Ihre | |
roten Lippen stechen heraus, sie lacht, und formt dann ein Herz mit ihren | |
Händen. Das Symbol, das ikonisch für sie geworden ist. Eine Mitinsassin, | |
die mittlerweile auf Bewährung freigekommen ist, sagte über Kolesnikowa, | |
das schreibt Bota in ihrem Buch, sie habe im Gefängnis die anderen Frauen | |
aufgebaut, sie „dachte positiv, lächelte viel“ und habe Ideen für sie für | |
die Zeit nach der Haft gehabt. | |
Die Ereignisse in Belarus sind so berührend und beeindruckend, die Gewalt | |
des Regimes ist zugleich verstörend, dass es manchmal schwerfällt zu | |
glauben, dass all dies nur innerhalb eines Jahres passieren konnte. Alice | |
Botas Buch, das dieses eine Jahr und seine Protagonist:innen | |
dokumentiert, ist deshalb keine einfache Lektüre. Aber sie ist zwingend | |
notwendig. | |
Jedes Gespräch, das Bota für ihr Buch geführt hat, sei in | |
Dankbarkeitsbekundungen geendet, schreibt sie. Dank dafür, dass sie sich | |
für „das Schicksal ihres Landes, für ihren Kampf und ihr Leiden“ | |
interessiere. Belarus:innen wissen, dass ausländische Anteilnahme für | |
sie nicht selbstverständlich ist. Dass für viele Deutsche, | |
beschämenderweise, Belarus bis vor einem Jahr ein unbekanntes Land auf der | |
Landkarte war, vielleicht noch die letzte Diktatur Europas, mehr aber auch | |
nicht. | |
Nichts sei so entmutigend, so demoralisierend wie das Gefühl, ungesehen und | |
ungehört sein Leben zu riskieren, schreibt Bota. Die Aufmerksamkeit für den | |
Aufstand der mutigen Belarus:innen darf nicht abreißen. | |
9 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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