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# taz.de -- Proteste in Belarus: Emotionale Nahrung
> Ein Soziologe erklärt, warum die Menschen immer noch auf die Straße
> gehen. Olga Deksnis erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge 40.
Bild: Ein Kuss vor einer Riege von Bereitschaftspolizisten während einer Prote…
Sonntag. Normalerweise finden sich an diesem Tag Menschen im Zentrum ihrer
Städte zusammen, um [1][ihrem Protest] gegen die illegitime Macht Ausdruck
zu verleihen. Am vergangenen Sonntag veränderten die Minsker*innen ihre
Taktik und trafen sich in kleinen Gruppen in Höfen.
Ich wollte mich, wie gewöhnlich, auf den Weg zu einem Geschäft machen. Um
in meinem Stadtteil zum Supermarkt zu gelangen, muss ich einen Platz
überqueren. Ich bin gerade dabei, etwas Warmes anzuziehen, da sehe ich, wie
Dutzende Demonstrant*innen vor Sicherheitskräften des OMON davon laufen.
Den Gang in den Laden habe ich dann verschoben. Kurz darauf versammelten
sich die Menschen aufs Neue und alle wurden festgenommen.
In den vergangenen drei Monaten haben Soziologen eine groß angelegte
Untersuchung durchgeführt. Darin wird der Leiter der Belarussischen
Analytischen Werkstatt für Soziologen in einem Interview mit verschiedenen
Medien wie folgt zitiert: «Der Protest wird nicht weniger und ein Tag (in
Haft, Anm. d. Red.) macht keinem mehr Angst! Zum Katalysator der aktuellen
Proteste sind nicht nur die gefälschten Wahlen geworden – daran haben sich
die Belaruss*innen bereits gewöhnt – sondern die Ereignisse zwischen dem 9.
und 11. August, als Alexander Lukaschenko einen Krieg gegen sein Volk
entfesselt hat.
Zu dieser Zeit haben sich im Bewusstsein der Menschen ihre Angst, ihre Wut
und ihre Einstellungen in einen langfristigen Protest verwandelt. Der Teil
der Gesellschaft, der Veränderungen erreichen will, ist sich bewusst, dass
diese nicht über Nacht eintreten. Daher geben die Menschen nicht auf, auch
wenn sie auseinander getrieben werden.
In der Sozialpsychologie der Protestierenden hat sich die Wahrnehmung von
einem Misserfolg des heutigen Tages geändert. Das erzeugt keine Apathie,
sondern den Wunsch, nie und wieder auf die Straße zu gehen. Bei den
Belaruss*innen hat sich die Schmerzgrenze verschoben. Im Frühjahr hat
Sergej Tichanowski (Ehemann der Oppositionspolitikerin Swetlana
Tichanowskaja, der selbst bei der Präsidentenwahl am 9. August 2020
antreten wollte, Anm. d. Red.) gesagt, es sei nicht schrecklich, 15 Tage zu
bekommen, das könne man überleben.
Die Menschen sind bereit, für ihre Interessen und Rechte einzustehen – wohl
wissend, welchen Preis sie dafür bezahlen müssen: möglicherweise
[2][Prügel, Geldstrafen, Arrest], den Verlust des Arbeitsplatzes.
Gleichzeitig wird die Teilnahme an Demonstrationen jedoch als etwas
psychologisch Positives und als Energieschub wahr genommen.
Die Aktionen sind für die Teilnehmer*innen so etwas wie emotionale Nahrung,
was für Proteste ungewöhnlich ist. Darin liegt die Einzigartigkeit des
belarussischen Protests. Die soziologische Untersuchung hat auch zutage
gefördert, dass das Vertrauen in die staatlichen Medien stark gesunken ist.
Nur noch 4,2 Prozent der Befragten vertrauen ihnen.
Zwischen den Anhänger*innen von Veränderungen und den Unterstützer*innen
der Staatsmacht gibt es zwei wesentliche Unterschiede. Für erstere ist die
Teilnahme an dem Prozess der Entscheidungsfindung wichtig. Um die Lage zu
bewerten, vergleichen sie die Ereignisse in Belarus mit dessen
Nachbarstaaten und kommen zu enttäuschenden Schlussfolgerungen. Letztere
wollen geführt werden und vergleichen die aktuelle Lage mit den 90er Jahren
und dem Zweiten Weltkrieg.»
Aus dem Russischen Barbara Oertel
4 Dec 2020
## LINKS
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[2] /Polizeigewalt-in-Belarus/!5714969
## AUTOREN
Olga Deksnis
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Belarus
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Basketball
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